Wir leben in unruhigen Zeiten, so der – sinngemäße – Tenor ungezählter Zeitdiagnosen. Angesichts einer stark verkürzten Adventszeit machte sich die Unruhe wohl umso breiter bei manchen Zeitgenoss:innen, fand nach hoffentlich ermutigenden Erfahrungen mit der Ruhe „zwischen den Jahren“ in der gestrigen Silvesternacht einen unruhigen, für manche/n einen beunruhigenden Höhepunkt. Dieser zeigte womöglich die Ressourcenseite allerhöchster Unruhe, die auch den Himmel und die Gesichter derer, die ihn anschauen, zum Strahlen bringen kann. Für manche/n ist die strahlende und krachende Unruhe der Silvesternacht die äußere Kristallisation einer eingekehrten inneren Ruhe. Sicher, manche nervt die Knallerei – von Umweltaspekten und anderen Schattenseiten ganz zu schweigen. Der angedeuteten These aus der Silvesternacht folgend, ermöglicht die innere Ruhe den Genuss äußerer Unruhe(n). Bei manchen – wie mir – ist von Genuss wenig zu spüren, aber die Ruhe der vergangenen Tage erleichtert jedenfalls das Ertragen der Silvesterknallerei. Das würden nicht wenige Menschen sich ja auch fürs neue Jahr wünschen: Die unruhigen Zeiten aus einer inneren Ruhe heraus wahrnehmen, ertragen und – wo möglich – auch: genießen zu können. Sich also an dem zu erfreuen, was die Unruhe auch an positiven (Neben-) Wirkungen erzeugt und ermöglicht. Angesichts der überbordenden Krisengemengelagen aus Kriegen und Umweltverwerfungen sind dies beispielsweise neue Formen der Solidarität, ehrenamtliche Engagements, interessante Diskurse mit neuen Qualitäten oder die Freude an den Schönheiten des Kleinen, des Unscheinbaren. Statt sich mitreisen zu lassen von den ständig befeuerten Aussichtslosigkeiten der Kollapsologien und dann in blinder Hektik selbst zum Opfer der Unruhe zu werden, lieber dem früher gelegentlich für Krisenfälle verordneten Ratschlag folgen: Ruhe bewahren!

Für viele heißt das heute zuallererst: die Ruhe wiederfinden. Was wir da als Ruhe oder Unruhe wahrnehmen, das ist abhängig von uns als Beobachtenden. Was die einen beruhigt, treibt die anderen in beunruhigenden Wahnsinn. Möglicherweise ist die derzeitige Zeit „zwischen den Jahren“ geeignet, die eigene Ruhe wiederzuentdecken. Ich meine das im Sinne einer Stimmigkeit von Ich, Wir und Kontext. Gemeint ist eine innere, emotionale und rationale Ruhe in stimmigen Begegnungen mit anderen ohne Stress und Hektik in unaufgeregtem, geschütztem Rahmen. Dies gelingt, wenn wir unseren Bedürfnissen folgen. Eine zusätzliche Zutat, damit das mit der Ruhe wirklich klappen kann: Verzicht oder auch Schutz vor Ablenkungen. Denn Ruhe bedeutet die Abwesenheit von Störungen. Dann kann so etwas entstehen wie unabgelenkte Aufmerksamkeit: bezogen auf mich selbst, auf andere Menschen und das Hier-und-Jetzt des jeweiligen Kontextes, sei es nun bei Familientreffen, der Silvesterparty oder beim Neujahrskonzert oder -spaziergang. „Ruhe“ ist beobachter:innenabhängig. Auf die eine wirkt etwas so und auf den anderen anders. Zur Ruhe kommen bedeutet insofern immer und zuallererst: sich in Ruhe auf Ruhe hin beobachten zu können. Wenn mir das gelingt, kehrt wirklich Ruhe ein. Das ist dann meine eigene Wirklichkeit, die ich da als Ruhe beobachten und in Ruhe gestalten kann.

Ruhe, das ist mehr als Innehalten. Es ist eher ein Zustand des Innewerdens. Innezuhalten – zum Beispiel in einer wünschenswerterweise ruhigen „Zeit zwischen den Jahren“ – kann den Bewusstseinszustand der Ruhe als auf Dauer gestellten Innewerdens befördern. Sich seiner selbst innewerden, führt bestenfalls dazu, sich ruhig, in Ruhe beobachten zu können. Manchmal ist es still, aber nicht immer und nicht notwendigerweise. Es gibt Menschen, die oft dafür bewundert werden, dass sie nichts aus der Ruhe bringen kann. Auch wenn die Welt um sie herum lautstark und lauthals zusammenbricht. Ihnen ist es gelungen, Ruhe als Haltung zu verinnerlichen, indem sie in der Lage sind, sich auch unter widrigsten Unruhebedingungen auf Ruhe hin zu beobachten. Derart auf Ruhe gesetzt, bestehen sie jeden Stresstest. Anderenorts in diesem Blog habe ich in diesem Sinne von Gelassenheit geschrieben: „Sein zu lassen, was ist und wie es ist, in dem Wissen, dass es auch anders sein könnte, das ist wohl Gelassenheit. Insofern ist sie Ergebnis eines Oszillierens zwischen dem, was ist, und dem Wissen, was und wie es eben immer auch anders sein könnte. In diesem Zwischenraum entsteht Gelassenheit. Gelassenheit stand früher für Gottergebenheit, heute für eine innere Ausgewogenheit und Ruhe. Und dafür, emotional Maß zu halten. Etwas zu spüren, es aber nicht über zu bewerten. Ihm (nur) denjenigen emotionalen Raum zu geben, den es braucht – und verdient. Nicht alles emotional zum hyperwichtigen Aufreger hochzupushen – und sich dann dabei zu verlieren. Es sein lassen zu können, wie es ist. Auch die Zweifel und auch mal die eigene Unentschiedenheit. Sich also auch selbst sein lassen zu können und sich mit allen Zweifeln in der eigenen Unentschiedenheit auszuhalten.“ Passende Worte, um zur Ruhe zu kommen – und um in ihr zu bleiben. Auch eine gute Gelegenheit zum (neuen) Nachdenken: In Ruhe, versteht sich.

Deshalb mein Neujahrswunsch: Kommen Sie zur Ruhe. Dann sind die unruhigen Zeiten besser zu ertragen – und zu gestalten. Denn Unruhe – und davon gibt’s ja gerade genug – braucht Ruhe. Manchmal ist es auch die Ruhe vor dem Sturm. Und auch die hat eine nahezu andächtige Momenthaftigkeit, in der sich die Energie sammelt, die es dann braucht.

Solche Ruhe wünsche ich Ihnen im Jahr 2024.

Gute Zeiten.

 

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Kategorien: Zeitforschung

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