Das machen gerade viele. Sie harren. Der Dinge, die da (nicht) kommen (mögen). Derart (aus-) harrend pflegen sie eine qualitätsvolle Variante des Wartens. Beim Harren bestimmt eine innere Erwartung den Zustand. Und dieser zieht sich über eine gewisse Zeit hin. Keine schnelle und beteiligungslose, schnöde, sinnfreie Warterei, nein, ein Warten mit sinnbezogener Erwartung – und eines mit Dauer. Das braucht schon etwas Beharrlichkeit.

Bezogen auf diesen Unterschied, also dem, den die sinnbezogene Erwartung und die Dauer machen, ist es die entscheidende Frage, anhand welcher Erwartung wir unser (Ver-) Harren für wie lange orientieren. Harren wir für die Dauer des Lockdowns in Erwartung der Rückkehr zu einer sogenannten „Normalität“, harren wir dauernd in Erwartung neuer Epidemien und Krisen oder harren wir im andauernden Optimismus auf neue gesellschaftliche, soziale und individuelle Chancen, die sich aus der aktuellen Krisengemengelage entwickeln werden. Je nachdem wird unser Harren emotional anders ausfallen. Und je nachdem wird es unsere Zeitwahrnehmung beeinflussen. Denn diese ist abhängig vom jeweils anliegenden emotionalen Zustand.

Bei negativen Erwartungen zieht sich unser Verharren in eine vermeintlich nicht enden wollende lange Weile, die manche ZeitgenossInnen* momentan auch als Langeweile empfinden. Oder ihr Harren ist eher ein sich Ängstigen. Das muss nicht sein, denn: „Harren ist langweilig, macht aber weise.“ Es kommt eben auf den Blick, die eingenommene Perspektive und auf die dahinterstehende Erwartung an. Wer, wie eine Zeitungsschlagzeile dieser Tage kundtut, beim Schneechaos nachts auf der Autobahn ausharrte, brauchte, um die Zeit gut zu überstehen, eher die positive Erwartung des wärmenden nächsten Tages als die ängstigende des Erfrierens.

Menschen, die sich bei der ganzen Verharrerei in Lock- und Flockdowns mit positiven Erwartungen um- und abgeben, nehmen die momentane Situation, wie sie ist, glauben an etwas, suchen Chancen, rechnen mit etwas (Guten) – oder auch: sich etwas (Gutes) aus. Und üben sich verharrend in Geduld, verweilen einstweilen. Jene werden sich zeitlich gut aufgehoben fühlen, ihr Verharren genießen und gestalten. Genährt von positiven Gefühlen. Und von Vertrauen.

Andere träumen derart harrend, wiegen, verlieben und verlieren sich in Hoffnungen – ohne etwas zu tun. Sie sind zeitlich eher abgehoben, scheinen in anderen Sphären zu schweben, sind nicht greifbar (und oft nicht erreichbar), sind zeitlich abgetaucht. „Hoffen und Harren machen manchen zum Narren.“ So wird das sprichwörtlich – zuspitzend – beschrieben. So weit muss es nicht kommen – und auch dafür ist bald eine sprichwörtliche Weisheit gefunden, die ihrer Bestätigung harrt: „Mit Harren und Hoffen hat’s mancher getroffen.“ Na, ja, der eine sagt so, die andere so. Das harrt noch einer weiteren Klärung.

Was können wir tun?

Ausharren. Sprich: Verlangsamen, innehalten, stehenblieben, geduldig und gelassen bleiben. Und uns mit hilfreichen Bildern und Informationen dieser Welt versorgen für einen klaren beharrlichen Blick. Denken. Uns mit guten Erwartungen ausstatten, indem wir auf die Seite der Chancen und neuen Möglichkeiten sehen und gehen. Oft ist dazu eine Erhöhung der Flughöhe nötig, um diese sehen zu können – oder ein Kontextwechsel: Winterspaziergang statt Home-Office-Arbeitsplatz. Aus solchen Distanzen schaut die verharrende Welt gleich ganz anders aus. Frau und Mann bekommt sich selber – aus der Distanz – zwischen Wirklichkeiten und Möglichkeiten zu sehen. Und nicht als Nabel der Welt, nicht als machtloses Opfer. Das würde eher wütend machen und in – nicht nur zeitliche – Abgründe der Verzweiflung, Verschwörung oder Verwerfung führen. Also im sprichwörtlichen Sinne: „Harren, sehn und schweigen verhütet manchen Krieg.“ Und ermöglicht – fügt der derart Verharrende hinzu – neue Blicke auf die Welt. Das macht das Verharren zu einer wertvollen Ressource neuer Sinnfindung.

Perspektivwechsel.

Oft ist der Wortgebrauch nicht auf eine Person gerichtet, sondern auf: ein Werk, das seiner Vollendung harrt, eine Frage, die der Klärung harrt, ein Problem, das einer Erforschung oder Lösung harrt, Aufgaben, die ihrer Erledigung harren. Sprich, da ist etwas da, das harrt. Ob ich das Werk, das da harrt, vollende, die Frage kläre, das Problem erforsche oder löse – das entscheide ich. Es ist eine Entscheidung, was von dem, das da um mich herum auf irgendwas harrt, ich annehme. Oder: Vor welchen Karren des Harrenden ich mich (von mir selbst) spannen lasse. Kreative Ignoranz kann ganz hilfreich sein bei allem, was da auf irgendwas so harrt momentan um uns herum. Und dabei beharrlich der Dinge harren, die da kommen. Mit Geduld, Gelassenheit und Zuversicht. Harren hat den Vorteil, aus der vorhergehenden Verlangsamung heraus in einem bestenfalls positiven emotionalen Zustand, die Welt anders beobachten und deuten zu können. Das Denken harrt seines Gebrauchs.

Die Zeit wird es zeigen.

„Das alles ist dunkel, dunkel und harrt noch der Aufklärung.“ (Thomas Mann)[1]

Gute Zeiten!

[1] Mann, Thomas; Buddenbrooks, Frankfurt a. M.: Fischer 1989, S. 209

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Oder auch zum Lesen:

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