„Störungen haben Vorrang.“ Diesen klassischen Satz des pädagogischen Modells der Themenzentrierten Interaktion nach Ruth Cohn habe ich in den vergangenen Wochen und Monaten oft gesagt, genutzt und hin und her gewendet. Ja, denn wie sehr Störungen Vorrang haben, das ließ uns die Corona-Krise deutlich spüren. Wenn wir den Störungen diesen Vorrang nicht geben, dann nehmen sie sich ihn selbst. Diese Bedeutung wurde mir sehr eindrücklich im „Schockraum“ des Klinikums Agatharied klar, wo ich mich vor nunmehr dreieinhalb Wochen statt in einem oberbayerischen Seminarraum wiederfand. Eingeliefert mit Verdacht auf Infarkt. Das war mal wirklich eine Störung, die es in sich hatte. Das zeichnet Störungen aus: sie haben es in sich. Im geschilderten Fall war das nach eingehender Durchsicht des derart gestört daherkommenden nichts erkennbar Körperliches. Das Herz wirkte zuverlässig und störungsfrei, flatterte halt gelegentlich. Ob sich da eine Störung anbahnt? Und wenn ja, welche?

Jedenfalls hatte sich die Störung Vorrang genommen – und brachte einiges zu Tage, was sie in sich hatte. Wie es auch der Corona-Krise als groß angelegter Störung nachgesagt wird. Die wirkt ja für manche als „großer Aufdecker“, zeigt also etwas, das sonst unsichtbar geblieben wäre. Jetzt: aufgedeckt! Um schnell wieder zudeckt zu werden? Damit die sogenannte „neue Normalität“ greifen kann? Das wäre ein gestörter, nichtsdestoweniger ein gerne genommener Umgang mit der Störung.

Erst mal also bei sich selbst nachschauen, dachte ich mir. Und begann wie ein Gestörter zu suchen, was der derart Irritierte zum Thema „Störung“ bisher so von sich gegeben hatte …

In der Habilitationsschrift „betriebe – lernen – systeme“ (Orthey 2006) fand ich auf Seite 685 diese Passage:

„Die Irritation arrangiert die Störung der Autopoiesis – gedacht als Tiefenstruktur der Selbststeuerung des Systems – insofern, als dass sie einen veränderungsrelevanten Impuls für das Weiterprozessieren setzt. Insofern ist der Begriff der „Störung“ „keinesfalls negativ bewertet, sondern bezeichnet alle potenziellen oder tatsächlichen Einflüsse auf ein autopoietisches System, die nicht zu seiner Zerstörung führen“ (Woltmann 1991, S. 82). Störungen sind insofern eine Selbstverständlichkeit des Lebens und vor allem: des Überlebens.[1] Störungen halten Systeme dynamisch instabil in ihrer Reproduktionsdynamik. Gestört-zu-werden via Irritation kann damit zu einem „Überlebenstraining“ werden, insofern Prozesse struktureller Veränderung angeregt werden, die zur Optimierung von system- und umweltadäquater Reproduktions- und Anpassungsfähigkeit führen.“[2]

So schrieb der Schlaumeier damals etwas abstrakt. Nun also live und in echt – Überlebenstraining!?

Das gibt denn doch zu denken, auch wenn die Pumpe brav weiterpumpt. Aber was will sie denn derart flattrig geworden mitteilen fürs weitere Überleben? Große Fragen mit kleinmütigen Antworten kommen um die Ecke gebogen. Tendenz: Erst mal halblang machen, sich neu sortieren, tja, wieder mal zu viel gearbeitet, altbekanntes Muster, mehr oder weniger ist wohl doch weniger mehr, Verlangsamung, Nachdenken. Undsoweiter. Hoffentlich hilft’s. Der nächste Schock ist womöglich ernster. Störungen legen bisweilen nach, wenn sie nicht oder nur schlaumeierisch reflektierend gehört und gesehen werden – dann nehmen sie sich erst recht Vorrang.

Das mit der genannten (und aktuell auch verwirklichten) Verlangsamung hatte ich mir schon 1997 so zurechtgebastelt:

„Eine „Störung“ – als funktional wichtige Irritation – ist auf der Zeitachse verlangsamend und beschleunigend zugleich, produktiv und unproduktiv, destabilisierend und stabilisierend – sie bringt das System ins Oszillieren, sie eröffnet neue Anschlussfähigkeiten und –notwendigkeiten. Durch Störungen und ihre Beobachtung kann viel über das System in Erfahrung gebracht werden. Und die Störung ist der Anlass und meistens gleichzeitig der Zwang, sich eingehend der Konstitution des Systems zu widmen, sich also mit dem System selbst bzw. auch mit „sich selbst“ zu beschäftigen. Was das bedeutet und was man daraus lernen kann, erkennen wir an Alltagserfahrungen: die Krankheit zwingt uns zur Beschäftigung mit der eigenen körperlichen und gesundheitlichen Konstitution und bei der Fehlersuche an der defekten Waschmaschine lernen wir, wie diese funktioniert. Wenn man der Annahme folgt, dass sich in Störungen die gesamte Funktionslogik von Systemen quasi negativ kristallisiert, bedeutet dies „gewendet“ die Möglichkeit, aufgrund der Beobachtung von Störungen etwas über die Verfasstheit von Systemen lernen zu können. (…) Es geht darum, durch die Irritation den eigenen Unterscheidungen auf die Schliche zu kommen, sich ihrer blinden Flecke zu vergewissern und neue Unterscheidungen wählen zu können, um Wirklichkeit anders sehen, deuten oder gestalten zu können.“[3]

Damit ist ja alles geklärt – auch hier ziemlich schwülstig akademisch allerdings (und damit emotional distanziert – was ist denn da gestört?). Informationen sollte ich also über meine Konstitution erhalten durch diese Störung und daraus was lernen. Ja, aber mit Bezug worauf denn eigentlich? Das, was Störung „ist“, ist eine Frage der Referenz. Was wird vom wem mit Bezug auf was als „Störung“ beobachtet? Nicht jeder Furz ist eine Störung, die die Funktionsfähigkeit der Welt betrifft. Na ja, wenn allerdings Herr T. aus den USA ihn in einem bestimmten Kontext ablässt, dann kann auch das schon mal sein. Also: Störung mit Bezug auf was? Auf die Welt, die Gesellschaft, die körperliche Gesundheit, die Psyche, die Leistungsfähigkeit, die Wirtschaft?

Diese Fragen können schonmal verstörend wirken. Die Antworten können sich verändern, die Referenzbezüge der Beobachter sich verschieben. Wer denkt angesichts der lautstark plärrenden Wirtschaftskrisler heute noch an die italienischen Militär-LKW, die Särge wegbrachten. Da zeigte sich etwas an der Störung, das schwer zu ertragen war in der Konsequenz: eine Störung im Gesundheitssystem, das der Pandemie nicht gewachsen war. Da ist das Klagen über die wirtschaftlichen Folgen doch leichter zu ertragen. Ähnlich wie es angenehmer ist, einen Blogbeitrag über Störungen zu schreiben, statt (mal wieder) zu erforschen, welche persönlichen Muster denn in den Schockraum im Klinikum geführt haben.

Umso wichtiger ist es.

Denn Störungen sind – so Heinz Kersting[4] – „Störungen unbrauchbarer Wirklichkeiten“. Welche „unbrauchbare Wirklichkeit“ wurde denn gestört – bei mir/durch Corona?

Das macht es denn auch interessant und nützlich, sich diesen unangenehmen, störenden und verstörenden Fragen zu stellen: Wenn es gelingt, die Situationen im Schockraum oder im Rahmen der Corona-Krise so zu verarbeiten, dass das Spektrum „brauchbarer Wirklichkeiten“ größer wird, dann, ja dann, hatte die Störung, dann hatte die dadurch ausgelöste Krise einen systemischen Nutzen. Ehedem hatte ich das, was folgt, (wiederum leicht geschwollen 😉 so formuliert: „Diese (Krisen, Erg. F.M.O.) erfordern es, via Lernen den Systemzustand so durchzuarbeiten, dass durch reframing neue Sinn-, Wissens- und Deutungs- und Verhaltensbestände generiert werden können, die für das jeweilige System dem Kriterium der Viabilität genügen, also brauchbar, praktisch, nützlich und hilfreich sind.“ (Orthey 2006, S. 686)

Das ist doch mal eine brauchbare Aussicht. Oder?

Sie wird heute nicht gerade präferiert, denn die Störung stört das, was wir gerne „Normalität“ nennen – oder die schönen Bildchen, die wir uns in sozialen Netzwerken gegenseitig in die Augen hauen, damit der schöne Schein bestehen bleiben darf. Störungen sind ziemlich uncool heute. Liberalismus und ungehemmter Hyperkapitalismus brauchen eine freie Bahn, um das immerwährend heraufbeschworene Wachstum weiter zu entfalten. Da werden Störungen gerne übersehen, kleingeredet, umgedeutet oder gänzlich verleugnet. Womöglich wird deshalb auch in einer (wenig) überraschend affenartigen Geschwindigkeit schnell so getan, als wären wir durch. Mit der Corona-Krise und all den Störungen, die uns das beschert hat. Es soll halt wieder schick aussehen – als wäre nichts gewesen. Das ist zwar illusionär, aber auch Illusionen haben ja einen Nutzen für diejenigen, die ihnen allzu gerne folgen. „Alles gut?“ Diese heute oft gestellte Frage (ist es eine?) lässt nur eine Antwort zu. Als ich es wagte, auf diese Standarderöffnungsfrage rumdrucksend und -stammelnd mit wirren Berichten über Hinterwandinfarkte und dergleichen zu fabulieren, erntete ich oft verstörtes Schweigen. Es ist eher unüblich, heute Störungen zu thematisieren. Leichter ist es, so zu tun, als gäbe es sie nicht. Das ist schade und tragisch angesichts der Wachstums- und Entwicklungsmöglichkeiten, die eine gut und gerne durchgearbeitete Störung in sich trägt. Sicher ist allerdings, dass eine ignorierte, verdrängte und geschmähte Störung sich ihren Vorrang schon zurückholen wird.

Der „Schockraum“ des Klinikums, in den ich eingeliefert wurde, ist ein Raum, der ausschließlich für Störungen da ist, meistens für ziemlich existenzielle, wenn die Referenz „Leben“ heißt. Dort arbeiten Profis für Störungen – und selbst sie benutzen Checklisten und Merktafeln, die es offenbar angesichts der Gewaltigkeit der Störungen, mit denen sie konfrontiert sind, gelegentlich braucht. Der (gottlob nur) leicht gestört eingelieferte Chronist liest interessiert mit, unter anderem sind auf der Merktafel „Crisis Ressource Management“ Sätze wie diese notiert:

  • Habe Zweifel und überprüfe genau.
  • Evaluiere die Situation immer wieder neu.
  • Lenke Deine Aufmerksamkeit überlegt.
  • Setze Prioritäten dynamisch.

In diesem Sinne scheint die Störung – nicht nur die im Schockraum und danach, sondern auch diejenige in der Corona-Krise – als ein wertvoller Zeitverlust, um zu erkennen, wer wir (wirklich) sind und künftig sein können und wollen.

Und jetzt ist erst mal eine Reparatur dran.

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[1] Im Lern- und Leitungsmodell der Themenzentrierten Interaktion nach Ruth Cohn spielt das Störungspostulat eine zentrale Rolle. Differenzierte Beiträge zu einem differenzierten Verständnis des Störungspostulates in Gruppen – im Sinne von: „eine Störung ist Teil des Prozesses!“ – finden sich im Band „Störung als Beitrag zum Gruppengeschehen“ von Eike Rubner. Rubner, Eike (Hg.): Störung als Beitrag zum Gruppengeschehen. Zum Verständnis des Störungspostulats der TZI in Gruppen. Mainz 1992

[2] Orthey, F.M.: betriebe – lernen – systeme. Wie Unternehmen sich durch Lernen verändern. Beobachtungen und Perspektiven zwischen Theorie und Praxis. Veröffentlicht unter: http://bieson.ub.uni-bielefeld.de/frontdoor.php?source_opus=859, 12.06.2006, S. 685. Zitiert wird hier im Zitat: Woltmann, B.: Planen, Autopoiese und Sozialpädagogik – Ausführungen zu einer Epistemologie didaktischer Wirklichkeitskonstruktionen. In: Bardmann, Th. M./Kersting, H. J./Vogel, H.-Chr./Woltmann, B.: Irritation als Plan – Konstruktivistische Einredungen. Aachen 1991, S. 64 – 107

[3] Orthey, F.M.: Zeit der Modernisierung. Zugänge einer Modernisierungstheorie beruflicher Bildung. Mit CD-ROM. Hirzel Verlag, Stuttgart 1999, CD: Systemzeiten und Störungen.doc

[4] Kersting, H .J.: Intervention – die Störung unbrauchbarer Wirklichkeiten. In: Bardmann, Th. M./Kersting, H. J./Vogel, H.-Chr./Woltmann, B.: Irritation als Plan – Konstruktivistische Einredungen. Aachen 1991, S. 108 – 133


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