Das Warten ist am Ende. Es kommt kaum noch vor. Alles läuft in (sogenannter) Echtzeit. Das Warten hat ein Ende! Endlich. Alles sofort, unverzüglich. Kaum bestellt, schon klingelt der Paketbote. Demnächst kommt uns die enteignete Zukunft gar entgegen. Bevor wir daran denken, ist die Lieferung versandt und zugestellt. So durchsichtig sind wir geworden. Im lesens- und hörenswerten „Quality Land“ von Marc-Uwe Kling wird das zugespitzt. Die Paketdienst-Drohne hat bereits abgeworfen, was Du gemäß der Berechnung von Algorithmen jetzt oder künftig haben willst. Willkommen in der Zukunft! Deshalb lautet die Antwort auf alle Fragen in Quality Land: O.k.! Kein Warten mehr, es ist alles schon da. Perfekt. O.k.!
Aber wenn es bei all dieser – meist nur propagierten – Wartefreiheit doch zu einer gefürchteten und verhassten Wartezeit kommt, dann werden wir nett getröstet und zumindest pausenlos darüber informiert, wann denn das Warten ein Ende haben wird. Meine Ehefrau hat es gezählt: Nach einer Büromittelbestellung gab es neun Mails über den Status der Bestellung: Bestellbestätigung, Versandbestätigung, Übergabebestätigung an Paketdienst, Sendungsstatus, Mitteilung über voraussichtliche Zustellung, Ablageort, Zustellbenachrichtigung, Rechnung und Aufforderung, diesen Prozess zu bewerten. Das kann frau und man natürlich kaum noch erwarten. Bewerten statt lange zu warten, um den Prozess so optimieren zu helfen, dass die Wartezeit auf die Lieferung weiter verkürzt werden kann. Was dauert länger? Womöglich gibt sich das zeitlich nichts. Die dauernde Bewerterei ist aber ungleich nerviger (abgesehen von der Zweifelhaftigkeit der Motivlage bezogen auf die dadurch auswertbaren Daten). O.k.! Statt die zweifelhafte Dauerbewerterei zu beenden, soll aber offenbar dem Warten der Gar ausgemacht werden. Wie anders ist zu erklären, dass unentwegt darüber berichtet wird, dass wieder mal irgendwas schneller geht – und das heißt ja: ohne nervige Warterei. Das Warten soll eliminiert werden. Dennoch endet dies Ansinnen für den Kunden (um den es ja angeblich gehen soll, klar, nur anders als der denkt ;-)) immer noch nicht allzu selten in einer sogenannten Warteschleife, die das Warten mit geschmacksneutralem Musikgedudel („Wartemelodie“), automatischen Ansagen, Aufforderungen, Tasten zu drücken und Zahlen zu sagen auch nicht witziger macht. Manche/r soll schon versucht haben, sich mit der Warteschleife selbst zu strangulieren. O.k.! Jedenfalls hat sich die derart optimierte Warterei leider häufig auch gar nicht gelohnt angesichts der bescheidenen Qualität der Auskünfte von sogenannten Experten, die sich rund um die Welt wartend Hörer übergeben. Das Warten in Warteschleifen sollte verboten werden. Denn es gefährdet die Wartenden und ihre Umwelt!
Die Warteschleifen-Genervtheit, die fast jede/r teilen kann, zeigt: Das Warten ist beileibe noch nicht am Ende. Es hat nur andere Formen angenommen. Wenn es denn schon sein muss, dann soll schöner gewartet werden: im schick gestylten Wartebereich, statt wie vormals im tristen Wartesaal. Zudem soll das Warten wohl dadurch erträglicher gemacht werden, dass seine Dauer frühzeitig angekündigt werden. Viele Bahnreise können den Verspätungsalarm kaum erwarten. Die Bewertung wird’s zeigen! Damit kann man und frau sich ja wieder mal das Warten vertreiben. Tja, das Warten vertreiben, das wollen wir wohl. Warten, das ist für viele eine sinnlose Zeitform, eine Zeit ohne (selbstbestimmten) Inhalt, erzwungener Stillstand. Wir streben nach erfüllten und (immer weiter) „optimierten“ Zeiten, wollen die Erlebnisdichte pro Zeiteinheit erhöhen – und – nein, nein, nein! – bitte nicht, keinesfalls sinnfrei warten.
Es hat sich auch nicht das Warten als solches verändert (wie soll das auch sein?), sondern der Umgang damit. Das hat sicher auch was mit den gequälten Semantiken zu tun, die für das Warten gewählt werden. Im Radio ist beispielsweise seit einiger Zeit von sogenannten „Zeitverlusten“ die Rede. Eben erst hörte ich es wieder im Radio bei der Verkehrsdurchsage: „8 Kilometer Stau, Sie haben einen Zeitverlust von 40 Minuten.“ Immer wieder schrecke ich bei dieser Meldung zusammen. Nicht wegen der 40 Minuten, nein, wegen des Wortes „Zeitverlust“. Wie kann ich etwas verlieren, das ich gar nicht besitze, also Zeit? Anscheinend soll ich im Stau 40 Minuten meiner Zeit beim Warten „verlieren“. Von was, für was? Da gefällt mir die alternative Formulierung mancher Sprecher viel besser, wenn sie sagen: „8 Kilometer, 40 Minuten drauf!“ Da bekomme ich also was dazu! Erleide keinen Verlust beim Warten, sondern 40 Minuten oben drauf, geschenkt vielleicht. Fürs Verweilen, für eine Pause nach anstrengender Fahrt, für eine schöne Musik oder Hörbuch-Geschichte, um mal wieder mit den Kindern über dies und das zu quatschen auf dem Weg in den Urlaub. Für erfülltes Warten – für gewonnene Zeit, zu der ich überraschend gekommen bin und für die ich einen Sinn ge- oder erfunden habe.
Es ist eine Frage der Perspektive, wie wir Zeit erleben. Und das drückt sich in der Sprache aus. Sie bestimmt unseren zeitlichen Mindset. Zeit ist ein Medium, das es uns ermöglicht, uns und unsere Umwelt im Nacheinander zu erleben. Und dafür bekomme ich jetzt 40 Minuten mehr geschenkt. Das finde ich eine schöne Vorstellung. Also 40 Minuten drauf! Zeit läuft. Und damit ist jetzt wirklich mal „schöner Warten“ ist angesagt.
Wie illusionär eine solche zeitliebende Vorstellung ist, zeigt der zunehmend robustere Umgang mit erzwungenen Formen des Wartens. Wenn das diskreditierte und verbannte Warten doch mal (wieder!) vorkommt und gerade so gar nicht zu den eigenen zeitlichen Vorstellungen passen will, dann sind die Folgerungen daraus umso heftiger. Dann wird eben schon mal durch die Rettungsgasse gebrettert. Zumal sich Mann und Frau gelegentlich heftig erregen angesichts der Zumutung, im Stau warten zu müssen. Körperliche Erregungszustände haben einen starken Einfluss darauf, ob ein Moment als kurz oder lang erlebt wird. Die Zeit im unerquicklichen Stau wird also derart erregt länger erlebt als die Urzeit dies anzeigt.[1] Na dann mal Augen zu und durch. Schluss mit der Warterei!
Vielleicht ist das alles auch fake mit dem Ende der Warterei – das kann ja heutzutage sowieso keiner mehr wissen. Wie lange verbringen Sie mit Warten beim Hoch- und Runterfahren des PCs oder während der Installation von Updates, vor Sanduhren auf dem Bildschirm, mit Zeiten, die sich daraus ergeben, dass sie irgendwas gemacht haben, sie aber nicht auf dem Schirm hatten, dass es dazu noch dies und jenes braucht (wie Eingaben, Passwort, Zugangsdaten, Datenschutzerklärungshäkchen und diese Sachen eben). Es wird viel sinnfreie Zeit produziert durch Zeiten, die zusätzlich zur Qualität, zum Sinn derjenigen Zeit, um die es eigentlich gehen sollte, dazu kommen. Es gibt zusätzlich Zeit oben drauf auf die veranschlagte, auf die kalkulierte, die gewollte Zeit. Die Zeit, die dabei draufgeht, ist etwas anderes als das gemeine Warten. Gemeinsam mit diesem haben solche Zeiten, dass sie erzwungen, dass sie fremdbestimmt sind und dass sie vorher nicht bedacht waren. Das ist die Zumutung. Und dass ich etwas tun muss, was ich eigentlich gar nicht wollte (Kennwörter auswählen, vergessen und neue anfordern, Angaben machen, Newsletter (ab-) bestellen, Cookies auswählen, bestätigen usw.). Da ist mir das gute alte, das sinnlose Warten doch weitaus lieber. Denn diese Zeit kann ich „gewinnen“ – wenn es mir gelingt, sie so umzudeuten.
Schönes Warten! Denn ein Ende davon wird es nicht geben.
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[1] Am Forschungszentrum Jülich wird aktuell mittels VR-Technik dieser Zusammenhang und die Entstehung unseres individuellen Zeitgefühls untersucht. Vgl. https://fz-juelich.de/portal/DE/Presse/beitraege/2020/2020-01-13-virtualtimes/_node.html
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Falls Sie mal wieder warten müssen (oder wollen), dann können Sie die anstehende Zeit für kleine Lektüren in den „Zeitzeichen“, meinem neuen „ABC unserer Zeit“ nutzen. Und dem Warten damit etwas Sinn verleihen. Dort finden Sie Texte und Impulse für gute Zeiten, z.B. zu den Stichworten: Abschluss – Anfang – Augenblick – Auszeit – Beschleunigung- Chillen – Dauer – Eigenzeit – Eile – Endlichkeit – Entschleunigung – Ewigkeit – Fastenzeit – Gelassenheit – Hektik – Knappheit – Langeweile – Langsamkeit – Moment – Muße – Naturzeit – Pause – Qualitätszeit – Rasten – Rituale – Schnelligkeit – Sofortness – Sommerzeit – Stau – Takt – Rhythmus – Trödeln – Uhr – Unterbrechung – Urlaubszeit – Vergleichzeitigung – Warten – Weile – Wiederholung – Zeitfenster – Zeitfresser – Zeitmanagement – Zeitmangel – Zeitverlust – Zeitwohlstand – Zukunft – Zwischenzeit.
Gute Zeiten!
ZEITZEICHEN
Ein ABC unserer Zeit.
ISBN 978-3-7504-3216-1
€ 19,99 [D] incl. MwSt.
Erhältlich bei BoD: https://www.bod.de/buchshop/zeitzeichen-frank-michael-orthey-9783750432161
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