„Gelassenheit ist eine schwer erklärbare Form

von aktiver Passivität,

ist Oszillieren statt Agieren“

(Roswitha Königswieser)

Das, was wir mit der Zeit machen und das, was wir denken, dass sie mit uns macht bzw. was andere mittels Zeit mit uns machen, hat vor allem mit der eigenen Haltung zu tun. Der Haltung nicht nur der Zeit, sondern auch sich selbst, der Welt und dem, was sie so hervorbringt gegenüber. Eine Haltung zeitlicher Gelassenheit scheint angesagt. Aber wie?

Der Shruggie

SZ vom 31. Oktober 2015: „Ein grinsender Kopf, der rechts und links die Schultern hochzieht und halb rat-, halb teilnahmslos die angedeuteten Hände von sich streckt. Aus dem Englischen („to shrug“) leitet sich der Begriff ab, aus dem japanischen Katakana-Alphabet hat er die Schriftzeichen, aus dem Digitalen die Haltung, und überall auf der Welt wird er verstanden. Wo früher feste Wahrheiten und Regeln standen, zuckt der Shruggie nur fröhlich mit den Schultern. Er ist eine in elf Zeichen gegossene Frage, vor der die gesamte (digitale) Gesellschaft steht: Wie geht’s weiter? (…)

Mittlerweile hat er sich als Zeichen einer digitalen Grundhaltung etabliert, mit der Nutzer mit fröhlichem Schulterzucken auf größeren und kleineren Unbill des Alltags reagieren. Stets wahrt der Shruggie dabei eine optimistische Offenheit gegenüber der Welt. Er kennt keine Wahrheiten, sondern nur ein Schulterzucken. Dabei sind seine Arme so weit ausgebreitet, dass sie Raum für allerlei Interpretationen bieten – von agnostischer Distanz bis zu buddhistischer Gelassenheit. Die Digitalisierung hat aus dem „So macht man das“ ein „So probiere ich das“ gemacht.Zeitlich gelassene ZeitgenossInnen suchen nicht, sie finden. Das, was ihnen gerade geschieht oder um sie herum. Sie probieren dann dies und jenes aus und (er-) finden dabei neue Wirklichkeiten. Diese könnten aber immer auch ganz anders möglich sein. Das, was manch andere(n) verzweifeln lässt, ist ihnen klar. Sie nennen es Kontingenz, verweisen auf den Soziologen Niklas Luhmann (oder lassen es meistens) und bezeichnen damit das, was weder notwendig noch unmöglich ist, was also so, wie es ist (war, sein wird), sein kann, aber auch anders möglich ist. Sie bezeichnen mit „Kontingenz“ Gegebenes (zu Erfahrendes, Erwartetes, Gedachtes, Phantasiertes) im Hinblick auf sein mögliches Anderssein und bezeichnen es im Horizont möglicher Abwandlungen. Damit und dadurch sind sie offen. Sie breiten ihre Arme aus für die Welt und für das, was sie tagtäglich Neues anbietet. Auch wenn das widersprüchlich erscheint. Sie nehmen es mit einer gewissen Distanz und mit optimistischer Gelassenheit zur Kenntnis, sehr genau und sensitiv für feine Details. Wenn sie aus Köln kommen, dann sagen sie „Et kütt wie et kütt“. Wenn sie dem ZEN-Buddhismus zuneigen, sagen sie Sätze wie: „Die Wahrheit will wahrgenommen werden.“ Oder: „Sei, was Du bist.“ Oder: „Ob man das Leben lachend oder weinend verbringt, es ist dieselbe Zeitspanne.“ Es ist denen, die so denken, nicht völlig egal, was da so geschieht oder geschehen könnte um sie herum, aber sie zucken mit den Schultern und nehmen es nur so ernst, wie es gerade möglich ist und wie es sein muss. Für die restliche Überernsthaftigkeit haben sie dann noch ein weiteres (bedauerndes) Schulterzucken übrig. Das lassen sie sein, wie es ist. Mit einem gewissen Grundoptimismus. Diejenigen, die aus Köln kommen fügen insofern hinzu: „Et hät noch immer jot jejange.“ Mit dieser Melange aus Gelassenheit und Optimismus ausgestattet, haben solche Zeitgenossen Zeit für Anderes. Zum Beispiel für sich und für andere. Im Hier und Jetzt. Der ZEN-Buddhist steuert die passende Weisheit bei: „Laufe nicht der Vergangenheit nach und verliere dich nicht in der Zukunft. Die Vergangenheit ist nicht mehr. Die Zukunft ist noch nicht gekommen. Das Leben ist hier und jetzt.“

Zeitgenossen, die derart „ticken“, haben viel von dem, was Robert Musil (1978) in seinem Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ als „Möglichkeitssinn“ vom „Wirklichkeitssinn“ unterscheidet. „Wer ihn besitzt, sagt beispielsweise nicht: Hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muss geschehen; sondern er erfindet: Hier könnte, sollte oder müsste geschehen; und wenn man ihm von irgendetwas erklärt, dass es so sei, dann denkt er: Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein. So ließe sich Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ebenso gut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist.“ (Musil 1978, S. 16)

Derart gelassene Zeit-Geister, die in Zwischenräumen von Möglichkeiten denken, fördern diese am Möglichkeitssinn orientierte Form des Wirklichkeitssinns. Damit stehen sie im Einklang mit einer konstruktivistischen Sicht der Welt. Die Welt ist Konstruktion von Beobachtern und damit ist die jede Sicht der Welt abhängig vom Standort des Beobachters. Deshalb sieht die zeitliche Welt von jedem Beobachterstandort anders aus und wird von dort aus auch anders konstruiert (vgl. Teil eins). Es gibt also nur beobachterabhängige Ausschnitte der Welt. Auch zeitlich gesehen. Das kann gelassen machen, denn damit ist jegliche Vorstellung von Objektivität und Allgemeingültigkeit hinfällig. Das ist entlastend, denn es ist möglich, die Welt mal so und mal anders zu sehen, den Beobachterstandort, die Perspektive zu verändern und sich nicht mit aller Macht an eine einzige Sicht der Welt klammern zu müssen. Auch nicht an eine, die „zur Zeit“ gerade präferiert wird.

Die zeitlich derart Gelassenen kennen insofern ihre jeweiligen Beobachterstandpunkte, sprich ihre Glaubenssätze und Muster, die sie zu denjenigen ZeitgenossInnen machen, die sie sind. Das zeichnet sie aus. Ohne diese höchstpersönlichen Grundlagen und sich selbst tiefgründig zu psychologisieren oder gar zu pathologisieren, wissen sie mit fröhlichem Schulterzucken um die Grundlagen derjenigen Bilder, die sie sich von Zeit zu Zeit über ihre Zeit machen. Sie nehmen es – klar! – gelassen und gerade ernst genug, dass ihnen diese Erkenntnis nützlich werden und bleiben kann. Im Wissen darum, wie sie ticken, können sie ihren zeitlichen Möglichkeitssinn dadurch erweitern, dass sie ihre Beobachtungsperspektiven auf Zeit verändern, indem sie sich innerhalb der Zeitdimensionen des Pentagramms bewegen.

Sie sind beispielsweise angesichts des Wissens um ihren eigenen Perfektionismus, den sie in zeitlichen Druck in der Aufgabendimension ummünzen in der Lage, die Seite zu wechseln und in den Bereich des Blinden Flecks der Aufgabendimension von Zeit zu wechseln, also in den Schnittpunkt von Eigenzeit und Kulturzeit. Und dort neue zeitliche Möglichkeiten zu entdecken. Und von dort aus mögliche Zukünfte zu entwerfen – und eben nicht von dem Punkt aus, in dem sie ihre erworbenen und mitgeschleppten zeitlichen Muster zwangsweise (und oft: zwanghaft) ausleben (müssen).

Sie begeben sich zudem in die Zwischenräume der Zeitdimensionen, weil sie das Zeitmodell des Fünfecks nutzen, aber es auch nicht allzu starr und ernst nehmen. Sie wissen, dass es Zwischenräume der Dimensionen gibt, Ort und Zeiten, in denen diese sich überlappen und an und in denen unklar bleibt, worum es gerade primär geht. Wo sich Zeiten überschneiden, es nicht klar ist, welche Zeitdimension im Vordergrund steht – oder wo es vielleicht auch um gar nichts von alledem geht. Zum Beispiel in der Meditation oder im Rauschzustand. Sie sind auch dafür offen, sehen auch hier mehr Ressourcen als Probleme. Und probieren es mal aus. Den Rest – und das ist viel – lassen sie.

Sie folgen der ZEN-Weisheit: „Verbringe jeden Tag einige Zeit mit Dir selbst.“

Sein zu lassen, was ist und wie es ist in dem Wissen, dass es auch anders sein könnte, das ist wohl Gelassenheit. Insofern ist sie Ergebnis eines Oszillierens zwischen dem, was ist, und dem Wissen, was und wie es eben immer auch anders sein könnte. In diesem Zwischenraum entsteht Gelassenheit.

Gelassenheit stand früher für Gottergebenheit, heute für eine innere Ausgewogenheit und Ruhe. Und dafür, emotional Maß zu halten. Etwas zu spüren, es aber nicht über zu bewerten. Ihm (nur) denjenigen emotionalen Raum zu geben, den es braucht – und verdient. Nicht alles emotional zum hyperwichtigen Aufreger hoch zu pushen – und sich dann dabei zu verlieren. Es sein lassen zu können, wie es ist. Auch die Zweifel und auch mal die eigene Unentschiedenheit. Sich also auch selbst sein lassen zu können und sich mit allen Zweifeln in der eigenen Unentschiedenheit auszuhalten. Und es dann: doch zu probieren. Mit dem Optimismus versehen, dass es schon gutgehen wird. Oder jedenfalls könnte. Sonst: Gelassenes Schulterzucken und Neustart.

Wem das zu wenig ist, dem wird es schnell zu viel. Wer das will, der will es. Er entscheidet permanent und ist doch unentschieden in seiner Grundhaltung. Sie natürlich auch. Schulterzucken. Und: „Probieren wir es eben (trotzdem).“ Und dann schauen wir weiter.

Derart gelassen agierende Zeitarbeiter handeln orientiert an den Dimensionen des Fünfecks zielgerichtet in der Grundannahme, dass es keine „richtigen“ Entscheidungen gibt. Vielmehr gibt es für sie nur Möglichkeiten, Entscheidungen und Zukunft immer wieder neu zu bestimmen. Zirkulär. Deshalb finden derart gelassene ZeitgenossInnen Gefallen daran, Szenarien zu entwickeln und hierfür Entscheidungen im Probierstil zu entwerfen. Diese stellen sie unter Revisionsvorbehalt und richten sie an Lernmöglichkeiten für sich selbst aus. Und daran, dass sie mehr Wahlmöglichkeiten zugänglich machen als vernichten. (vgl. Luhmann 1991, N 3)

Was wird er – oder sie – in einer solchen Haltung im Fünfeck also tun?

Beobachten. Und dies sorgfältig und wohlwollend, ressourcen- nicht defizitorientiert. Sich selbst (zeitlich) beobachten – und sich seiner Gefühle und Bedürfnisse vergewissern.

Nichtverstehen als Verstehensform entdecken und daraus (zeitliche) Verstehensmöglichkeiten entwickeln. In Paradoxien denken, sie zulassen, in ihren Zwischenräumen Handlungsoptionen entwerfen ohne sie einzuebnen.

Handeln! Zielgerichtet, liebevoll sich selbst und anderen gegenüber, paradox, vorsichtig, spielerisch, im Probierstil und doch klar – und auf Überraschungen gefasst.

Und dies wieder beobachten usw. (vgl. Geißler/Orthey 1998, S. 270). Und das alles mit einem fröhlichen und gelassenen Shruggie-Schulterzucken, versteht sich.

Der Weg ist das Ziel für Shruggie-ZeitarbeiterInnen und auch dessen, was sie sich und anderen im zeitlichen Fünfeck und in dessen Zwischenräumen verfügbar halten. Sie haben keinen einheitlichen Ursprung und kein einheitliches Ziel, sie geben und nehmen sich in der gebotenen Vielfalt und Buntheit. Und wenn sie dies und sich nicht immer verstehen, dann denken sie sich: Wer alles versteht, bleibt hinter seinen Möglichkeiten. Und zucken fröhlich mit den Schultern und sagen sich: „So probiere ich das mal!“

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Für mehr zeitliche Gelassenheit:

Frank Michael Orthey: Zeitumstellung. Für einen guten Umgang mit der Zeit. Haufe-Lexware.

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Kategorien: Zeitforschung

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