In diesen Tagen des beginnenden neuen Jahres haben Erwartungen hohe Konjunktur. Sie richten sich hoffnungsvoll auf das Andere, das Bessere, das uns 2022 im Vergleich zum medial abgestraften vergangenen 2021 bitte bringen möge. Bild titelte „2021 war ein Sch…jahr.“ Obschon das zurückliegende Jahr offenbar auch einiges Gute gebracht hat, wird man und frau ja wohl jetzt endlich nochmal was Schöneres erwarten dürfen, Viren- und Klima-Varianten hin oder her. Manch eine oder einer bringt ihre und seine Erwartungen in diesen Tagen auch in die beliebte wie gleichermaßen gefürchtete Form der Vorsätze.
Vorsätze, das sind raffinierte Selbstverpflichtungs-Arrangements, die so tun, als könnten Wahrscheinlichkeiten der Erwartungserfüllung verbal beeinflusst werden. Und ja, es sollen ja auch „gute“ Vorsätze sein, die uns den Bildern unserer selbst ein Stück näherbringen. Vorsätze sind insofern Erwartungserfüllungsgehilfen. Oft allerdings sind oder werden sie auch Gehilfen enttäuschungsbereiter Erwartungen, zumal sie, nachdem sie hoch ambitioniert ins Rennen geschickt wurden, oft schlecht gepflegt und gezahlt werden. Zudem fehlt ihnen das, was heute gerne „Nachhaltigkeit“ genannt wird. Konkret: es fehlt vielen Vorsätzen die Kontinuität der Wiederholung – oder: die Ausdauer. Angeblich braucht es mindestens 66 Tage Wiederholungen, damit erwartet werden kann, dass die beabsichtigte Veränderung stabil bleibt. Vorsätze blenden zunächst mit viel verbaler Aufgeschlossenheit für Veränderung. Es folgt allerdings häufig eine überraschend stabile Verhaltensstarre. Allzu oft vergrößern die Vorsätze deshalb die sowieso schon hochgesteckten Erwartungen in unrealistische Maße.[1] Hat sich zwar gut angefühlt, sich körperlich fit und gestählt durch den Wald rennen zu sehen, die Instagram-Bildchen geben es aber trotz bemühter Bearbeitungen doch noch nicht ganz her. Also verliert sich alsbald die Lust auf die Vorsätze und zurück bleibt ein weiterer Stapel enttäuschter Erwartungen. Na bravo. Das ist also zu erwarten von den wohlgemeinten Vorsätzen.
Reprise: Wenn wir unsere Erwartungsüberschüsse (vgl. Erwartungen Teil 1) durch immer neue Akte der „Selbsterregung“[2] im digitalen Raum dauernd weiter befeuern, dann beschleunigen wir die „Überforderung des Erlebens durch Erwartungen“ immer mehr (vgl. Erwartungen Teil 2) – und damit auch die Wahrnehmungen von Zeitknappheit und Fremdbestimmung unserer Zeiten. Dieser Dauerüberforderung wird oft reflexartig mit den heutzutage erwartbaren Formen des Zeit- und Erwartungsmanagements begegnet, was die Problemwahrnehmung eher verschärft: gefangen im Netz sich permanent selbst weiter vernetzender Erwartungen, so scheint es.
Dieses tragische Geschehen führt viele Menschen an die Grenzen ihres Selbsts, dessen sie sich doch eigentlich hatten besser vergewissern wollen. Die ständige digitale Selbsterregung führt zu immer mehr Rissen im zart besaiteten Ich in Zeiten von Info- und Pandemie – besonders in den erwartungsschwangeren Zeiten der Advents– und Weihnachtszeit und der Zeit des Jahreswechsels. Denn es soll ja künftig besser werden – das wird man und frau ja wohl erwarten dürfen. Zaghafte Versuche der Begrenzung von Möglichkeiten, der Kontaktbeschränkungen und des Boosterns (so hatte ich die Hinweise im Text zu Erwartungen, Teil 2 mit momentan geläufigen Begriffen etikettiert) mögen in diesen geschützten Zeiten „zwischen den Jahren“ erste Früchte tragen. Oft ist das erwartungsbeschränkte Konstrukt allerdings noch fragil und droht im Dauerstresstests des zurückkehrenden erregten Alltags zu zerbrechen. Grund genug, die Tiefenbohrung weiterzutreiben, um auf der Basis von mehr Klarheit zu tragfähigen Entscheidungen für eigene Erwartungen und dann zu mehr Erwartungs- und Zeitwohlstand zu kommen.
Wir stoßen möglicherweise in eine neue Schicht der Tiefen-Erkundung vor, wenn wir den Antrieb des Motors der Dauererregung und -befeuerung identifizieren. Dieser Motor hat grundsätzlich einen Unterscheidungsantrieb. Leben heißt Unterscheiden – und sich immer neu zu unterscheiden. Wenn nicht mehr unterschieden wird, lebt nichts mehr. Aus der durch die Erhöhung der Flughöhe gewonnenen Distanz scheint besonders der Treibstoff dieser Unterscheidungsmaschinerie interessant. Dieser Treibstoff ist ein Antrieb zu mehr Selbst: Ich mache Unterschiede, die für mich selbst und für mein Selbst brauchbare Unterschiede machen – und das immer schneller und immer mehr. Momentan, so scheint es, gibt es zu viel, zu wirkungsvollen Selbst-Treibstoff am Markt. Für alles und jedes gibt es (Selbst-) Optimierungen, um das Unterscheidungsgeschehen zu verbessern. Und ganz sicher kann für alle möglichen künftigen Anlässe in irgendeiner digitalen Ecke etwas Passendes gefunden werden, das vermeintlich das eigene Selbst ein Stück näherbringt. Der Unterscheidungsmotor des Lebendigen dient der Selbstvergewisserung. So weit, so gut: Sich mit sich selbst auszukennen, scheint ja das Schlechteste nicht zu sein. Allerdings ist der Mensch „nie Herr im eigenen Haus“ – hinterlässt uns Sigmund Freud. Statt sich aber zu bescheiden (und sich damit auch zu beschneiden), wird die Suche aufgeregt weiter beschleunigt und vergleichzeitigt. Irgendwas ist sicher zu finden! Solcherlei Erwartungen werden insbesondere in den digitalen Welten auf Dauer gestellt. Was kritisch zu sehen ist: Die überlebenswichtige Dynamik der Selbst-Erkenntnis scheint heutzutage narzisstisch überhöht. Und diese Überhöhung erhält immer neuen Antrieb durch und in digitalen Räumen. Ich – ich – ich. Instagram bringt den Ich-Kult auf den Punkt. Likes sind grenzenlos verfügbare positive Rückkoppelungsmechanismen. Blöderweise ohne qualitativen Zusatz. Gefällt mir das? Wenn, dann nur sehr kurzfristig. Dann mache ich halt einen Kommentar. Und bekomme ganz sicher einen zurück, der mich in meinem Selbst bestärkt. Und wenn doch nicht, like und kommentiere ich so lange, bis ich bekomme, was ich mir erwarte. „ICH“ habe also ständige Möglichkeiten der Selbsterregung und – vergewisserung. Ich muss nur ein wenig daddeln und rumsurfen.
Ständigkeit und Beweglichkeit scheinen die Attraktoren dieser grenzenlosen Selbst-Suche – oder je nachdem: -Sucht. Ich kann es jederzeit und an jedem Ort, ständig, weil ich die Maschinchen dazu immer bei mir habe. Und es bleibt bei diesem Tun alles immerzu in Bewegung. Ich surfe, also bin ich (lebendig). Und so geht es immer weiter. Nicht immer ganz heiter. Denn das, was da so zusammenkommt und brauchbar zurechtgeschustert wird für die eigenen Erwartungen, trägt nicht allzu selten Züge des Schwachsinns, also – systemtheoretisch genau – eines schwachen Sinns, der möglicherweise etwas zweifelhaft oder gewagt abgesichert ist. Der Schwachsinn kann allerdings stark gemacht werden durch Kaskaden von Likes und bestätigenden Kommentaren, sodass er wiederum zur infodemischen Herausforderung wird für diejenigen, die auf Selbst-Suche unterwegs sind in diesen Tagen. Ein Ende der Geschichte ist nicht erwartbar. Die Geschichte erzählt sich selbst weiter und entfernt sich in immer neuen Erzählsträngen immer mehr von ihren Ausgangspunkten. Immer neue AkteurInnen kommen ins Spiel und spielen es (anders) mit, sodass letztlich für jeden und jede was dabei ist. Grund genug, immer mal wieder reinzuschauen. Es wird ziemlich sicher etwas reingekommen sein, das für die Bestätigung der eigenen Erwartungen und der eigenen Vorstellungen vom ICH taugt.
Der Ausstieg aus diesem Spiel und aus diesen Geschichten kann nur über alternative Treibstoffe der Unterscheidungsmotorik gelingen – ohne zusätzlichen, ständig erhöhten Selbst-Zusatz. Und mit weniger Ich-Anteilen und mehr Wir-Anteilen, mit weniger digitalen und wieder mehr analogen Anteilen, mit weniger abstrakten und wieder mehr haptischen, greifbaren und unmittelbar spürbaren Anteilen. Ferien vom eigenen digitalen ICH lassen einiges erwarten, das in Vergessenheit geraten ist.
Weniger ist und bleibt mehr. Das Selbst, oder das, was wir erwartungsgemäß dafür halten wollen und es „Ich“ nennen, wird es uns danken.
Ein gutes neues Jahr 2022 – mit wenigen und dafür brauchbaren Erwartungen.
Dann wird es ein Jahr mit guten Zeiten werden.
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[1] Vgl. zum Thema den Beitrag von Mareen Linnartz: „Ich würde ja gerne, aber …“ in der Silvester/Neujahr/Sonntagausgabe der Süddeutschen Zeitung vom 31. Dezember 2021/1./2. Januar 2022. Die Autorin zitiert auch den treffenden Ausspruch des Soziologen Ulrich Beck aus dem 1980-er Jahren, der von „verbaler Aufgeschlossenheit bei weitgehender Verhaltensstarre“ kündet.
[2] Mathias Eckold: Kritik der digitalen Unvernunft. Warum unsere Gesellschaft auseinanderfällt. Carl-Auer -Systeme Verlag, Heidelberg 2022
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