Voraussetzung für stimmige (zeitliche) Erfahrungen sind neben guten Erinnerungen vor allem gute und brauchbare, positive Erwartungen. Wenn diese einen klaren (zeitlichen) Rahmen haben, dann werden sie auch wahrscheinlich realistisch ausfallen und uns vor enttäuschungsbereiten Erwartungen bewahren. So parliert es sich leicht daher aus Zeitforscherperspektive in einer Zeit, die von Erwartungen geprägt ist – aktuell in der Advents- oder Vorweihnachtszeit. In fast allen Coachinggesprächen der letzten Wochen und Tage habe ich gehört, dass die Zeit vor Weihnachten ja wie üblich besonders stressig sei oder noch werde. Das ist ja erwartbar, weil so viel noch geschehen soll, kann oder muss: die Arbeitsthemen zu einem guten Ende bringen, die stade Zeit unter den gegebenen Bedingungen für die Familie schön machen, Geschenke besorgen, den Festschmuck installieren und vieles mehr, was jahreszeitgemäß so anfällt (wenigstens fallen vieler Orten die zudem noch zeitlich und emotional ins Gewicht fallenden Weihnachtsfeiern weg).

Die üblichen Rituale, Routinen und ständigen Unterbrechungen laufen natürlich ungebremst weiter in den hierfür erstverdächtigen medialen Kanälen, werden zusätzlich befeuert durch die Bilder- und bemühten Wortfluten auf Instagram. Da können es viele ZeitgenossInnen kaum erwarten, unterm Christbaum oder an einem anderen ruhigen Ort zusammenzusacken. Das soll die ersehnte Erfahrung jedenfalls bringen, endlich Ruhe, ohne Erwartungsüberfrachtungen. Manche/r schielt gar etwas neidisch nach Niedersachsen, wo bis zum 02. Januar eine Weihnachtsruhe verordnet werden sollte.

Aber was ist los in einer Zeit, die eigentlich von guten Erwartungen gekennzeichnet sein sollte?

Angesichts dieser Frage zücke ich doch eines meiner Lieblingszitate, das uns der später legendär gewordenen Soziologe Niklas Luhmann 1968 hinterließ. Er sprach in einem Aufsatz mit dem schönen Titel „Die Knappheit der Zeit und die Vordringlichkeit des Befristeten“ von der „Überforderung des Erlebens durch Erwartungen“[1]. Dadurch, dass wir uns darauf einstellen, dass es eine ganze Menge und noch viel mehr zu erwarten gibt, kommen wir unter Zeitdruck und haben – jetzt: vorweihnachtliche – Zeitprobleme. Es ist zu viel möglich. Und ein gutes Leben lebt – das ist eine gängige Annahme – davon, von dem Vielen möglichst viel mitzunehmen. Und dann möglichst noch einen oben drauf zu setzen. Dies ist das letztlich ökonomisch geerdete Immer-mehr-Paradigma, das uns verheißt, dass es besser ist, immer noch mehr zu erleben. Das erwarten wir vom Leben und Arbeiten. Und beschleunigen das Hamsterrad immer weiter. Wir bringen die Gegenwart dadurch unter Druck, dass wir zu viel Vergangenes und vor allem Zukünftiges in ihr zu verknüpfen versuchen.

Diese Erwartungsüberfrachtung unseres Erlebens schreit nach einem Paradigmenwechsel.

Denn innerhalb des Immer-mehr-Paradigmas, das ja auch bedeutet, immer schneller zu werden und immer mehr gleichzeitig zu tun, wird es nur „Mehr-desselben“ (Watzlawick) geben. Konkret: Immer mehr Erwartungen an das Erleben. Wenn etwas derart überfordernd wirkt, dann braucht es „Management“, so ein gängiger Reflex, denn das verspricht ja Machbarkeit. Insofern gilt es vermeintlich nur, das eigene Erwartungsmanagement optimieren. Allerdings macht es das nicht besser. Im Gegenteil: Jetzt müssen wir uns zusätzlich auch noch selbst optimieren via Erwartungsmanagement. Also doch: Mehr-Desselben.

Dann doch lieber den Paradigmenwechsel.

Das Gemeine ist, dass Elemente der Verlangsamung und Entschleunigung heute bereits über Modelle der Selbstoptimierung ins Immer-mehr-Paradigma integriert worden sind. „Wart mal schnell“ – bei der Auszeit im Kloster oder beim Yoga oder bei der morgendlichen App-gesteuerten Meditation. Das weiterhin Gemeine ist, dass das durchaus positive Auswirkungen haben kann – aber es nimmt nur Symptome in den Blick, nicht die Ursachen. Damit ist die Wirkung eher kurzfristiger Art und die damit jubelnd verbundenen Erwartungen werden dann später oftmals schlimm enttäuscht. Und dann geht’s wieder ab in eine Auszeit, die ja schon Teil des Hamsterrads der Erwartungen geworden ist. Um auch das zu amortisieren, wird sie im Kalender als Benachrichtigung eingestellt oder per App abgesichert. Solche und ähnliche Rationalisierungsanstrengungen stehen in der Tradition klassisch gedachten Zeitmanagements und machen die Situation eher schlimmer als besser. Wer hätte das erwartet?

Diese Dynamik der Überforderung des Lebens mit Erwartungen einschließlich ihrer postmodernen Spielarten wird durch jene Erwartungen zusätzlich befeuert, die uns die Infodemie bescheren. Vor einer solchen hatte WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus schon Mitte 2020 gewarnt.[2] Infodemie ist eine weltweite Epidemie der Informationen, die uns ständig überfluten. Belastend sind insbesondere die Des- oder Fehlinformationen. Aber mal abgesehen von besonders platten „Wahrheiten“, die da so im Netz verbreitet werden, besteht die eigentliche Herausforderung darin, zu entscheiden und zu beurteilen, welche Information aus der ganzen Flut hilfreich, tragfähig, nützlich, begründet, „erwiesen“ und „richtig“ ist. Und welche fake-news ist – oder zumindest irreführend. Bei diesen Entscheidungsprozessen stellen sich alsbald Fragen der Referenz von „Wahrheit“ und „Richtigkeit“. Die lange Zeit gesellschaftlich auf Dauer gestellte Erwartung der Richtigkeit von medial verbreiteten Informationen oder zumindest doch deren sorgfältiger Recherche in der Tradition des „schwarz-auf-weiß-Glaubens“, ist nicht mehr tragfähig. Im Umgang mit den Folgen der Infodemie ist Sinn, Schachsinn und Unsinn gleichermaßen zu erwarten. Mit jedem Mausklick oder mit jedem Wisch übers Display stellt sich die Frage nach der Unterscheidung neu. Zudem gibt es ständig neue Mutanten, beispielsweise wenn absonderliche Informationen mit vermeintlich wissenschaftlichen Belegen getarnt oder geschönt werden. Wir wissen in der Infodemie nicht mehr, was wir erwarten können oder sollen. Außer vielleicht, dass alles irgendwie möglich ist und geht. Die Folgen sind anspruchsvoll, bringen in ein stressiges Dauerdilemma, belasten viele ZeitgenossInnen – und sie können krank machen. Trotzdem geht es immer weiter. Obwohl wir nichts anderes erwarten können. Warum?

Menschsein bedeutet, an der eigenen Identität zu arbeiten, sich in der jeweiligen Besonderheit abzugrenzen, sich seiner selbst zu vergewissern. Heutzutage braucht das Wiederholung, um sich auch ganz sicher sein zu können. Andererseits scheint es durch die infodemischen Folgen möglicherweise – immer häufiger – attraktiv, es doch noch mal mit dem Anderssein zu versuchen, also beispielsweise, den eigenen Körper aufzumöbeln, sodass er auf den Instagram-Fotos überzeugender zur Geltung kommt. Oder zu schauen, welche Geschichte, die gerade aufgeregt durch Netz getrieben wird, gut zu mir passt – und welche nicht. Wie auch immer: Solche Akte der Selbstvergewisserung sind immerzu möglich, weil die medialen Gerätschaften zeitnah aktiviert werden können. Ich kann mich also ständig selbst – oder eine Variante meines Selbsts – sehen oder hören. Das gefällt mir. Also weiter damit. „Auge und Ohr erfahren in den digitalen Medien eine narzisstische Selbsterregung, die es so schwer macht, offline zu schalten.“ (Eckold 2022, S. 26)[3] Also surfen wir auf der Suche nach uns selbst weiter. „Und Surfen ist eine Bewegung, der es um die Bewegung selbst geht. Das Gebot lautet: Oben auf der Welle sein.“ (ebd., S. 27) Innehalten führt zum Absturz. Also weiter in Bewegung bleiben. Das scheint offenbar für viele heutige Selbsts attraktiv. Deshalb erwarten sie dadurch, mehr von sich selbst zu sehen und zu spüren zu bekommen. Bekommen sie aber nicht. Also schnell weiter, es könnte ja beim nächsten Wisch oder Klick anders sein.

Wenn es aber dies ist, was wir erwarten können, wenn wir immerzu derart weiter machen, dann ist das Heißlaufen des Hamsterrads der Preis. Deshalb können es auch viele kaum erwarten, wenn es zumindest an den Festtagen, mal etwas langsamer gehen wird. So ist jedenfalls die Hoffnung. Ob es denn so sein wird, das darf bezweifelt werden. Bei Interesse checken Sie einfach Ihre Social Media-Kanäle. Vielleicht finden Sie sich ja selbst – oder etwas, das Ihnen für sich attraktiv erscheint.

Leserinnen und Leser merken spätestens hier, dass wir mittendrin sind und bleiben im Paradigma des „Mehr-Desselben“.

Ein Paradigmenwechsel im Sinne einer nachhaltigen, einer ökologischen und selbst-bestimmten Zeitperspektive wird also tendenziell wohl auf Musterbrechung hinauslaufen – also auf: weniger davon.

Aber wie soll das gehen? Und was wäre dann zu erwarten?

Hier einige Ansatzpunkte:

  • Begrenzungen von Möglichkeiten: Das wird heute ja gerne – und mit Erfolg – genommen in Zeiten der Pandemie. Übertragen auf die Infodemie und die Erwartungsüberschüsse bedeutet es konkret: Verzicht auf Online-Präsenz durch ritualisierte Offline-Phasen. Mein Gewinn: Ich reduziere meine Dauerabhängigkeit und habe die Möglichkeit, zu dem zu kommen, was ich sonst – oft erfolglos – suche: zu mir selbst. Und habe dann vielleicht auch wieder Lust, mich frei für oder gegen Online- und Offline-Möglichkeiten zu entscheiden. Zudem können Sie beispielsweise Benachrichtigungen abschalten, die immer wieder zu Unterbrechungen führen. Oder Zeiten für bestimmte Tätigkeiten vorsehen und andere für diese Zeiten ausschließen. Wer ständig seine Nachrichten checkt, verhält sich wie jemand, der- oder diejenige in analogen Zeiten permanent zum Briefkasten läuft, um zu schauen, ob was reingekommen ist.
  • Kontaktbeschränkungen: Offline-Phasen ermöglichen Kontaktbeschränkungen. Die „Pflege“ von Kontakten in sozialen Netzwerken durch Teilen, Kommentieren oder Liken braucht Energie und Zeit. Wenn ich in der Lage bin, diese auf ein für mich gesundes Maß zu limitieren, gewinne ich zeitliche Souveränität zurück. Dadurch können Kontakte begrenzt und gewählt werden. Das ist ein Stück Freiheit, das die Beschränkung ermöglicht. Es ist auch die Freiheit, sich für echte, für tiefe Kontakte und Beziehungen zu entscheiden – und gegen das beliebige Rumgetue mit allen und jedem an der (Benutzer-) Oberfläche.
  • Boostern: Wie die aktuellen Erfahrungen zeigen, geht das ganz leicht (vorausgesetzt die Ressourcen sind ausreichend verfügbar), es reduziert bestimmte Risiken, weil es einen bestehenden Schutz auffrischt und vertieft. Übertragen bedeutet es, dass die Rituale und Routinen der Begrenzung und Beschränkung ab und an ein Update brauchen, um weiter wirksam zu sein. Sonst nutzen sie sich ab – und schützen letztlich nicht mehr. Schauen Sie also alle drei Monate noch mal hin, was von Ihren Begrenzungen und Beschränkungen noch klappt – und was nicht. Und was der Nutzen ist, wenn es nicht mehr klappt. Ja, es muss ja einen Nutzen haben, sonst wäre es ja anders. Und dann boostern sie eine neue Variante (jetzt fängt der Vergleich an zu hinken ;-). Ändern Sie eine Kleinigkeit, um das zu erreichen, was Sie brauchen und wollen. Für viele ist das ähnlich wie beim (Impf-) Boostern eine wiedergewonnene (zeitliche) Freiheit. Ein hohes Gut also.

Sie können sich wahlweise und außerdem oder immer mal wieder die folgenden Fragen für gute Erwartungen stellen:

  • Was erwarte ich gerne?
  • Auf welche meiner Erwartungen freue ich mich wirklich?
  • Welche Erwartungen mag ich?
  • Welche Erwartungen nerven mich?
  • Welche Erwartungen bringen mir gute Energie und machen mir Lust auf die kommende Erfahrung?
  • Welche Erwartungen ziehen mir Energien ab?
  • Welche Erwartungen sind enttäuschungsbereit?
  • Welche sind bereit für gute Erfahrungen, die durch sie möglich werden?
  • Was brauche ich, um meine Erwartungen zu begrenzen?
  • Was brauche ich, um meine Erwartungen von Überflüssigem zu entrümpeln?

Wem das zu viele Fragen sind, der- oder diejenige kann es auch sparsamer haben mit den zwei Wunderfragen, die sich zum (nicht nur) vorweihnachtlichen Erwartungscheck gut eignen. Denn sie führen zu den Bedürfnissen:

  • Wozu?
  • Und: Was brauche ich?

Gute Erwartungen im Advent, der Zeit der Erwartung.

Und schöne Erfahrungen in der Weihnachtszeit.

Und auch wenn Sie es kaum erwarten können: Ein frohes Fest.

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[1] Luhmann, Niklas: Die Knappheit der Zeit und die Vordringlichkeit des Befristeten. In: Die Verwaltung 1/1968, S.3-30

[2] Vgl. https://www.euro.who.int/de/health-topics/Health-systems/digital-health/news/news/2020/6/working-together-to-tackle-the-infodemic, abgerufen am 12.12.2021, 11.28 Uhr

[3] Mathias Eckold: Kritik der digitalen Unvernunft. Warum unsere Gesellschaft auseinanderfällt. Carl-Auer -Systeme Verlag, Heidelberg 2022

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