Anfang März des vergangenen Jahres bin ich der Verführung erlegen, die aktuellen Agilitätseinredungen mit dem von mir entwickelten Konzept systemischer Führung zu verbinden.

Diese Koppelung gelingt über die Gemeinsamkeit der Lebendigkeitsannahme als Anpassungsressource für Systeme an komplexe und herausfordernde Umweltbedingungen. Brauchbar und nützlich wird systemische Führung für den Anspruch, Systeme agil, beweglich, lebendig und lebhaft zu gestalten und zu halten. „Elegant im Fünfeck tanzen“ – das wäre metaphorisch dicht dran am Gemeinten. Sofern das kein wildes und beliebiges Rumgehopse ist, sondern ein bewusstes taktvolles und rhythmisches Tanzen, hat es deutlich mehr Charme als das nun zu Jahresbeginn bei vielen Führungsmenschen wieder gefürchtete, von Hetze und Fremdbestimmung getriebene „im Dreieck Springen“. Dann doch lieber pentAgil im Fünfeck tanzen.[1]

Aber wie?

Das von ORTHEYs 2013 entwickelte systemische Führungsfünfeck (Orthey 2013) bietet Führungskräften eine einfache „pentagrammatische“ Struktur, um Leadershipprozesse zu planen, zu gestalten und zu reflektieren. Das Modell basiert auf systemischen Grundannahmen wie Beobachterabhängigkeit von Wirklichkeit, Autopoiesis, Nicht-Trivialität von Interventionen in komplexe Systeme. Zirkuläre Erklärungen, Relationen, Vernetzungen, die Nutzung systemeigener Komplexität als Ressource, die Arbeit an und mit Kommunikationscodes und der Sinnfrage ersetzen eindimensionaler Ursache-Wirkung-Erklärungen und – immer noch gerne genommene, nichtsdestoweniger illusionäre – Machbarkeitshoffnungen. So gedachtes „Systemdenken“ macht und hält Leadership immer in Bewegung, lebendig und lebhaft. Führungsinterventionen sind zielgerichtete Kommunikationen, die Kräfte in Bewegung bringen: unter bestimmten Umwelt- und Kontextbedingung – markiert durch den Kreis um das Fünfeck – Kräfte bei Personen, in Beziehungen und bezogen auf Aufgaben, Organisation und Kultur. Das sind die Dimensionen, die die Seiten des Fünfecks markieren – und für die wir in ihrem Zusammenwirken viele unterschiedliche Anwendungen formuliert haben, von einer „Stilkunde“ für Führung über einen Führungskreislauf bis hin zu konkreten Führungsinstrumenten und dem für viele Führungskräfte oft prekären Thema „Führung und Zeit“ (vgl. Orthey 2013).

Griund

Dieses Grundmodell bietet eine systemische Führungspentagrammatik an, die es ermöglicht, Leadership in fünf Dimensionen beweglich zu gestalten. „Pentagrammatische Führung“ ist eine Sinnstruktur für „agile“, für lebendige Führungskonversationen. Sie bietet der Führungskraft unterschiedliche Beobachtungsmöglichkeiten auf diejenigen Wirklichkeiten, die sie zu sehen bekommt. Und sie bietet einen Rahmen zur Konzeption und Umsetzung der zielgerichteten Interventionen. Die Erweiterung des Möglichkeitssinns ist die zentrale Perspektive von Leadership im Pentagramm. Pentagrammatisch agierende Führungskräfte handeln orientiert an den Dimensionen des Fünfecks zielgerichtet in der Grundannahme, dass es keine „richtigen“ Entscheidungen zu treffen gilt, sondern Möglichkeiten, Szenarien zu entwickeln und hierfür Entscheidungen im Probierstil zu entwerfen. Die stellen sie unter Revisionsvorbehalt und richten sie an Lernmöglichkeiten für das intervenierte System aus. Und daran, dass sie mehr Wahlmöglichkeiten zugänglich machen als vernichten. All dies tun sie getragen vom Vertrauen in die Selbststeuerungspotenziale von Personen, Teams, Projekten und Organisationen, von echtem Interesse an den beteiligten Systemen und mit viel Achtsamkeit und Sensibilität, in aller Bescheidenheit, aber auch mit der nötigen inneren und äußeren Klarheit. Das ist die Haltung. Entscheidend für die Selbstwirksamkeit der Führungskraft ist die Stimmigkeit und Passung dieser Möglichkeiten zur eigenen Person. Passe „ich“ zu den Möglichkeiten, die es in den fünf Dimensionen für mich gibt?

Wenn das stimmig gemacht werden kann, ist so gedachte und gestaltet Führung eine Motor und gleichzeitig ein Rahmen für das, was heute mit Agilität bezeichnet wird. Das ist zwar nicht wirklich neu, aber immer noch schwer an- (und manchmal auch zu oft) gesagt. Wenn der Untergrund, auf dem sich Menschen, Beziehungen, Kulturen, Organisationen und Gesellschaften bewegen und entwickeln, rutschig und glitschig geworden ist, wenn er in Bewegung ist, keinen rechten Halt mehr bieten mag, dann, ja, was dann? Dann ist hohe Beweglichkeit, Balancierfähigkeit, Anpassung an Überraschungen und Instabilitäten gefragt. Ebenso wie ein auch mal angemessenes Verharren und Innehalten. Mal so, mal so. Unkalkulierbar wie die Umwelt eben auch. Rezepte gibt es dafür nicht. Wäre ja auch paradox, agile Unkalkulierbarkeit kalkulierbar machen zu wollen. Nichtsdestoweniger ist so gedachte Führung zielgerichtet konzipiert und umgesetzt. Mit vielen iterativen Rückkoppelungen und Feedbackschleifen. Insofern gibt es natürlich bei aller Unkalkulierbarkeit ein Kalkül, das ist eine Logik. Eine so gedachte „agile“ Dynamik entsteht von der Möglichkeitsseite her, nicht mehr primär aus moralischen Sinnhorizonten oder Wertvorstellungen heraus. Vieles, was da passiert, das geht, weil es geht. Weil es möglich ist. Nicht, weil es „vernünftig“ ist – oder Sinn macht. Der kommt dann schon – und manchmal auch nicht. Dann sind die Führungskräfte um einen Lernanlass reicher. Den Rahmen dafür schafft eine pentAgile Form von Leadership. Und ist damit einerseits sehr klar und andererseits immer auch eine Irritation, die Kräfte in Bewegung bringt und hält. Mehr geht nicht.

Was rechtfertigt oder erfordert es, Leadership dergestalt pentAgil zu denken?

Im Fünfeck gedacht sind es folgende Bedingungen, mit denen sich Führung zu beschäftigen hat:

Umwelt: Es ist vor allem die VUKA-Welt, die von Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität geprägt ist. Die wirft immer wieder neue Fragen nach der Passung des Systems zu den Anforderungen der Umwelt auf. Diese Passung betrifft – wiederum in den fünf Dimensionen gedacht –

  • Personen mit ihren Kompetenzen, Mustern und Haltungen,
  • sie betrifft Beziehungen in ihrer Arbeitsfähigkeit, ihrer Produktivität, in ihrer Konflikt- und Krisenfähigkeit, ihrer Belastbarkeit und Leichtigkeit,
  • sie betrifft Aufgaben in ihrer Aktualität und Flexibilität bezogen auf Produkte und Dienstleistungen und deren Halbwertszeiten, Innovationspotenziale und „Marktfähigkeit“,
  • sie betrifft Organisation bezogen auf ihre Designs, Formen und flexiblen Anpassungsressourcen,
  • sie betrifft die Kultur, z.B. bezogen auf die Fähigkeit, mit Vielfalt und Unterschiedlichkeit umzugehen und diese produktiv zu machen oder im Hinblick darauf, eine ressourcenorientierte Fehlerkultur zu ermöglichen.

Das und vieles mehr kennzeichnet die Umwelt – nebst Bilder- und Wissensfluten, radikaler Ökonomisierung, mächtiger Algorithmen, ökologischer Kippszenarien, der Zunahme von globalen und digitalen Risiken, Gewaltexzessen und anderer Entgrenzungen, derer es täglich mehr werden. Gestern nicht erwartet, heute von gestern und morgen noch immer unfassbar. Aber dann haben wir schon ein anderes „heute“, das Systeme in ihrer Anpassungsfähigkeit heraus- und manchmal auch überfordert.

Umkippeffekt: Kollabieren durch enthemmte Modernisierung und ihre Folgen. Anpassungsillusionen im System, übereilte Reaktionen, Übersteuerungen.

Person: In dieser Dimension sind es vor allem Selbstverwirklichungsansprüche, die Bedürfnisse nach Klarheit und zugleich Freiräumen, nach Grenzen und Flexibilität gleichzeitig. Es ist die Verschmelzung von Arbeiten und Leben, es sind Bastel- und Bruchbiografien – versehen mit Unsicherheitszunahme und gleichzeitigen ungeahnten Kreativitätspotenzialen. Und das in der Gleichzeitigkeit von Vertreter_innen der Generationen X, Y und Z.

Umkippeffekt: Großer Zwang zur kleinen Freiheit, Selbstausbeutung, Selbstverlust.

Beziehungen: In dieser Dimensionen sind es wechselnde, flexible und nur noch zeitlich begrenzte Sozialkontakte, flüchtige Beziehungen, (soziale) Netzwerke statt fester Beziehungen – mit gleichzeitigen Sehnsüchten der Personen nach etwas anderem mit mehr Halt und sozialer (Beziehungs-) Sicherheit.

Umkippeffekt: Gemeinschaftsverluste und Einschränkungen der Arbeitsfähigkeit von sozialen Subsystemen.

Aufgabe: Hier sind es rasant sich verändernde Produkte und Dienstleistungen, Wissenszunahme und -fluten, abnehmende Halbwertszeiten des Wissens, Mehrdeutigkeiten und Flüchtigkeiten, unscharfe Herausforderungen – und das alles auch noch digital (durchgerechnet).

Umkippeffekt: Wissensverlust und Inhaltsleere. Von tatsächlichen Bedürfnissen abgekoppelte Produkte, die nur mehr algorithmischer Vorausberechnungen und oberflächlicher Marktlichkeitslogik folgen.

Organisation: In dieser Dimension sind es immer wieder neue flexible Organisationsformen, systemische Rationalisierungsstrategien nebst nicht enden wollenden Changehypes, fraktale und virtuelle Organisationen mit hohen Digitalisierungsanteilen, Organisation durch Selbstorganisation, Zunahme von Paradoxien. Verlautbart weniger Organisation – und doch oft „Mehr-desselben“.

Umkippeffekt: Erstarrung im Veränderungshype, Kontrollwahn (allerdings anders verpackt 😉

Kultur: Hier sind es interkulturelle Vielfalten, Gendersensibilität, Unterschiedlichkeiten als Ressource, neue Formen kulturellen Austauschs und alternative Modelle, Kultur(en) zu bilden.

Umkippeffekt: Neue Ab- und Ausgrenzungen

Wenn das so oder so ähnlich sein sollte, dann stellen sich in der Tat neue, andere Fragen, als sie im Diskurs um Führung und Leadership üblicherweise gestellt wurden. Im Kern geht es darum, inwiefern (und wie) es möglich ist, Führung unter Unmöglichkeitsbedingungen wirkungsvoller Steuerung sinnhaft möglich zu machen. Denn notwendig ist sie. Unser Modell systemischer Führung geht eben von dieser Paradoxie aus: Führung und Leadership als unmögliche und notwendige Möglichkeit zu sehen – und sie dementsprechend widerspruchsfest und widersprüchlich zu gestalten. Das geht. Aber geht es gut?

Wie könnte es gehen?

Vorbehaltlich der Antworten betroffener Menschen in permanent derart durchgeschüttelten Systemen, bedeutet PentAgilität im Fünfeck:

  • Eine agile, eine lebendige, bewegliche, „vitale“, eine neugierige, interessierte und zugewandte Haltung in Stimmigkeit zur eigenen Person (wer sich da unstimmig ist, kann es lassen – oder die Unstimmigkeit zur Ressource des Zweifels umdeuten), Resilienz
  • geklärte und zugleich herausfordernde und anregende, „kompakte“ Beziehungen, agile, sprich stabile und klare, zeitlich eng begrenzte Kommunikationsstrukturen, die dadurch Flexibilität und Beweglichkeit eröffnen (wie es Open Space- oder World Cafe-Settings vormachen), zurückhaltende, fragende, zusammenfassende und Unterschiede verbindende Führung mit durchgängiger Transparenz, permanente Rückkoppelungs- und Feedbackschleifen, Selbstorganisation als Leitprinzip
  • auf Dauer gestellte schnelle Anpassungsbereitschaft für Inhalte und Aufgaben, immer vorgehaltene Anpassungs- und Adaptionsressourcen, Verlangsamungen vor Beschleunigungen der Verfahren, iterative Planung in klaren Prozessen, Ziel- und Prozessevaluierungen bei laufendem (Entwicklungs-) Betrieb, Bereitstellung von zuverlässigen Querdenker- und Querbürster-Ressourcen, tägliches „Reframing“
  • eine reduzierte, sparsame und stabile Organisation mit engem Umweltbezug, z.B. durch konsequenten Einbezug von Kunden, Lieferanten und Kooperationspartner_innen, projektförmige Organisationsformen und Netzwerk-Kollaborationen, organisierte Lernschleifen zweiter und dritter Ordnung zur Selbsterneuerung, Routinen, die ein routiniertes Routinebrechen ermöglichen
  • eine differenzorientierte Kultur der Neugierde auf Unterschiede, lebendige Fehler- und Feedbackkulturen, Vielfalt statt Einfalt, selbstentwickelte (ver-) bindende und erneuernde Rituale
  • eine konsequente Gestaltung des Bezugs zur Umwelt durch feste und lose Koppelungen mit dem System im System (Kundenintegration, Beratung, Nutzung von Möglichkeiten der digitalen Netzwerke).

PentAgil-02

Das wäre Leadership pentAgil in einer allerersten Annäherung. Fortsetzung folgt. Ein Ende ist sowieso nicht abzusehen.

***

Mehr Verführungen über pentagrammatische Führung in: Orthey, Frank Michael: Systemisch Führen. Grundlagen, Methoden, Werkzeuge. Schäffer-Poeschel Verlag, Stuttgart 2013 (unter Mitarbeit von Astrid Orthey)

[1] Ob der Begriff „pentAgil“ beschreibt, was zu beschreiben ist, wird sich zeigen. Das liegt einerseits daran, was dieser ersten Folge substanziell noch folgt und andererseits, ob der Begriff für diejenigen, um die es geht, nützlich und brauchbar ist. Sollte das nicht der Fall sein, wird er im (Sonder-) Sprachmüllcontainer entsorgt 😉 Versprochen! Da liegt ja schon einiges rum.

Kategorien: Führung

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