„Ich brauch‘ dringend mal eine Auszeit!“ So lautet ein häufig gehörter – und gesagter (?) – Satz heutzutage. Aber was ist das bitte, eine Auszeit? Die offenbar oft gewünscht, ersehnt und tatsächlich wohl auch immer öfter genommen wird. Manche dieser Auszeiten enden in Klöstern, bei Exerzitien, in Wellness-Oasen oder in Spa-Tempeln – manchmal im Sabbatical, der XXL-Version der Auszeit. Auszeiten sind bewusst gesetzte Zäsuren, also Unterbrechungen der tagesüblichen zeitlichen Routinen und Abläufe. Früh- statt Spätaufstehen – oder umgekehrt, morgens erst mal ne Stunde Mediation statt im täglichen Berufspendlerstau Telefonate abarbeiten, sich an eigenen Rhythmen oder an denjenigen der Natur orientieren statt fremdgesteuert durchgetaktet vor sich hin leben und arbeiten. Zur Zäsur dazu kommt der Kontextwechsel – verstanden als Veränderung des (Denk- und Beobachtungs-) Rahmens: Kontemplation im Andachts- statt Teammetting im virtuellen Raum, offline-Schweigen statt online-Kommunikationswahnsinn, entspannt in der Natur relaxen statt getrieben im Betrieb rumhexen, sich treiben lassen im Wüstensand statt im Büro To-Do-Listen abarbeiten, gregorianischen Gesängen im Stundengebet lauschen statt stundenlang durchs Office rauschen. Das sind Konkretisierungen des Kontextwechsels in Auszeiten. Der Wechsel oder gar die Umkehrung des Kontextes lässt völlig andere als die üblichen Wirklichkeitskonstruktionen zu – das ist der Charme. Und es ist das Konzept so manchen Witzes. So wie in dem Witz, den ich schon mehrfach von Dirk Baecker abgeschrieben habe. Es ist ein Beobachterwitz: „Ein Blinder kommt in ein Kaufhaus und wirbelt seinen Blindenhund über seinem Kopf herum. Ob dieses tierquälerischen Tuns wird er zur Rede gestellt. Worauf er antwortet: „Man wird sich doch wohl noch mal umsehen können.““ Durch diese Pointe wird Unwirkliches und scheinbar Wirkliches nebeneinander gestellt. „Die Regeln der Wirklichkeit werden durch die Pointe durcheinandergebracht, vorher Unvereinbares erhält in einem anderen Kontext einen neuen treffenden Sinn.“ Hier zu Blindenhunden und ihrer Funktion. In Auszeiten – oft weniger krass (gottlob) – zu anderen Dingen, die uns irgendwie zwar selbstverständlich erschienen, aber uns dann doch beschäftigten, störten oder einschränkten. Da hilft es, sich mal aus einer anderen Perspektive umzusehen 😉

Zäsur + Kontextwechsel = Auszeit. So lautet die Gleichung. Das eröffnet andere Beobachterstandpunkte und –perspektiven: Man und frau kommt was anderes zu sehen, zu hören, zu schmecken, zu riechen und zu spüren als üblich. Und das ist vielen ZeitgenossInnen viel wert.

Was ist die Funktion einer solchen Auszeit?

Üblicherweise finden sich Erklärungsmodelle im Sinne von „einen Schritt zurücktreten“, „sich auf sich selbst und auf anderes Wesentliche besinnen“, „sich reflektieren, überprüfen und sich neu orientieren“ usw. Häufig kolportiert durch diejenigen, die als Auszeit-Helfer den Sinn für diese Intervention mitliefern und sich selbst als fachlich versierte Helfer, Coaches und Begleiter gleich mit vermarkten. Eine solche Unterstützung kann hilfreich sein, wenn die Funktion der Auszeit in Selbstvergewisserung und Selbst(wiederer)findung besteht. Gerade wenn es um Fragen des „Selbst“ geht, sind unsere Blicke von einer ganzen Armada von blinden Flecken getrübt. Da hilft die fremde, die unverstellte Perspektive, damit unsere üblichen bewährten aber manchmal auch erstarrten und behindernden Muster und Glaubenssätze mal eine Auszeit nehmen können.

Diese Funktion der Selbstvergewisserung und Selbst(wieder)findung wird heute oft und gerne genommen. Dabei macht es einen Unterschied, ob ich eine Auszeit brauche – und noch schlimmer: es zugeschrieben bekomme, eine zu brauchen, damit ich mal wieder zur Besinnung komme. Oder ob ich mir bewusst eine nehme. Wie in manchen Sportarten, wo ein sogenanntes „Timeout“ von einer Mannschaft in Anspruch genommen werden kann, um die Taktik und die Spielweise an neue Gegebenheiten anzupassen. Hier scheint sich momentan ein Sinnes- und Bedeutungswandel zu vollziehen: von der Auszeit als einer Reaktion, die gebraucht wird, weil etwas fehlt, nicht mehr gut funktioniert oder nicht mehr stimmig erscheint hin zu einer Auszeit, die bewusst genommen wird, um die eigene Haltung und das eigene Verhalten zu überprüfen und an neue innere und äußere Gegebenheiten anzupassen.

Manchmal erscheint es allerdings bereits so, als gehöre die Auszeit zum stetig wachsenden Selbstoptimierungsinventar. Dann muss die Auszeit genommen werden, um (sich selbst und der Umwelt) zu signalisieren, dazuzugehören und nichts auszulassen, um die eigene Performance zu verbessern. „Was, Du hast noch nie eine Auszeit genommen? Unglaublich. Wie hältst Du das bloß aus?“ In diesem Sinne wäre Selbstoptimierung und Selbstvermarkung eine mögliche Funktion einer Auszeit. Ob das dem ursprünglichen Geist der Auszeit entspricht, ist zu bezweifeln. Eher wohl schreckt die Selbstoptimierungswelle, die ja vor allem von Anbieterseite her ökonomisch motiviert ist, nicht vor der Vereinnahmung solcher Begriffe zurück, die gerade ziemlich angesagt und anschlussfähig sind. Wie das bei der „Auszeit“ in unserer „hektomatik-Welt“ (STS) momentan nachvollziehbarerweise der Fall ist. Eine solche Verzweckung und Ökonomisierung wäre eigentlich schade um den schönen Begriff. Ist aber schon zu spät. Ja – googeln Sie mal. Auszeiten gibt es heute auch schon in entsprechend gelabelten Restaurants, Fittnessbuden, Lounges, Cafes, Spas oder im gleichnamigen Magazin. Ob das, was so heißt, weil es angesagt ist und sich gut zu Kohle machen lässt, den gewünschten Effekt hat, das ist allerdings zweifelhaft. Sieht aber immerhin schick aus. Und das zählt ja heute auch schon was. Auf Instagram und so. Die „Auszeit“ ist ein attraktives Etikett für allerlei Geschäftsmodelle geworden. Der Begriff ist marktfähig. Und die Fotos davon taugen zur Selbstvermarktung auch noch. Das sind dann aber eher Bilder von der (sogenannten) Auszeit als tatsächliche Zäsuren und Kontextwechsel. Von den Bilderfluten wünscht sich auch manch‘ einer eine Auszeit.

Manchmal kommt es auch ganz anders – das Leben ist kontingent. Dann wird die Auszeit aus einer anderen Logik kommend verordnet. In meinem Falle hat es aktuell die Gesundheitslogik erfordert, in die Klinik zu gehen. Oje, ja – der Autor im strengen Selbstversuchsmodus. Kein Wunder eigentlich, dass es da nicht nur eine Operation gab, sondern – Zäsur und Kontextwechsel! – es auch reichlich Gelegenheit (und die Notwendigkeit) gibt, in Distanz zu den üblichen sachlichen, zeitlichen und sozialen Routinen zu gehen – und auf (ganz?) andere Gedanken zu kommen. Das ist eine der produktiven Nebenwirkungen solcher erzwungenen Zäsuren und Kontextwechsel – auch gerne genommen in allerlei notwendig gewordenen Reha-Maßnahmen.

Wem das zu steil ist mit Klöstern, Krankenhäusern, Jakobswegen oder Wüsten oder wer dazu keine Zeit (zu glauben) hat ;-), der- oder diejenige versuche es doch mal mit einer kleinen (täglichen) Auszeit und setze bewusst eine Unterbrechung und ändere den Kontext. Praktisch bedeutet das, sich mit anderen als den üblichen Reizen zu versorgen. Das funktioniert auf dem heimischen Wald- oder Feldweg, mit dem Fahrrad, auf der Yogamatte und bei anderem, was bestenfalls Lust und Freude bereitet. Eine solche kleine (tägliche) Auszeit mit gezielt gewählten anderen Reizen ist Gold wert. Und sie ist auch noch günstiger zu haben als vieles andere, was so im Angebot ist zwischen Klöstern, Krankenhäusern und Wüsten.

Probieren Sie es doch mal aus. Und wenn es Ihnen nützlich erscheint, entwickeln sie daraus eine kleine Auszeit-Routine. Allein das macht manchen schon froh und hilft. Denn Routinen und Rituale dienen – systemtheoretisch gesprochen – der „Unsicherheitsabsorption“. Sie geben die Sicherheit, dass es täglich (zuverlässig!) etwas anderes, etwas Lust- und Freudvolles gibt – wider der anderen Zumutungen, mit denen wir es heute häufig zu tun haben. Da sind wir uns ja auch sicher. Aus welchem Grunde sich also nicht auch mit einer Sicherheit versorgen, dass es auch noch etwas anderes gibt?

Das könnten wir lernen – und dabei die Ambivalenzen des Lernens nicht aus den Augen verlieren. Und jedenfalls unsere Auszeit-Routinen hin und wieder mal überprüfen. So mancher Läufer, dessen ehedem geliebte tägliche kleine Auszeit sich zum festen und mit Zwängen besetzten Bestandteil des täglichen Hetz-Wahnsinns verselbstständigt hat, ahnt womöglich jetzt, dass es manchmal eine Änderung des Kontextwechsels braucht. Auszeit von der Auszeit, eine Auszeit zweiter Ordnung quasi. Jetzt aber aus. Es wird Zeit – die tägliche Visite kommt.

Gute und bereichernde Auszeiten!

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Für Auszeiten geeignet: Frank Michael Orthey: Zeitumstellung. Für einen guten Umgang mit der Zeit. Haufe-Lexware.

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Kategorien: Zeitforschung

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