Viele konnten es kaum erwarten, was uns Advent und Weihnachtszeit wieder mal ermöglichen sollte: über verkitschte Weihnachtsmärkte schlendern, glühweinselig dahindämmern und sich von der allgegenwärtigen weihnachtlichen Dauermusikschleife einlullen lassen. Schön wäre es mal wieder gewesen, sich im erwartungsschwangeren Vorweihnachtsrausch zu verlieren. Und sich womöglich (endlich mal) wieder zu finden – oder auch sich gar neu zu erfinden in der klimaneutralen, ökologisch und (mit-) menschlich verträglichen Variante von alledem. Aber jetzt ist statt solcher und anderer großer Erwartungen – wieder mal – Warten angesagt. Warten auf …, ja auf was denn eigentlich? Die Kinder – manche jedenfalls – haben es gut: sie warten aufs Christkind. Alle anderen Wartenden sind mehr oder weniger hin- und hergerissen. Die einen warten auf die neuesten Inzidenzwerte und dass sie doch hoffentlich endlich wieder mal sinken, die anderen auf den ein oder anderen wie auch immer gemeinten sogenannten „Impf-Durchbruch“, wieder andere warten auf die neue Regierung und auf das, was sie erwartungsgemäß tun oder lassen wird, manchen war die schnöde Warterei aktuell schon dadurch versüßt, dass sie den Namen des neuen Gesundheitsministers erfahren konnten. Der jedenfalls entsprach den vorab breit gestreuten Erwartungen. Andere sprechen sich mit leicht zynischem Unterton von allen Erwartungen frei, lenken sich multimedial ab und dämmern sinnverdünnt vor sich hin. So oder so ähnlich taumeln wir durchs erzwungene Warten. Dabei hätten wir uns doch viel lieber an verlockenden Erwartungen erfreut.

Das Erwarten ist eine Zeitform, in der die Gegenwart mit Zukunftsbildern angereichert wird. Erwartungen sind quasi zukunftsgerichtete Erinnerungen. Erinnerungen, das sind mehr oder weniger fixierte Vergangenheitsbezüge, die wir aufrufen – natürlich nebst einigen im Nachgang hinzugefügten geschönten Verzierungen. Manchmal werden Erinnerungen auch glorifiziert. Wir reduzieren die Unerträglichkeiten der überbordenden Komplexität durch Vereinfachungen im Rückwärtsbezug. Dadurch wird die Gegenwart oft als defizitär erlebt, weil früher eben doch alles irgendwie besser war. Na ja.

Erwartungen hingegen blenden in die Gegenwärtigkeiten des Hier-und-Jetzt zukünftig Mögliches ein. Das ist meist besser als die Gegenwart – oder wird jedenfalls so imaginiert und eingefärbt. So wie die geschönten Erinnerungen, die uns entlasten sollen, machen auch schöne Erwartungen die Gegenwart erträglicher. Ich kann es kaum erwarten …  unterm Weihnachtsbaum zu sitzen und mich zu freuen mit meinen Lieben, wieder in die sonnendurchtränkte Loipe zu stolpern, dass die meisten Menschen geimpft sind und die Pandemie der Vergangenheit angehört … Na ja. Schön wär’s, aber erwarten kann Frau und Mann es ja mal.

Ebenso wie gelegentlich Erinnerungen im Nachgang verschönert werden, so erhalten auch manche Erwartungen im Vorgriff auf mögliche Zukünfte überoptimistische Einfärbungen. Auch das ist Komplexitätsreduzierung. Und sie wirkt, auch wenn bei genauerem Hinsehen und Nachdenken schnell deutlich wird, dass das wohl nix werden wird mit den schönen Aussichten auf eine neue, beschwingte nachpandemische Normalität, in der wir uns wieder ungespalten und ungehemmt in den Armen liegen. Das Bild ist aber tauglich für eine schöne Erwartung. Und die nehmen wir gerne. Insbesondere dann, wenn der aktuelle Vergangenheitsbezug die Leiden vieler zurückliegender Wellen und deren Folgen zeigt. Wir wünschen und erträumen uns etwas Anderes – und gießen dies in die Sprach- und Denkform der Erwartungen. Diese haben einen höheren Härtegrad als Wünsche, Träume oder Visionen, sie sind weniger nebulös und gaukeln uns vor, dass etwas dann wahrscheinlicher wird, wenn wir es nur erwarten und lange und fest genug daran glauben. Manche Erwartungen werden zudem (in der Erinnerung) durch Erfahrungen gehärtet, die sich mal erfüllt haben. Wenn also etwas erwartungsgemäß eingetreten ist, dann macht dies das Eintreten der aktuellen Erwartung wahrscheinlicher. So meinen wir leichterdings. Bei genauerem Hinsehen und -denken ist das oft nicht haltbar, weil das Geschehen in dieser Welt doch kontingent bleibt – und manches eben anders kommt als gedacht und als erwartet. Nichtsdestotrotz beruhigt die Erwartung. Das gilt insbesondere für wiederkehrende Erwartungen, wie – in christlichen Kontexten – die Erwartung der Ankunft des Herrn im alljährlichen Advent. Das ist eine rituell nahezu auf Dauer gestellte Erwartung, die höchst entlastend wirkt, weil es nahezu als sicher gelten kann, dass es dann doch wieder Weihnacht wird. Auch wenn die diesmal – wieder mal – etwas anders sein wird. Das sind sie denn wohl: die „guten“ Erwartungen, die über einen sicheren, weil wiederkehrenden zeitlichen Rahmen abgesichert sind: Nach der Adventszeit kommt Weihnachten und dann die ersehnte Zeit „zwischen den Jahren“. Falls wir nicht Opfer eines Meteoritentreffers oder anderer persönlich vernichtender Einschläge werden, dann ist das relativ sicher. Dieser sichere zeitliche Rahmen bietet gute Begrenzungen für schöne Erwartungen. Je verlässlicher der Rahmen, desto tragfähiger und entlastender sind die Erwartungen. Auch wenn sie dann doch nicht immer und nicht alle einlöst werden. Erwartungen ohne stabilen Rahmen gehören eher ins Reich der Träume. Nicht selten sind das auch enttäuschungsbereite Erwartungen, denn eigentlich ist eh schon klar, dass es anders – meist schlechter – kommen wird. In solchen Fällen sind Erwartungen zukunftsgerichtete Konstruktionen, die nicht hilfreich sind, weil sie letztlich doch enttäuscht werden (wollen). Solche meist überhöhten oder unrealistischen Erwartungen berichten einige Zeitgenossen immer wieder von ihren Chefs: „Ich erwarte von Ihnen …“ Was folgt, ist meist garniert mit Worten wie „unverzüglich“, „sofort“, „mit messbarem Mehrwert“ und ähnlichen, gerne genommenen, Druck machenden Begrifflichkeiten. Solche Erwartungen machen eher ärgerlich, wütend, ängstlich oder hilflos. Sie sind zu vermeiden, denn sie sind erstverdächtig, um in krankhafte Muster zu führen, die dann zu lähmenden Verschwurbelungen mutieren können. Auf Dauer gestellte enttäuschungsbereite Erwartungen – auch nicht schön.

Das heißt: Wir reduzieren durch Erwartungen Komplexität, lassen nicht mehr alles in Frage kommen für die Zukunft, die wir uns wünschen. Ungünstigstenfalls sind diese Erwartungen enttäuschungsbereit und für ein gesundes Leben und Arbeiten, Menschsein und Miteinanender wenig brauchbar, weil sie ins Defiziterleben führen. Günstigstenfalls, also wenn sie einen sicheren zeitlichen Rahmen haben, sind sie brauchbar, weil sie uns mit positiver zukunftsgerichteter Energie versorgen.

Dann können wir gute Erfahrungen machen. Der dritte Begriff also mit „E“: die Erfahrungen, zwischen Erinnerungen und Erwartungen. In Erfahrungen konkretisiert sich unser Zeiterleben. In Erfahrungen geben wir unserem, auf Augenblickswahrnehmungen begrenzten Zeiterleben eine Qualität: Wir erleben die Zeit als flüchtig, als sinnlos vergeudet oder als intensiv oder wertvoll und nennen dies dann – beispielsweise – „eine bereichernde Erfahrung“. Diese (Erfahrungs-) Qualität ist abhängig von den Erinnerungen, auf die wir unsere aktuellen Erfahrungen beziehen können und sie ist abhängig von den Erwartungen, die wir uns mit Blick auf die Zukunft machen. Erfahrungen und damit unsere Zeitgefühle oszillieren sich zwischen unseren Erinnerungen und unseren Erwartungen. Grund genug, sich mit guten, stimmigen und brauchbaren positiven Erwartungen auszustatten. Die Zeit, wie wir sie erleben, wird es uns danken.

Gute Erwartungen im Advent, der Zeit der Erwartung.

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Kategorien: Zeitforschung

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