Falls Ihre Organisationszeiten es zulassen, geht es hier zur Ankunft – das ist gerade so die Zeit aktuell. Anderenfalls – oder je nachdem: nachher – geht es  zur Frage: Wissen Sie, wieviel Ihrer täglichen Arbeits- und Lebenszeit Sie für Organisation verwenden? Also für das, was Organisationen von Ihnen wollen oder einfordern? Betrieb, Finanzamt, Kindergarten, Schule, Vereine – diese und andere Organisationen brauchen Zeit. Zeit für Routinen, Prozesse, Termine, Deadlines, Strukturen, Rituale, die bedient, gepflegt, geteilt oder eingehalten und erfüllt werden sollen. Dazu kommt das, was Sie selbst brauchen, um sich (zeitlich) zu organisieren, also ihre eigenen Organisationszeiten, damit das auch klappt mit ihrem Projektplan, mit der Abholung der Kinder aus der Schule, dem Einkaufen und diesen Dingen des alltäglichen Wahnsinns. Erschreckende Einschätzungen zur Zeitverwendung in dieser Zeitdimension von Teilnehmer*innen in meinen Zeitberatungsseminaren von bis zu 70 % der täglichen Arbeitszeit sind Anlass genug, einen genaueren Blick auf die Organisationszeiten zu richten.

Das Modell der Zeitdimensionen[1] macht die unterschiedlichen Bezüge der Zeit deutlich – und damit auch unterschiedliche „Qualitäten“, die Zeit annimmt, wenn sie

  • der Inhaltlichkeit der Aufgabe angemessen ist,
  • der Zeitstrukturierung der Organisation folgt,
  • an der Kultur,
  • den eigenen Bedürfnissen,
  • an Beziehungen und am Kommunikativen orientiert ist
  • an dem, was die Natur (als Umwelt) vorgibt.

In diesem Beitrag geht es um die Organisationszeiten.

Mit diesem Begriff sind diejenigen Zeiten bezeichnet, die die Organisation braucht. Auch wenn es im Kern „eigentlich“ um Aufgaben und Inhalte geht, gibt es ein organisationales Umfeld, das die Aufgabenerfüllung unterstützen soll. Die Organisation richtet dafür Strukturen, Prozesse und Routinen ein, die angelegt, eingeführt, gepflegt, verändert und angepasst werden wollen. Es gibt Abteilungen, Stäbe, Referate, Hierarchien, Ablauf- und Kommunikationspläne bis hin zu Fluchtwegeplänen oder Regeln zur Desinfektion im WC. Und Projekte gibt es auch noch. Sie liegen meistens quer zur organisationalen Ordnung wie sie in Hochglanzbroschüren und in schicken Organigrammen auftrumpft, als sei das Unternehmen ein Hort der Überschaubar- und Planbarkeit. Das alles braucht viel Zeit: Organisationszeit.

Diese Organisationszeiten „ticken“ in Garagenfirmen anders als in global operierenden Großkonzernen. In der personell und räumlich überschaubaren Start-Up-Firma wird auf Zuruf und zeitlich unmittelbar am Handlungsbedarf entlang organisiert. Und das heißt meist: es wird schnell gemacht. Ob das immer angemessen ist, sei dahingestellt, aber es gibt keine zeitlich anspruchsvollen Strukturen, die sich „die Organisation“ ausgedacht hat, um sich selbst besser zu organisieren. Es wird mehr gemacht als (organisational) gedacht. Es gibt keine organisationalen Zeitfresser, keine Exceltabellen, die verstanden und gepflegt werden müssen oder tägliche, wöchentliche und monatliche Meldungen über Krankenstände, Arbeitsunfälle, Papierverbrauch und den Materialbedarf für die kommenden Jahre. In der Garagenfirma machen alle alles. Immer, fast zu jeder Tages- und Nachtzeit. Wenn Kunden sich aufregen, greift der Chef zum Telefonhörer und kümmert sich. Und er holt auch mittags Pizza für alle. Die Liste hält er mit einem Pfiff hoch und legt sie auf den Tresen. Es braucht zur Verpflegung der Organisationsmitglieder keine Kantine, keine Speisepläne und keine Küchentauglichkeitsuntersuchung durch den Betriebsarzt.

In der undurchschaubaren Hierarchie des Großunternehmens braucht es nach einem vergleichbaren Auslöser – z.B. der Rückmeldung von Vertriebsmitarbeitern, dass die Kunden sich nur unzureichend betreut fühlen – zunächst einmal eine Schärfung des Themas durch die entsprechende Fachabteilung oder/und das zuständige Referat. Das löst dann eine ganze Kaskade von Entscheidungen top-down aus. Dann wird (verlegenheitshalber) oft eine Projektgruppe eingerichtet, die nach der Genehmigung des Projektplans ein Kurzkonzept für ein neues Kundenkonzept macht. Das wird dann vom Vorstand und allen Stakeholdern geprüft, ergänzt, korrigiert zurückgegeben, anschließend aus- und mehrfach überarbeitet, um dann in einem Pilotversuch evaluiert, weiter verbessert und schließlich, nachdem es durch die Mühlen der Qualitätssicherer gedreht wurde, verworfen zu werden, damit dann eine neu geschaffene Stabsabteilung ihre Arbeit zum Thema aufnehmen kann. Das kann dauern. Und ob die Kunden dann noch da sind, das ist eher fraglich. Die Organisation rotiert einstweilen in selbst geschaffenen Prozessen. Das gefällt denjenigen, die die Organisation organisieren (und genau dafür bezahlt werden).

Organisationszeiten[2] sind heutzutage zudem durch die zeitlich destabilisierenden und flexibilisierenden Auswirkungen immer neuer Veränderungshypes gekennzeichnet. Da werden vernetzte, fragmentierte, fraktale, chaordische, natürlich agile und was auch immer für Organisationen ausgerufen – und das selbstredend in virtuellen und globalen Dimensionen. Es gibt auch Pizzaorganisationen – und das sind nicht diejenigen, wo der Chef die Pizza holt, sondern solche deren Aufbau und Machart einer Pizza entsprechen sollen. Oder sie werden gleich zu Mülleimerorganisationen oder anderem Wortmüll deklariert, um der Paradoxie zu entkommen, die Organisation so zu organisieren, dass Selbstorganisation möglich ist – zumindest auf dem Papier. Dabei muss selbstverständlich best-practice geteilt werden, ohne Benchmarks geht’s nimmer und irgendwas zum Verändern gibt es auch immer. Organisationsberater sind permanent im Hause, stellen alles auf den Kopf und sorgen für Spannung. Das hält lebendig – angeblich. Aufgebauschte Begriffe und Change-Sprüche werden in Umlauf gebraucht. Schnell verstecken und verschanzen sich deren kreative Erfinder dann aber hinter immer neuen organisationalen Strukturen und Prozessen. Diese haben letztlich nur die Funktion, die Organisation (als Organisation) zu erhalten (und Berater zu ernähren). Deshalb beschäftigt die Organisation die Organisationsmitglieder sinnvoller Weise ja auch mit der Organisation der Organisation. Dass dies Sinn macht, teilen nicht alle Organisationsmitglieder. Dass die Organisation die Organisation organisiert, damit diese was zu organisieren hat, klingt wie ein Wortspiel, ist aber nicht immer so lustig. Was dabei – nicht nur zeitlich – herauskommt, ist widersprüchlich, es ist keine leichte Kost und macht manchen Organisationsmitgliedern nicht nur Zeit- sondern auch Magen- und Verdauungsprobleme. Denn Organisationen machen oft krank. Kein Wunder. Immer wieder alltagsempirisch bestätigten Angaben zur Folge – ich wies anfangs darauf hin – absorbieren manche Großorganisationen um die 70 % der Arbeitszeit für die Organisation. Zeit, die „eigentlich“ für Aufgaben veranschlagt war, dann für die Organisation draufgeht, wieder oben draufgepackt wird, was wiederum die Organisation auf den Plan ruft usw.

„Organisationszeiten“ hießen früher übrigens in der Bundeswehr, einer Organisation, die ich jahrelang von innen kennenlernen konnte, solche Zeiten, die die eigentliche Aufgabe zusätzlich brauchte, um erfüllt werden zu können. Diese „Organisationszeiten“ zeugten aus heutiger Sicht von Zeitkompetenz, denn sie wurden im Dienstplan ausgewiesen und abgesichert. Heute werden sie gerne verschwiegen, vorausgesetzt und still und leise in die Aufgabenzeiten hineingerechnet. Und dann wird kräftig in die organisationale Rationalisierung investiert, was nur tiefer in die Abgründe der organisationalen Zeitfresser führt. Es beginnt meistens mit einer Reihe von Workshops, denen eine Reihe von Meetings folgt. Die Zeit geht dahin einstweilen, was soll sie auch sonst tun?

Zeit ist ein zentraler Machtfaktor in Organisationen. Und das machen diese sehr deutlich im zum Teil subtilem, aber mächtigen Zugriffen auf Arbeits-, Lebens-, Eigen- und Sozialzeiten. Die formale Organisationslogik der Zeit ist eine Synchronisationslogik. Das bedeutet, dass Aufgabenzeiten, organisationsbedingte Zeiten, soziale Zeiten (z.B. für Besprechungen), Kulturzeiten (Weihnachtsfeier, Dienstabschlussbier ;-)) und Eigenzeitansprüche der Mitarbeiter/innen vereinheitlicht, verallgemeinert, verdurchschnittlicht, koordiniert und synchronisiert werden müssen, damit der Laden (vermeintlich, hoffentlich) zielgerichtet läuft. Diese Synchronisation geschieht jedoch abgekoppelt von natürlichen Zeitmaßen. Sie ist orientiert an abstrakten Zeitmaßen, die sich aus einer „Logistik der Zeit“ selbst ergeben, wie sie in Organisationen gehandhabt wird: Zeit wird bewirtschaftet. Sie wird ge- und verplant, sie wird organisiert als wäre sie inhaltsleer, als hätte sie nichts zu tun mit Menschen und mit deren Beziehungen. Geschweige denn mit Kultur und Natur – oder mit den unüblichen Systemzeiten, die anspruchsvolle oder kreative Aufgaben nun mal haben. Organisationale Zeiten sind vom natürlichen Maß abgekoppelte und oft individuell und sozial entfremdete Zeiten. Ihre Abstraktheit, die einer Bewirtschaftungslogistik der Zeit folgt, macht sie so schwer erträglich. Sie nerven. Wir können uns vieles, was organisationaler Zeit-Logik entspringt, nicht erklären – und deshalb können viele Menschen in Organisationen sie kaum aushalten.

„Was habe ich heute eigentlich gemacht?“ Dieser Seufzer ist das, was häufig bleibt bei derart getriebenen zeitlichen Organisationsopfern. Wenn es sie nicht schlimmer erwischt.

Die Herausforderung in der Leitung und Steuerung von Organisationen besteht darin, diese organisationalen, sich verselbstständigenden Dynamiken so zu steuern, dass sie zu brauchbaren und hilfreichen Strukturen, Prozessen und Routinen führen – und nicht blockieren und Zeiten verschlingen, die in anderen Zeitdimensionen besser und angemessen aufgehoben wären. Das ist anspruchsvoll, weil die (Zeit-) Falle gestellt ist: Zu viel Organisation mit (noch) mehr Organisation zu begegnen, z.B. für eine Umorganisation oder zur Organisationsverschlankung. Also nicht: „Weniger davon“ durch „Mehr-Desselben“.

Geht es bei den Aufgabenzeiten in der Sachdimension darum, diese zu eröffnen und zu schützen (immerhin liegt hier ja das sogenannte „Kerngeschäft“), geht es bei Organisationszeiten darum, diese maßvoll zu gestalten und sie eher zu limitieren und zu reduzieren. Immerhin gibt es ja auch noch (oft brach liegende) Ressourcen der Selbstorganisation von Mitarbeiter*innen und Teams.

Und manchmal tut es der zeitlichen Stimmigkeit in Organisationen auch gut, das Konzept der Organisationszeiten auf den Umgang mit Zeit selbst anzuwenden. In einem Zeitberatungsworkshop für das Leitungsteam eines großen Produktionsbetriebes einer globalen Unternehmung war es für die teilnehmenden Führungskräfte die herausragende gemeinsame Vereinbarung, dass Meetings (wovon es dort viele gab ;-)) immer um .55, also fünf Minuten vor der vollen Stunde endeten und immer um .10, also 10 Minuten in der nächsten vollen Stunde beginnen sollten. Das war die Konkretisierung der Idee der „zeitlichen Dehnungsfuge“, die es künftig ermöglichen sollte, dass auch Anschlussmeetings im weitläufigen Betriebsgelände pünktlich erreicht werden können. Zudem wurden die Vielzahl der Meetings auf Brauchbarkeit und Nützlichkeit hin überprüft, es wurden Regeln für Meetings und für Mailkommunikation in der Organisation formuliert und es wurden „zeitliche Biotope“ (immer freigehalten von Meetings) verabredet und im organisationalen Kalender freigehalten. Das alles sollte – so das anspruchsvolle Projekt des Leitungskreises – mittelfristig zu einer anderen Zeitkultur führen. Und dafür sollte die Organisation genutzt werden – statt Zeiten unangemessen zu verplanen. Das organisationale „Mindset“ sollte umgestellt werden auf die Organisation zeitlicher Freiräume der Führungskräfte für die eigentlichen Kernaufgabenzeiten.

Solche oder ähnliche Schritte wären in Organisationen ein Akt „reflexiver Temporalisierung“[3]  (Zeit zwischen System und Umwelt) – und ein Schritt zur lernenden Zeit-Organisation. Das wäre doch mal was: (Organisations-) Zeiten zum Lernen.

Und übrigens gilt – und das teilen nicht nur von Organisationszeiten geplagte Menschen so nah an den Festtagen und am Jahresabschluss: „Ich bin froh“, so soll das Münchner Original Karl Valentin gesagt haben, „wenn die staade Zeit vorbei ist, dann wird’s vielleicht wieder ruhiger.“

Wenn Sie Lust haben, dann gehen Sie jetzt (wieder) zur Ankunft.

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[1] Orthey, Frank Michael: Zeitumstellung. Für einen guten Umgang mit der Zeit. Haufe-Lexware, Freiburg 2017

[2] Vgl.: Orthey, Frank Michael: Zeit und Organisation. Organisationszeiten. In: Geißler, Karlheinz A., Orthey, Frank Michael, Fuchs, Peter: Zeit und Qualität – Zeit und Organisation – Zeit und Lernen. Expressum, Hannover 2010, S. 48 – 76

[3] In Anlehnung an Peter Fuchs, der auch von „Temporalisierung zweiter Ordnung“ spricht. Vgl. Peter Fuchs. Die Zeit und das Lernen. In: Geißler, Karlheinz A./Orthey, Frank Michael/Fuchs, Peter: Zeit und Qualität. Zeit und Organisation. Zeit und Lernen. Expressum Verlag, Hannover 2010, S. 77 – 90. Genaugenommen beinhaltet Temporalisierung bereits ein reflexives Element. „’Temporalisierung‘ bedeutet (…)  das Reflexivwerden von Zeit.“ (Orthey 1997, CD-Rom, Temporalisierung und Vergeschichtlichung.doc) Daraus ist Geschichte und Geschichtsschreibung entstanden. Da nun diese Akte reflexiver Verzeitlichung reflexiv werden, spricht Fuchs von „Temporalisierung zweiter Ordnung“. Vgl. Orthey, Frank Michael: Zeit der Modernisierung. Zugänge einer Modernisierungstheorie beruflicher Bildung. Hirzel-Verlag, Stuttgart 1997

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Wer Interesse hat, sich in einem anspruchsvollen und lebendigen Setting mit Organisationen, ihren Dynamiken und mit zielgerichteten Interventionen in Organisationen zu beschäftigen, der- oder demjenigen sei der Lehrgang Organisationsberatung/Organisationsentwicklung in Schloss Hofen (www.schlosshofen.at ) empfohlen, den ich gemeinsam mit Dr. Brigitte Gütl in der Lehrgangsleitung begleite. Wissenschaftlicher Leiter ist Prof. Dr. Hans J. Pongratz, außerplanmäßiger Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Der dreisemestrige, schon mehrfach erfolgreich durchgeführte Lehrgang wendet sich an qualifizierte Berater und Beraterinnen, die in Supervision, Coaching, Psychotherapie oder als MediatorInnen arbeiten, an Fachkräfte in der Personal- und Organisationsentwicklung sowie an Führungskräfte mit und ohne Hochschulabschluss.

Je nach erfüllten Zulassungsvoraussetzungen schließt der Lehrgang mit dem akademischen Grad „Master of Science in Organisational Development“ oder „Akademische(r) Organisationsberater(in)/Organisationentwickler(in)“ ab (FH Vorarlberg). Der Hochschullehrgang wird vom Berufsverband für Supervision, Coaching und Organisationsberatung (BSO) Schweiz und der Österreichischen Vereinigung für Supervision (ÖVS) anerkannt.

Detaillierte Information und die entsprechenden vertiefenden Broschüren unter https://www.schlosshofen.at/bildung/soziales/organisationsberatung-msc/

Kategorien: Allgemein

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