Nach dem zwölften zu warmem Winter in Folge, einem Frühling so nass wie zuletzt vor 10 Jahren, stellt sich nach dessen frühsommerlichem Finale Vorfreude ein auf die Sommerzeiten.[1] Endlich ist Sommer in der Stadt und auch auf dem Lande – und dort, wie hier bei uns in Oberbayern, erfrischend und angenehm wärmend zugleich.[2] Die Zeitform des → Wartens hat in den Gemengelagen der existenziell bedrohlichen Krisen auf dieser Welt viel → Geduld erfordert. Das befeuerte bei vielen Zeitgenoss*innen die Sehnsüchte nach der wärmenden Sommerzeit mit ihren Verlockungen und Reizen. Da gibt es Urlaub für viele – was wiederum viele ins Warten im obligatorischen Stau einbremst. Angenehmer Formen der → Verlangsamung gibt es im Sommer bei Zeiten am See, draußen im Café, im Biergarten, in der Natur. Bei alledem ist’s auch noch lange hell, was womöglich bei manchem und mancher das Gefühl nährt, im Sommer herrsche mehr → Zeitwohlstand. Vieles geht – angesichts gelegentlicher Hitze verständlich – sommers auch langsamer. Bloß nicht zu schnell bewegen. Selbst Autofahren, das sonst immer schneller gehen soll, wird langsamer, nicht nur wegen des allgegenwärtigen Staus. Nein, auch die Cabriolets der Sommerfrischler regen eher zu einer verhaltenen Fortbewegung an. Und wenn es geht, wird eh‘ genüsslich aufs Fahrrad umgesattelt. Genuss braucht Weile, keine Eile.

Vor etwa 100 Jahren waren die sogenannten „Sommerfrischler“ meist gut betuchte Städter, die die Sommerzeit in schöner Umgebung fern des üblichen Arbeitsalltags verbrachten. Gemäß dem Grimm’schen Wörterbuch war „Sommerfrische“ ein „Erholungsaufenthalt der Städter auf dem Lande zur Sommerzeit“ oder die „Landlust der Städter im Sommer“. Hier nahm auch die Zeit andere Gestalten an. So schlugen die inneren Uhren in einem beschaulicheren, eher ländlichen Rhythmus. Das machte angesichts der städtischen Durchtaktungserfahrungen einen willkommenen Unterschied. Die Sommerfrischler spazierten, statt zu hetzen, sie nahmen ein langes Bad im See statt nur das hygienisch nötigste zu tun, sie dinierten ausgiebig statt sich bloß, wie im Alltag üblich, zu ernähren, sie ließen sich von leichter Musik berieseln statt von den Geräuschen der lärmenden Großstadt nerven, sie gaben sich der Kultur hin statt dem harten Erwerbsberuf, redeten Belangloses statt Bierernstes, philosophierten aber dann doch sehr ernsthaft über Gott und Welt und ließen „den lieben Gott einen guten Mann sein“[3]. Sie verdaddelten sich weder online noch analog, gaben sich stattdessen auch mal der gepflegten → Langeweile hin – und blieben doch wer und wie sie waren. Sie erledigten weiterhin Arbeiten und Korrespondenzen, trugen weiter schicke Kleider, luden ein und wurden eingeladen, redeten über Geschäftliches und gaben sich dann wieder der → Muße hin. Sommerfrische macht damit einen Unterschied zu den heutigen, oft so genannten → „Aus-Zeiten“ oder zu den Sommerferien, wo alles anders, vermeintlich (nicht nur: zeitlich) besser sein muss. Im Urlaubsmodus dominieren Lotterklamotten, sich hängen und gehen lassen ist angesagt, alles wird anders: Alltag, Umgebung, Kleider, Sprache, Nachbarn, Erwerbsarbeit lassen wir – vermeintlich – hinter uns und geben uns ganz dem Urlaub hin. In der → Urlaubs- wie auch in der Auszeit klinken wir uns zeitweise aus. Na ja, mal abgesehen von denjenigen Aktivitäten, die es für viele braucht, um die Welt unentwegt an diesen Erlebnissen teilhaben zu lassen: da wird alles etwas Wischi-Waschi. Anders die Sommerfrischler, die ehedem Jahr für Jahr wiederkehrten, um sich eine kleine Luftveränderung zu gönnen und ihre Zeiten einer anderen Umgebung anzupassen ohne sich zwanghaft zu verurlauben, wie es heutzutage oft den Anschein macht. Sommerfrische, das war die Hege und Pflege einer eigenen, bunten und vielfältigen anderen Zeitkultur, die zur festen Routine im Jahreszyklus wurde. Solange das Geld reichte, jedenfalls. Die Zeitwohlstände der Sommerfrische waren damals wie heute etwas für die Wohlständigen. Sie erfrischten sich im Salzkammergut oder am Wörthersee, belebten sich in ihren Sommerfrische-Villen – und genossen gemeinsam mit Malern, Schriftstellerinnen und Musikern ihre Zeiten.

Heutzutage müssen andere umso härter rackern in der sommerlichen Hitze. Sie sanieren Autobahnen unter tropischen Arbeitsbedingungen und ernten hasserfüllte Blicke der auf dem Weg in ihre Sommerzeiten abgebremsten. Sie schaffen den Müll der Massen nach den ungezählten sommerlichen „Events“ weg, während sich das Publikum naserümpfend mit Aperol Spritz runterkühlt. Sie schuften, dem Hitzschlag nahe, einsam an den Bauten von Großprojekten, die trotzdem nicht „zeitgerecht“ fertig werden, während die bessere Gesellschaft die Städte verlassen hat.

Wären sie noch da und nicht an den wechselnden In-Orten der postmodernen Sommerfrische-Varianten, dann könnten sie kleine sommerzeitliche Biotope der zwangsweise (oder manchmal sogar freiwillig) Daheimgeblieben erleben. Diese Zeiten sind zu riechen in den Parks, an den Flüssen der Stadt und den Seen des Umlandes. Der Grill ist das Zeichen der Zeitsouveränität des Sommervolkes, seine Emission das visuelle und olfaktorische Signum der Sommerzeit. Prima Klima. Na ja, es muss ja nicht gleich alles … Oder doch?

Wem das stinkt, der- oder diejenige verbringt seine und ihre sommerlichen Eigenzeiten mal wandernd, mal joggend im Wald, verschafft sich dümpelnde Linderung in kühlen Gewässern oder radelt gemächlich zum Gastgarten. Oder macht sich ganz spontan und unspektakulär mit dem ebenfalls daheim gebliebenen Nachbarn ein Bier auf – statt sich wie üblich einsam saufend durch die Kanäle zu zappen und dann vor dem Fernseher einzupennen. Günstigstenfalls ermöglichen Sommerzeiten uns das Erleben der Einheit von Ort, Zeit und Handlung. Diese Zutaten des antiken Dramas erzeugen ein stimmiges Selbsterleben. Und das ist es ja, was uns heutzutage angesichts virtueller Ortlosigkeit, zeitlicher Fragmentierungen und Multitasking-Desastern oft abgeht. Sommerzeiten können es uns zurückgeben, wenn sie nicht in den Zwang des „Alles-muss-anders-sein“ kippen. Wie das geht, das können wir von den Sommerfrischlern von einst lernen. Mit Leichtigkeit.

So hat der Sommer für jede und jeden was zu bieten. Nicht nur zeitlich.

Schade eigentlich, dass auch die Sommerzeiten dahinschwinden.

Aber die Zeit schreitet voran. Was soll sie auch sonst tun? Vielleicht aber schreiten wir ja selbst voran – im besten Falle zur nächsten Sommerfrische.

***

[1] Vgl. https://www.dwd.de/DE/presse/pressemitteilungen/DE/2023/20230227_deutschlandwetter_winter22-23_news.html und https://www.dwd.de/DE/presse/pressemitteilungen/DE/2023/20230530_deutschlandwetter_fruehjahr2023.html, abgerufen am 01.07.2023, 12.55 Uhr

[2] Das ist eine Wiederholung (mit neuer Variation 😉 der Sommer-Zeit von vor 7 Jahren in diesem Blog.

[3] Für diejenigen, die sprichwörtlich nicht ganz sattelfest sind, bedeutet das: „nichts tun, faulenzen, seine Freizeit genießen; gelassen, entspannt sein; sich um nichts (mehr) kümmern (müssen)“. https://www.dwds.de/wb/den%20lieben%20Gott%20einen%20guten%20Mann%20sein%20lassen vom 01.07.2023, 16.00 Uhr

***

Hören Sie doch in Ihren Sommerzeiten mal in den ORTHEYs-Zeitzeichen Podcast hinein:

Oder Sie schökern in den Zeitzeichen:

ZEITZEICHEN

Ein ABC unserer Zeit.

ISBN 978-3-7504-3216-1

€ 19,99 [D] incl. MwSt.

Erhältlich bei BoD: https://www.bod.de/buchshop/zeitzeichen-frank-michael-orthey-9783750432161

Kategorien: Zeitforschung

0 Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

WP Popup