Zu viele Termine, Besprechungen, To-Dos, Projekte, Tools, Verpflichtungen, Verlockungen und Ablenkungen. So oder ähnlich klagen Coachees in der Zeitberatung. Und so klagt auch gelegentlich der Zeitberater und forsche Zeitforscher daselbst. Gefühlt alle klagen in diesem Sinne. Was aber steckt dahinter?

Was im Titel verkürzt „Zu viel: Immer mehr!“ heißt, ist vielleicht dies: Die enthemmte Modernisierungsdynamik, die ihren Antrieb aus dem Oszillieren zwischen moderner Faktizität und postmoderner Reflexivität bezieht, ist auf permanente Steigerung angelegt (Orthey 1999 – in diesem Blog hier).[1] Es geht, was geht, weil es geht. Und irgendwas geht immer noch – mehr und anders. Das erscheint attraktiv – für psychische, soziale, gesellschaftliche und organisationale Systeme. Also weiter! Die „Selbst-Radikalisierung“ der systemischen Eigendynamiken des Möglichkeitsüberschusses schreitet voran und produziert die Anschlussmöglichkeiten für irgendetwas Anschlussfähiges, das ein „mehr“ beinhaltet, gleich mit. Die Möglichkeiten dazu sind in den medialein Weiten unbegrenzt – und überschreiten vielerlei Grenzen, beispielsweise die des ehedem sogenannten guten Tons oder Geschmacks, oder die der „Wirklichkeiten“, die zunehmend unwirklich erscheinen zwischen möglich gewordenen einstigen Unmöglichkeiten und dem, was diese wiederum eröffnen und ermöglichen. Und – besonders gefürchtet momentan – die Grenzüberschreitung zwischen dem, worauf wir uns als sogenannten „Wahrheit“ gemeint hatten, verständigen und verlassen zu können und deren ungezählter Alternativen. Da wird es schnell zu viel. Und vom „Zuviel“ gibt es immer mehr. Möglichkeitsüberschuss im Überangebot. So weit, so gut.

„Gut“ kann gesagt werden, weil dieses Geschehen auf anderer Flughöhe als Teil eines gesellschaftlichen Übergangs- und Aushandlungsprozesses gesehen werden kann, an dessen Horizont sich andere, angemessenere mentale, soziale und gesellschaftliche Formationen abzeichnen. Daumen hoch also? Oder doch vielleicht Daumen runter? Diese Andeutung verweist auf eine notwendige Begleiterscheinung des Möglichkeitsüberschusses, von dem es schnell zu viel wird und von dem es immer mehr gibt: Es muss öfters entschieden oder neu unterscheiden werden. Die Form, die das annimmt, ist der Vergleich. Wir müssen ständig vergleichen – uns mit anderen, andere unter- und miteinander, dieses mit jenem, verschiedene Ampelfarben, Konzepte, Einredungen, heute gerne „Narrative“ genannt, Vorhaben, Jargons oder was auch immer miteinander. Vergleiche unterschiedlicher Möglichkeiten allenthalben. „Jeder Konflikt beginnt mit einem Vergleich.“ So spitzen es Konflikttrainer und Mediatorinnen zu. Insofern es mehr Konflikte gibt. Der Soziologe Hartmut Rosa bringt eine dramatische Folge dieser ständigen „vergleichenden Betrachtungen“ auf den Punkt: „Unser Verhältnis zur Weit ist aggressiv.“ (Rosa 2022, S. 41/42)[2] Glauben Sie nicht? Dann machen Sie, was Sie oft und immer öfters tun: Wischen Sie über den Bildschirm, und daddeln Sie etwas rum. Prognose: Es dauert nicht lange, bis Sie diesem aggressiven Ton und Umgang in einem Artikel, einem Post, einem Kommentar, in einem Video oder Podcast begegnen. Oder bis Sie ihn an sich selbst spüren, wenn Sie wieder mal daran verzweifeln, so viel Schwachsinn wahrnehmen zu müssen. Und ja, auch diese Bewertung des schwachen Sinns als „Schwachsinn“, zeigt etwas aggressiv Vergleichendes und Bewertendes.

Dann doch lieber aus dem Spiel aussteigen und sich auf andere Seiten schlagen, dorthin etwa, wo tendenziell mit anderen Formen mehr Zugang zu sich selbst versprochen wird. Mehr vom Selbst – das hat doch was! Der Ausstieg führt viele Zeitgenoss:innen deshalb in die Szene der „Selbstoptimierung“ – so der mittlerweile kokettierend verwendete Begriff für unterschiedliche Zugänge mit oft euphorischem und gelegentlich bereits durch ständige gebetsmühlenhafte Wiederholung verbrauchtem Wording. Egal. Was hilft, hilft. Es ist aber dennoch – Vorsicht: blinder Fleck – Teil der skizzierten Dynamik. Weil: Es muss ja bei alledem immer um Wachstum gehen (vgl. Rosa 2022, S. 30ff). Wozu und wohin auch immer. Versuchen Sie mal irgendwas zu finden, was nicht wachsen soll (mal abgesehen von Körperumfängen und Bürokratisierung 😉 ) Wirtschaft, Innovationskraft, Klimaschutz, Bewusstsein, Selbstwirksamkeit undsoweiter. Alles soll, ja: es muss immerzu wachsen. Das ist das Rekonstruktionsprinzip „moderner“ Gesellschaften. Diese galoppierenden Wachstumseinredungen führen die skizzierte aggressive Dynamik weiter und eskalieren sie – und sie verbrauchen dabei viel Energie und kosten Kraft. Das ist unter Nachhaltigkeitsaspekten bedenklich. Bedenklich im Sinne von: Es ist zu bedenken. Sich von solchen Bedenken – immer wieder neu – „anrufen zu lassen“ (Rosa), das wäre eine sinnige Prüfoperation. Das kann jede/r Einzelne. Und ja, es können auch Teams, Gruppen, Organisationen – vielleicht sogar Gesellschaften, die entsprechende Reflexionsformationen etabliert hätten.

Individuell ist das – (nicht immer) leicht – möglich. Es heißt: Innehalten, „auf-hören“, „sich anrufen lassen“, würde Hartmut Rosa wohl sagen. Um dann in Resonanz kommen zu können. Ich spezifiziere: In eine – gewagte Hoffnung! – andere Form der Resonanz, eine andere Form der „Weltbeziehung“, würde Hartmut Rosa womöglich sagen. Tendenziell deutet eine solche Resonanz auf grundlegende Bedürfnisse und Muster von Ordnung und Wahrung, auf die Wertschätzung des Bestehenden, so wie es ist, auf Kontinuitäten statt der allseits herbeigerufenen Disruptionen. Sie deutet auf Seinlassen, womöglich auf Formen kreativer Ignoranz zugunsten des absichtslosen Nachdenkens. Und auf: mehr Nachdenken. Vielleicht ist es das, was ich Ende des letzten Jahrtausends – aus heutiger Sicht: überoptimistisch – mit „qualitativer Modernisierung“ gemeint haben könnte: Bildung und Lernen ohne Verwertungsabsichten.

„Nun, jetzt lass es aber mal gut sein!“

Ja genau: Es mal gut sein lassen. Ohne (verborgene) Wachstumshoffnungen und ohne die Selbstoptimierungsrationalisierungen der Entschleunigung, der Simplifizierung oder anderer Vervollkommenungsillusionen.

Es gut sein lassen. So, wie es kommt und ist. Ohne alles, was mehrverdächtig sein könnte. Gut so.

Und ja: Manches auch gut seinlassen.

Und: Gut ist.

Gute Zeiten.

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[1] Ich habe dieses Geschehen in der „Zeit der Modernisierung“ (Orthey 1999) entfaltet und in diesem Blog immer wieder mal schlaglichtartig rekonstruiert, grundlegend hier. Orthey, Frank Michael: Zeit der Modernisierung. Zugänge einer Modernisierungstheorie beruflicher Bildung. Mit umfangreicher CD-ROM. Hirzel-Verlag, Stuttgart 1999

[2] Ich nutze hier die kleine Schrift: Rosa, Hartmut: Demokratie braucht Religion. Kösel-Verlag, München. 8. Auflage 2023. Ich verweise auf die zentralen Werke des Soziologen: Rosa, Hartmut: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen der Moderne. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main 2005 und Rosa, Hartmut: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main 2019

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Mehr zur Zeit finden Sie auch im ORTHEYs-Zeitzeichen Podcast:

Und in den …

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