Bei den ganzen Erwartungsüberschüssen (vgl. Erwartungen eins, zwei und drei), die wir selbst, unsere Beziehungsnetzwerke und die mächtigen Organisationen pausenlos befeuern, wäre schon viel gewonnen, wenn es Phasen des Innehaltens gäbe, um mal wieder zur Besinnung zu kommen. Ein solches Innehalten ist weniger aufwändig als die Pause, aber es ist mehr und anders als eine willkürliche, störende Unterbrechung. Von letzteren gibt es ja mehr als genug. Genaugenommen ist das heutige (Zeit-Er-) Leben ja eine Aneinanderreihung von Unterbrechungen, also von Störungen. Zwar erhoffen wir uns beim ständigen Wischen über unsere Displays wohl Positives, dass wir irgendjemanden den Daumen hoch zeigen können und zumindest ein kleines Herzchen bekommen. Was wir aber einzig und ganz sicher bekommen, sind ständige störende Ablenkungen. Auch dabei wäre Innehalten ja schon mal ein hilfreicher Routinebruch.

Aber was soll das sein – inne halten? Und wie soll es gehen?

Die Metronomisierung des Lebens ist in der heutigen Zeitkultur gepaart mit der Eigentümlichkeit der unnatürlichen Rhythmik, die sich aus der ständigen Unterbrechung des beschleunigten Taktes ergibt. Und da es ja nicht reicht, eines zu tun, wird diese Dynamik dadurch vervielfacht, dass wir vieles gleichzeitig tun. Die entstehenden beschleunigten und vergleichzeitigenden Zeitformationen werden als diffus, fragmentiert und belastend erlebt. Schön ist das nicht. Da könnte es sich schon lohnen, mal innezuhalten, um zu überlegen, was Innehalten zu bieten hat, um solch unschöne Zu- und Umstände zu vermeiden. Also …

Innehalten kann verstanden werden als eine zielorientierte Unterbrechung von wechselnder Dauer. Das heißt, dass dem Innehalten eine Entscheidung zu Grunde liegt, nämlich diejenige, den Fluss der dauernden Tätigkeiten bewusst zu unterbrechen, um Distanz zu gewinnen. Das Innehalten als bewusstes Unterbrechen ist damit eine qualitätsvolle Unterbrechung, die eine neue Qualität schafft. Dadurch unterscheidet es sich von den (störenden) Unterbrechungen, denen wir ständig ausgesetzt sind. Zeitlich ist es an keine bestimmte Dauer gebunden, manchmal sind es bei mir zwei bis drei Minuten, andere Routinen, um inne zu werden, erfordern etwas mehr Zeit.

Natürlich ist auch das Innehalten längst von den Kräften der Selbstoptimierung und der Kommerzialisierung entdeckt und vereinnahmt. Und insofern gibt es natürlich alles Mögliche zum Innehalte: Yoga, Mediation, Musik … „Natürlich“ ist das aber oft nicht. Eher erzwungen oder von außen angeboten beispielsweise als Musik zum Innehalten im Konzert oder als Ort zum Innehalten, es werden allerlei spirituelle und geistliche Angebote offeriert und natürlich immer wieder: (mit was auch immer angefüllte) „Zeit zum Innehalten“. Diese von außen an uns gerichteten Angebote stehen dafür, dass Innehalten marktfähig geworden ist, es also dafür einen Bedarf und tiefer noch Bedürfnisse und Sehnsüchte gibt. Immerhin sind wir gezeichnet von den infodemischen Folgen narzisstischer Selbsterregungen[1] auf den Weg zum „Turbo-Ich“, wie das Juli Zeh genannt hat. Und auf diesem Weg lassen wir uns das Innehalten bei unserer (immer wieder neuen Er-) Findung dann schon mal was kosten. Schließlich wollen wir ja ein „erfülltes Leben“.[2]

Im Unterschied zu diesen Angeboten von außen ist das hier gemeinte Innehalten ein Innehalten von innen heraus, selbstbestimmt und bewusst gewählt. Indem ich (mir, einer Sache) „inne werde“, habe ich – so der Duden – etwas im Bewusstsein, erkenne ich, wird mir etwas klar. Innehalten führt uns also in die Bewusstwerdung. Das ist ja viel angesichts des ständigen Dauerrauschens, das uns umgibt und umgarnt und uns bis zur Unkenntlichkeit einschnürt – oder uns in einer Dauerbewegung hält, die manche/r „Hamsterrad“ nennt. Innehalten ist insofern ein routinemäßiger Routinebruch, der es ermöglicht, Bewusstheit herzustellen. Da kann ich mich einer Sache, meiner Selbst oder der Zeit vergewissern, ihr oder mir „inne werden“. Diese innere Gewahrwerdung könnte eine wichtige kleine Unterbrechung der heute üblichen Selbstoptimierungsunternehmungen werden. Ja, es ist eine kleine Unterbrechung. Nicht gleich die Welt, die Gesellschaft, den eigenen Körper, das Wohlbefinden als solches verbessern, nein, nur eine „kleine“ Zäsur der inneren Gewahrwerdung setzen.

Praktisch heißt das, bewusst zu unterbrechen, eine Tätigkeit oder ein bestimmtes Denken oder Fühlen zu stoppen und eine gewisse Zeit für etwas Anderes zu nutzen. Innehalten ist ein Routinebruch. Manche/r macht diesen Routinebruch zur Routine, nimmt sich – wie ich – beispielsweise täglich Zeit zum Musizieren. Nicht stundenlang ist das, sondern abends vor dem Abendessen 15 – 20 Minuten. Danach schaut der Tag in seiner ganzen Betriebsamkeit anders aus – oder ist, was oft geschieht, gar nicht mehr im Fokus. Das ist ein Innehalten, das Abstand vom geschäftigen Tagwerk schafft. Ihr Merkmal ist die Differenz. Innehalten macht einen qualitativen Unterschied, sei es in einer (Nicht-) Tätigkeit, einer Haltung, im Denken und Fühlen. Überlegen Sie, was für Sie ein Unterschied ist, der einen Unterschied macht und der für sie attraktiv ist, so dass sie Lust haben, diese Differenz (immer mal wieder) zum Innehalten zu nutzen.

Eine andere mir lieb gewordene kleine Routine des Innehaltens besteht darin, hinaus auf die Terrasse zu gehen und über die Felder und Wälder in der Ferne, in die Berge zu schauen. Dieser Aus- und Weitblick spiegelt sich zumeist innerlich. Innehalten kann also verbunden werden mit einer kleinen örtlichen oder räumlichen Differenz. Das ist hilfreich, damit es auch inne hält, was es halten soll.

Ein Nutzen solcher Formen des Innehaltens könnte die Wiederentdeckung des Augenblicks sein. Oder mehr noch: Durch gelegentliches Innehalten könnten wir die Erlebbarkeit des Augenblickes zurückgewinnen. Das wäre doch schon mal was. Und es wäre die kurze Zeit des Innehaltens wert. Von ihr aus könnte die persönliche Zeitwahrnehmung und die eigene Zeitkultur profitieren.

Probierens Sie’s doch mal und halten Sie jetzt mal kurz inne.

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[1] Vgl. dazu auch die Blog-News zu Erwartungen (3) mit Bezug auf Mathias Eckold: Kritik der digitalen Unvernunft. Warum unsere Gesellschaft auseinanderfällt. Carl-Auer -Systeme Verlag, Heidelberg 2022

[2] Wie das – auch unter den hier angedeuteten Bedingungen – ganz praktisch gehen kann, dafür bietet Friedemann Schulz von Thun ein einfaches Modell an, das er in einem erfüllenden Buch vorstellt: Schulz von Thun, Friedemann. Erfülltes Leben. Ein kleines Modell für eine große Idee. Hanser Verlag, München 2021

Wenn Sie Impulse zum Innehalten wünschen, finden Sie solche im ORTHEYs-Zeit-Satz-Variator Sätze für gute Zeiten, die sie erwarten können: https://ortheys.de/shop/

Oder Sie hören mal in Ruhe in den ORTHEYs-Zeitzeichen Podcast hinein:

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ZEITZEICHEN

Ein ABC unserer Zeit.

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Kategorien: Zeitforschung

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