Ich bin faul geworden. Das ist eine Selbstoffenbarung, die ich mich zeitlebens bislang nie getraut hätte zu veröffentlichen. Zu prägend waren offenbar die frühkindlichen Einredungen über sogenannte „Faulenzer“ als durch und durch nichtsnutzige Zeitgenossen. Jetzt als sogenannter Zeitforscher darauf bedacht, sehenden Auges den Umgang mit der Zeit und Zeitformen im Blick zu behalten, erschrickt der Beobachter beim Blick auf sich selbst. Er – also ich 😉 – sieht sich in Situationen, die jahrzehntelang nicht hätten sein können oder dürfen. Lieber war ich ein Streber, ein Musterknabe, ein Perfektionist, ein Arbeitstier geworden, dem es nie genug und gut genug und erst recht nicht zu viel werden konnte. Und dann doch mal zu viel wurde. Der Burn-Out-Zustand wurde indes mit den altbekannten und vermeintlich bewährten Mustern bewältigt. Bloß nicht hängen lassen! Aber jetzt: eben das. Faulheit!

Der derart ertappte entzieht sich den vielen ToDos und den großen Plänen durch eine bislang unbekannte kreative Ignoranz und tut: Nichts. Bislang hatte er sich und anderen gegenüber behauptet, das ginge gar nicht: Nichts tun. Hatte aber mehr oder weniger schlau über die Ressourcen dieses Zustands parliert – auch in diesem Blog (Nichtstun, Muße). Und hatte dies wohl auch getan, um die eigene diesbezügliche Inkompetenz zu „umschreiben“. Jetzt geht’s plötzlich. Na ja, nicht plötzlich, es war schon ein Prozess der schleichenden Umorientierung, der von allerlei Seiten und einschneidenden Ereignissen genährt wurde. Krankheiten und Tod spielten dabei eine nicht unbedeutende Rolle. Jetzt jedenfalls ist es gelegentlich – nicht immer, beileibe nicht, denn das wäre dann ja der geschmähte Faulenzer – möglich, angesichts anstehender Aufgaben faul zu werden. Sie nicht anzugehen, sie zu verschieben, sich anderem zuzuwenden. Beispielsweise einem Mittagsschlaf. Kurz versteht sich – wir wollen ja nicht gleich übertreiben. Auch „Vernünftiges“ sein zu lassen, weil die Lust fehlt, beispielsweise zum Sporteln. Dann: Einfach – einfach ist es nicht immer – auf der Terrasse zu stehen und in die voralpenländische Welt zu schauen. Über die weiten Wiesen und nahen Wälder auf den Wallberg. Oder auf das Karwendel, das sich hinten zeigt. Dabei die Gedanken loszulassen, die sich immer wieder aufdrängen, stattdessen anderen freien Lauf zu lassen. Sie zu verlieren, um wieder anderen, neuen zu folgen. Um sie dann ganz zu verlieren – die Gedanken, meine ich. Sich der Katze zuzuwenden, mit ihr zu spielen und sie zu streicheln. Nicht ganz ohne die Ahnung, bei ihr könnte meine Neuentdeckung so eine Art Lebens-Erfolgsmodell sein. Und bei diesem und jenem im besten Sinne Wohlsein zu empfinden.

Ich überrasche mich selbst – und ich bin überrascht. Dass ich es „kann“. Es sogar genießen kann.

Überrascht bin ich aber auch über das, was diese neu entdeckte, faule Lebensform ermöglicht.

Was ist der Nutzen? Eine Frage aus meinem „alten“ Zugang zur Welt und auch aus meiner systemischen Denk- und Beratertradition. Insofern lasse ich die Frage einstweilen zu. Formuliere sie dann aber doch um, weil zwar alles Verhalten einen Nutzen haben muss (sonst würde ja ein anderes gewählt werden), mir aber gerade der Nutzenbegriff nicht gut gefällt, auch weil er so aufgeladen ist von allerlei ökonomisch vorjustierten Seiten. Dann also doch lieber: Was ermöglicht derartiges Faulsein?

Überrascherweise – ich wiederhole mich (das könnte am Ausmaß des Überraschtseins liegen) – ermöglicht das Faulsein neue Gedanken, Ideen, Denk- und Verhaltensansätze, die „vorher“ angesichts weitgehend durchgetakteter Arbeits- und Lebenswirklichkeiten nicht (mehr) möglich waren. Mir fällt wieder was (Neues) ein. Und: ich kann mich wieder besser einlassen. Ich bemerke es im Coaching. Mir fällt wieder mehr und anderes ein. Und ich kann mich wieder interessierter einlassen – ohne im Hinterkopf zu haben, was (danach) auch noch so alles sein muss. Das finde ich beides sehr wertvoll. Nicht nur bezogen auf die Qualität des Arbeitens im Kontakt. Die profitiert auch durch eine zurückgekehrte Lässigkeit, die ich früher mal zu haben glaubte. Peu a peu hatte sich aber eine Krampfigkeit eingestellt, die befeuert durch den inneren Perfektionisten zwar zu ziemlich durchgestylten Designs und Settings führte. Ja, es war alles medial ästhetisch und raffiniert methodisch aufbereitet. Aber manchmal auch etwas leblos. Das Faulsein hat offenbar den mir – und womöglich auch anderen – sympathischeren Imperfektionismus belebt. Rational war mir das alles klar, natürlich. Ist ja auch nicht so kompliziert, zum Beispiel den Wert des Loslassens zu erklären (nur bei unserer Katze will das nicht gelingen). Aber es selbst am eigenen Leibe und im Inneresten zu erleben, das war mir in dieser Intensität neu. Insofern freut es mich, dass ich irgendwie zum Faulsein gekommen bin. Und insofern hat das Faulsein einen ganz erstaunlichen Nutzen (ja, jetzt doch!). Es ermöglicht mir neues Denken und Handeln, mehr (innere) Nähe im Kontakt und die geschätzte Lässigkeit. Der Faule scheint nahbarer.

Er ist auch ein langsamerer Zeitgenosse geworden, der wieder dem Geschehenlassen und Werden mehr Zeit einräumt. Wird schon irgendwann irgendwie (gut) werden. Nur Geduld. Und schön langsam. Für einen Hobby-Rennfahrer ist das schon mal ein Fortschritt 😉 Die Schönheit der Langsamkeit, meine ich. Ich will damit keineswegs den Wert und den Nutzen der Geschwindigkeit abwerten, aber aus meiner Faulheitserfahrung zu bedenken geben, dass es eben dies zu bedenken gibt und gilt. Das Langsame, das im Faulsein auch vorkommt, hat eine ihm eigene Schönheit. Ich kann das jeweilige Tempo wählen – und das, was ich tue und was ich lasse. Und mal (wieder) faul sein. Und dabei gespannt sein, was dabei Neues herauskommt.

Jetzt fällt es mir wieder ein und ich wiederhole es, obschon es in diesem Blog schon mal zitiert wurde. Fritz Reheis hatte es 1996 in seinem Buch über die Kreativität der Langsamkeit den Leser:innen mitgegeben: „Eine entschleunigte Gesellschaft ist eine Gesellschaft, in der nicht das Haben von Sachen, sondern das Sein des Menschen im Mittelpunkt stehen wird. Alles wird sich um ihr Wohlbefinden, um die Erfüllung und Entfaltung ihrer Möglichkeiten drehen. Und das ist der Kern menschlichen Glücks. Die entschleunigte Gesellschaft wird eine Gesellschaft der Muße und der Faulheit sein, verstanden als „kluge Lust“.“[1]

Probieren Sie es doch mal aus, ob Sie das auch können: Faul sein.

Gute Zeiten!

***

[1] Reheis, Fritz: Die Kreativität der Langsamkeit: Neuer Wohlstand durch Entschleunigung. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Erstausgabe, Darmstadt 1996, S. 207

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Kategorien: Zeitforschung

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