Wie ein „Brennglas“ wirke sie – so lautete ein sprachlicher Dauerbrenner anfangs der Pandemie. Damit war verlegenheitshalber ein Begriff gefunden, um die Unfassbarkeit und Ambivalenz des emotionalen Geschehens zwischen Beschleunigung und Verlangsamung, zwischen Aggression und Depression, zwischen Risiko und Chance, zwischen Solidarität und Aufbegehren oder auch zwischen Gleichheit (der Bedrohung) und (sozialer) Ungleichheit zu bezeichnen. Dieses Brennglas zeigte das ein oder andere brennend, was sonst noch länger vor sich hin gekokelt hätte. Nun scheint die seit Beginn der Krise herbeigesehnte und -gerufene sogenannte Normalität ein Stück weit zurückzukehren. Offene Wirtshäuser, Urlaubspläne und das zurückkehrende Kulturleben lassen die im Brennglas erschienenen Einschränkungen und Leiden vergänglich erscheinen. Überhaupt: die Vergänglichkeit. Ihr gewahr werden ist es, das uns „würbe“ (ein Kunstwort aus wütend und mürbe) hat werden lassen. Das Brennglas hat uns schmerzlich auf der eigenen Haut spüren lassen, dass unser Sein ein vergängliches ist. Die täglichen Zahlen der an den Folgen der Erkrankung Verstorbenen, eigene Ängste vor Ansteckung oder um die Lieben sowie berufliche und private Krisenerfahrungen der Folgen der Pandemie haben uns erleben lassen, dass etwas auch vergehen kann, was wir sonst elegant in der Lage waren, (rational) zur Seite zu drängen. Es betraf uns (meist) nicht direkt – nur andere – und wir konnten uns der Illusion ergeben, dass es immerzu ohne Vergehen so weitergehen würde. Klar, war das eine (gut gepflegte) Illusion, denn natürlich ist bei genauem Hinsehen unübersehbar, dass dieses Leben endlich ist und Dinge und Entwicklungen irgendwann auch Vergangenheit werden. Aber egal, darüber kann ja im Dusel der Verliebtheit in die Fortsetzung der Gegenwart mit anderen Mitteln hinein in eine immer rosige Zukunft hinweggesehen werden. Dass Zukunft immer Vergangenheit braucht, Neues immer die Ablösung vom Alten, ja klar. Aber das war eher rational klar, nicht am eigenen Leibe erspürt. Und es war erst recht nicht mit Brennglaseffekt verstärkt. In den Krisenzeiten wurden wir emotional konfrontiert, wir wurden von Betroffenen zu Beteiligten, wurden unserer Zeit und deren Begrenztheit gewahr. Und spürten Vergänglichkeit – nicht zuletzt unsere eigene. Das tat weh – insbesondere wegen der Wirkungen des Brennglases, die durch die Haut unter dieselbe gingen. Dass sie das Vergängliche dergestalt spürten, machte vielen Menschen Angst, sie gerieten in depressive Stimmungslagen – waren günstigstenfalls leicht reizbar und „dünnhäutig“. Und konnten die anderen Seiten der erzwungenen Einschränkungen, die neuen Chancen und Möglichkeiten kaum sehen – geschweige denn genießen. Ehedem hatten wir bestimmte Erwartungen auf Dauer gestellt, zum Beispiel die Erwartung nach wirtschaftlichem Wachstum, nach einem andauernden Leben und Feiern in Saus und Braus, nach immerzu möglichen günstigen Urlaubsreisen rund um die Welt – und alle diese Sachen eben, die wir uns dauernd als immerzu andauernd eingeredet hatten. Wenn „etwas auf Dauer gestellt“ wird, dann wird ihm eine Dauerhaftigkeit zugesprochen. Und das bedeutet: es bekommt eine Zukunft. Durch Dauer soll die Zukunft gezwungen werden, der Gegenwart in bestimmter Weise zu folgen. Das war der „Dauerauftrag“. Diese Dauer wurde durch Covid 19 gestoppt – in nahezu allen Lebens- und Arbeitsbereichen. Dauer bedeutet Verlässlichkeit. Ohne die Annahme und das Erleben von Dauer droht der Verlust von Qualität und Sinn. Statt wohlig aufgehoben durch die andauernden Zeiten unserer bestens ausstaffierten Komfortzonen zu taumeln oder zu hetzen, wurden wir gestoppt, wurden unserer Illusionen nach dem Immer-Weiter-So beraubt. Diese Illusionen waren zudem nicht ganz uneigennützig von politischen und wirtschaftlichen Systemen gefördert worden. Derart ausgebremst, bekamen wir es mit Anmutungen der Vergänglichkeit zu tun. Da half auch die philosophische Erkenntnis kaum, dass alles (neue) Werden auch Vergehen des Gewordenen braucht. Auch das von Religionen klassischerweise in den Ring geworfene Konzept der Ewigkeit, das den zur Vergänglichkeit verdammten Mut und Hoffnung geben soll, half nur wenigen (es ist ja auch gerade nicht die Zeit, in der den Kirchen die Türen eingerannt werden). Außer, dass sich manche Zeit, in die wir gezwungen wurden, anfühlte, als würde sie sich „ewig“ dahinziehen. Diese gewonnene (Eigen-) Zeit zum (Nach-) Denken nutzen, verschlimmerte für manche und manchen das Problem eher: Mehr Zeit, sich der eigenen Vergänglichkeit zu vergewissern. Kompensatorischer Aktionismus setzte auf Aktion statt Reflexion und hatte bei vielen was mit Fitness-Apps und bei anderen was mit Appetit und anderen Genusssüchten zu tun. Anderentags war’s manchmal noch schlimmer, denn jetzt machte sich die Vergänglichkeit auch in Muskel-, Bauch- oder Kopfschmerzen bemerkbar. Das führte dazu, sich noch mehr der Begrenztheit der eigenen Zeit bewusst zu werden. Dies Bewusstsein war ehedem im Dauerstrudel von Beschleunigung und Vergleichzeitigung ruhiggestellt gewesen – keine Zeit für die eigene Zeit. Nun war sie erzwungen – und notwendigerweise damit verbunden war die emotionale Einsicht in deren Begrenztheit. Die Verdrängung wurde verdrängt, die Vergänglichkeit erblickte das Licht der Erkenntnis. Hell und schmerzlich wegen des Brennglases. Aus diesem Schmerz Erkenntnis zu gewinnen, würde bedeuten, zeitliche Realitäten – auch das der Vergänglichkeit – anzunehmen und sich die Freiheit zu nehmen, sie zu gestalten. Für sich selbst – und für andere. Das macht mehr Sinn als der Illusion des Immer-Weiter-So zu huldigen und dann irgendwann schockiert dem Ende Aug-in-Aug gegenüberzustehen. Die Vergänglichkeit alles Seienden zu akzeptieren, bedeutet das Gegenwärtige, den Moment, den Augenblick zu genießen. Dass der dann alltagssprachlich zum „unvergänglichen Augenblick“ gemacht wird, spricht dafür, augenblicklich die Vergänglichkeit zu begrüßen, um das Sein im Hier- und Jetzt bewusst erleben zu können. Manche nennen das Freiheit. Diese Freiheit entsteht erst dadurch, dass sie durch Begrenzungen – auch durch diejenige der Vergänglichkeit – einen klaren Rahmen hat. Seien Sie so frei, begrüßen Sie freundlich die Vergänglichkeit – und genießen Sie das Jetzt. Die Verlockungen des beginnenden Sommers bieten dafür gute Gelegenheiten. Es sind nicht diejenigen aktivistischer Urlaubs- und Schnellerholungshektik, sondern diejenigen des Verharrens am See oder des Verweilens in der Ruhe der Natur. Das haben wir uns jetzt verdient. Der Vergänglichkeitserfahrung sei Dank, können wir es jetzt auch besser oder anders genießen. Wir konnten durch die Brennglaserfahrung das Hamsterrad stoppen und unsere Zeit wiedergewinnen, uns Deutungs- und Gestaltungsmöglichkeiten über unsere Zeit wieder aneignen. Das jedenfalls ist die optimistische Hoffnung: dass die Vergänglichkeitserfahrung zur „Wiederaneignung der Zeit“ führt.
Jetzt scheinen endlich auch die Krise und ihre Folgen vergänglich – offenbar sind auch sie vorüber- und vorbeigehend. In diesem Sinne hat Vergänglichkeit auch eine hoffnungsvolle Seite, die die Zukunft ohne etwas zeigt. Ohne Pandemie, ohne die vielfältigen Belastungen und Zumutungen ihrer Folgen. Aber eben auch ohne viele Opfer, die zu beklagen sind. Die Vergänglichkeit zeigt, dass etwas fehlt, aber sie zeigt auch etwas Neues.
Begegnen Sie insofern der Vergänglichkeit mit freundlichem Respekt und würdigen Sie ihre hoffnungsvolle Seite.
Gute Zeiten.
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