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Herbeigesehnt und auch schon fast wieder vorbei. Es ist Sommer in der Stadt und auch auf dem Lande. Die Zeitform des Wartens hat viel Geduld erfordert – zu stark waren wohl die Sehnsüchte nach der wärmenden Sommerzeit mit all ihren Verlockungen. Da gibt’s nicht nur Urlaub für viele, was wiederum viele ins Warten im obligatorischen Stau einbremst. Es gibt auch Zeiten am See, im Cafe im Freien, im Biergarten, in der Natur. Bei alledem ist’s auch noch lange hell, was womöglich bei manchem das Gefühl nährt, im Sommer herrsche mehr Zeitwohlstand. Vieles geht – angesichts drückender Hitze verständlich – auch langsamer im Sommer. Bloß nicht zu schnell bewegen! Selbst Autofahren, das sonst immer schneller gehen soll, wird langsamer, nicht nur wegen des allgegenwärtigen Mega-Staus. Nein, auch die Cabriolets der Sommerfrischler regen eher zu einer verhaltenen Fortbewegung an. Genuss braucht Weile, keine Eile.

Vor etwa 100 Jahren waren die Sommerfrischler meist gut betuchte Städter, die die Sommerzeit in schöner Umgebung fern des üblichen Arbeitsalltags verbrachten. In der Sommerfrische nahm damit auch die Zeit andere Gestalten an. So schlugen die Uhren in einem beschaulicheren, eher ländlichen Rhythmus. Das machte angesichts der städtischen Durchtaktungserfahrungen einen gerne willkommen geheißenen Unterschied. Die Sommerfrischler spazierten statt zu hetzen, sie nahmen ein langes Bad im See statt nur das hygienisch nötigste zu tun, sie dinierten ausgiebig statt sich zu verpflegen, sie ließen sich von leichter Musik berieseln statt von den Geräuschen der lärmenden Großstadt nerven, sie gaben sich der Kultur hin statt dem harten Erwerbsberufe, redeten viel Belangloses statt Bierernstes. Sie gaben sich der guten Langeweile hin – und blieben doch wer und wie sie waren. Sie erledigten weiterhin Korrespondenzen, trugen weiterhin schicke Kleider, luden ein und wurden eingeladen, redeten über Geschäftliches und gaben sich dann wieder der Muße hin. Sommerfrische macht damit einen Unterschied zu den heutigen oft so genannten „Aus-Zeiten“ oder den Sommerferien, wo alles anders, vermeintlich besser sein muss. Im Urlaubsmodus dominieren Lotterklamotten, sich hängen und gehen lassen ist angesagt, alles wird anders: Alltag, Umgebung, Kleider, Sprache, Nachbarn, Erwerbsarbeit lassen wir – vermeintlich – hinter uns und geben uns ganz dem Urlaub hin. Wir klinken uns zeitweise aus. Anders die Sommerfrischler, die Jahr für Jahr wiederkehrten, um sich eine kleine Luftveränderung zu gönnen und ihre Zeiten einer anderen Umgebung anzupassen ohne sich zwangsweise zu verurlauben, wie es heutzutage oft den Anschein macht. Sommerfrische, das war die Hege und Pflege einer eigenen, bunten und vielfältigen anderen Zeitkultur, die zur fixen Routine im Jahreszyklus wurde. Solange das Geld reichte jedenfalls. Die Zeitwohlstände der Sommerfrische waren damals wie heute etwas für die Wohlständigen.

Andere müssen umso härter rackern in der Hitze. Sie sanieren Autobahnen unter tropischen Arbeitsbedingungen und ernten hasserfüllte Blicke der auf dem Weg in die Sommerfrische abgebremsten. Sie schaffen den Müll der Massen nach den ungezählten sommerlichen „Events“ hinweg während sich das Publikum naserümpfend mit Aperol Spritz runterkühlt. Sie schuften, dem Hitzschlag nahe, einsam an den Bauten von Großprojekten, die trotzdem nicht zeitgerecht fertig werden, während die bessere Gesellschaft die Städte verlassen hat.

Wären sie noch da und nicht an den wechselnden In-Orten der postmodernen Sommerfrische, dann könnten sie kleine sommerzeitliche Biotope der zwangsweise (oder manchmal sogar freiwillig) Daheimgeblieben erleben. Man kann diese Zeiten riechen in den Parks, an den Seen und den Flüssen der Stadt. Der Grill ist das Zeichen der Zeitsouveränität des Sommervolkes, seine Emission das visuelle und olfaktorische Signum der Sommerzeit.

Wem das stinkt, der verbringt seine sommerlichen Eigenzeiten mal wandernd, mal joggend im Wald, verschafft sich dümpelnde Linderung in kühlen Gewässern oder radelt gemächlich zum Gastgarten. Oder macht sich ganz spontan und unspektakulär mit dem ebenfalls daheim gebliebenen Nachbarn ein Bier auf – statt sich wie üblich einsam saufend durch die Kanäle zu zappen und dann vor dem Fernseher einzupennen. Günstigstenfalls ermöglichen Sommerfrische und Sommerurlaub uns das Erleben der Einheit von Ort, Zeit und Handlung. Diese Zutaten des guten antiken Dramas erzeugen ein stimmiges Selbsterleben. Und das ist es ja, was uns heutzutage angesichts virtueller Ortlosigkeit, zeitlicher Fragmentierungen und Multitasking-Desaster oft abgeht. Sommerferien können es uns zurückgeben. Wenn sie nicht in den Zwang des „Alles-muss-anders-sein“ kippen. Wie das geht, das können wir von den Sommerfrischlern von einst lernen.

So hat Sommer für jeden was zu bieten. Nicht nur zeitlich.

Schade eigentlich, dass die Sommerzeit dahinschwindet.

Aber die Zeit schreitet voran. Was soll sie auch sonst tun? Vielleicht aber sind wir selbst es, die da voranschreiten – im besten Falle bis zur nächsten Sommerfrische.

Doch erst mal sehen, was der Herbst so zu bieten hat. Denn wie alles andere, so hat auch der seine Zeiten.

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Literatur: Orthey, Frank Michael: Zeitumstellung. Für einen guten Umgang mit der Zeit. Wissenswertes, Anregendes, Nützliches. Erscheint 2016

Kategorien: Zeitforschung

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