Ich hatte es mir in meinen (handschriftlichen) Kalender eingetragen. Da schreibe ich tageweise – mit Bleistift – alles hinein, was zu tun ist. Da las ich nun also „Nichtstun“ bei dem, was zu tun hätte sein sollen. Und weil ich in letzter Zeit sehr im vielen Tun gewesen war und ich das Stichwort schon vor einigen Tagen hierher in den Kalender geschrieben hatte, stutze ich und konnte das „Nichtstun“ an diesem Platz nicht so richtig einordnen. Wer mich kennt, die- oder denjenigen wundert das jetzt wahrscheinlich nicht. Mich aber schon. Hatte ich mir hier für heute ein „Nichtstun“ verschreiben wollen? Ach nein, jetzt fiel es mir wieder ein, ich hatte etwas über das Nichtstun schreiben wollen. Es mir also nicht verschrieben. Irgendwie fühlte ich mich erleichtert, dass ich jetzt nicht das Nichtstun auf der Agenda des Tuns hatte – nur Schreiben wollte ich darüber. Also: „Was man selbst nicht kann, darüber schreibt man.“ Das wollte ich mir nun doch nicht eingestehen als Zeitforscher – das ist ja jemand, der andere Menschen und sinnvollerweise auch sich selbst im Zeitverhalten beobachtet. Nichtstun ist nichts für mich. Ist es nie gewesen. Natürlich hatte ich mich – auch hier in den Zeitzeichen – mit der Produktivität von Pausen, von unverplanter Zeit, von zeitlichen Biotopen beschäftigt. Ja sogar das Warten – Untertitel: „Was wir tun, wenn wir nichts tun“ – hatte ich umgedeutet zum „schöner Warten“ und es flugs zur unversehens gewonnenen Eigenzeit gemacht. Und klar, auch die Muße hatte ich als früher hoch geschätzte, dann diskreditierte und nun kommerzialisierte Zeitform zur Selbstoptimierung beschrieben.

Aber selbst einfach mal so – ganz unreflektiert womöglich noch – nichts tun? Unvorstellbar. Für mich jedenfalls. Ich habe einen Bekannten, der das kann und der mich damit regelmäßig verwirrte, wenn ich am Telefon fragte: „Was machst Du denn gerade?“ Und er antwortete: „Nichts.“ Ich: „Ja wie jetzt, nichts?“ Er: „Nichts, … na ja, wobei: Ich sitze hier auf der Terrasse und tue sonst nichts.“ Für mich war das lange Zeit gar nichts mit dem Nichtstun. Ich musste immer was tun – es liegt ja auch immer irgendwas an oder rum, das zum Tun einlädt. Und falls nicht, ist schnell eine Möglichkeit, etwas Sinnvolles zu tun, gefunden. Denn Zeit – so der hier zu Grunde liegende Glaubenssatz – ist dann wertvoll, wenn sie einen Sinn hat. Und den bekommt sie übers Tun. Das sitzt beim Handwerkersohn ziemlich tief. Da rückt zudem das Nichtstun schnell in die Nähe zum Nichtsnutz. Und jetzt stand da – irgendwie dann doch als Appell wirkend – im Kalender: Nichtstun! Da gerade – wie immer – viel zu tun war, strich ich den Punkt und setzte ihn auf den nächsten Tag. Das mache ich gerne und täglich, weil das Tun, was ich mir vornehme, immer zu viel ist. Das ist jetzt etwas peinlich für einen Zeitforscher und Zeitberater, aber es bleibt ja hoffentlich unter uns. Jedenfalls wurde ich die vergangenen Tage jetzt mehrfach durch das immer wieder auftauchende, weil immer wieder aufgeschobene „Nichtstun“ in meinem Kalender verwirrt. Irgendwann wurde es mir dann zu blöd, zumal damit die beabsichtigten News bzw. der Podcast-Beitrag irgendwie auch nicht getan wurde. Beides fiel dem Nichtstun zum Opfer. Wenn es denn so gewesen wäre. Aber nein. Genaugenommen war das Nichtstun dem anderen, dem angestauten, dem vermeintlich fremdbestimmten, dem jedenfalls zu vielen Tun zum Opfer gefallen. Das kann nicht sein, dachte ich mir – und legte mich ins Bett zum Nichtstun. Liegen schien mir eine angemessene Körperhaltung für dieses Vorhaben zu sein. Ich musste mich sehr anstrengen und beschäftigte mich im ersten etwa zehnminütigen Versuch damit, inwiefern denn Denken unter Nichtstun falle und wie es denn gehen könnte, auch das Denken mal sein zu lassen. Das gab mir zu viel zu denken und ich brach den Versuch ab. Es sollte ja noch mehr Möglichkeiten geben, um das Projekt fortzusetzen. Angeblich – sagt meine Frau – besitze ich einen überdosierten „Möglichkeitssinn“, wie das Robert Musil genannt hat. Es könnte eben immer auch anders sein. Deshalb mach ich das jetzt. Und zwar sofort. Na ja, nicht immer, denn es könnte ja auch noch anders sein. Ist es denn die Möglichkeit? Dabei ist das mit den Möglichkeitsüberschüssen, mit denen unsere mediale Welt uns andauern überversorgt, ja ein Teil des Problems, nicht mal nichts tun zu können. Es kommt ja quasi immer gerade was rein auf den vielen Kanälen, mit denen wir verbunden sind. Und wenn nicht, dann schaut mit einem Wisch übers Display alles gleich wieder ganz anders aus. Und etwas Neues, Anderes wird möglich. Um es zu tun wohlgemerkt, nicht um es zu lassen. Denn das wäre ja Nichtstun. Aus Zeitforscherperspektive ist das Nichtstun eine ziemlich interessante Zeitform. Auch deshalb, weil sie heute so selten anzutreffen ist. Unsere Katze kann das ziemlich gut mit dem Nichtstun. Sie macht ja quasi nicht viel anderes – und sie macht einen sehr zufriedenen Eindruck dabei. Auch das gibt mir zu denken. Denn viele, die viel tun – das ist ja die Erfolgsinsignie unserer Gesellschaft – wirken nicht so zufrieden. Manche werden auch krank und kriegen Burn-Out und so – oder kommen ins Coaching zu mir. Gehetzte Vergleichzeitiger – wie ich eben auch. Nachdem ich mit mehreren neuen Anläufen zum Nichtstun in meiner Versuchsreihe immer wieder gescheitert war, wurde ich traurig. Traurig, weil ich es nicht hinbekam. Denn nachgedacht hatte ich einstweilen ganz viel darüber und ziemlich viele charmante Aspekte des Nichtstuns entdeckt. Nichtstun, das wäre ja quasi eine Diät für den Geist. Eine Auszeit für das überanstrengte Hirn und die ganzen dauerschnapsenden und japsenden Synapsen. Die hätten dann endlich mal Ruhe und könnten womöglich danach wieder viel besser und kreativer, ausgeruhter und befreiter weiterschnapsen, die Synapsen. Eine „Nichtstun-Herbstkur“ für den Geist, fiel mir jahreszeitlich bedingt ein, das wäre doch mal was: Täglich zweimal 30 Minuten Nichtstun. Letztlich wäre diese Kur ein Beitrag dazu, nicht nur beim Essen und bei anderen Genüssen Maß zu halten, sondern auch im Hirn, das wir überflüssigerweise immer weiter mit immer mehr sinnverdünnten Informationen und News behelligen. Nichtstun wäre zudem eine Auszeit vom ständigen übergangslosen Machen und Tun, vom ständigen Hin-und-Her-Rennen und -Reisen, vom Chatten und Teilen und Liken und diesen ganzen Sachen, die wir so tun – statt mal: nichts zu tun. Das wäre nämlich das Andersartige, der Fortschritt womöglich. Jedenfalls wäre das Nichtstun ein zeitlich begrenzter Ausstieg aus dem vielbeklagten Hamsterrad. In einem Zustand des Nichtstuns entsteht dann bestenfalls Muße, verstanden „als Stunden, in denen wir ganz das Gefühl haben, Herr über unsere eigene Zeit zu sein, in denen wir einmal nicht dem Geld, der Karriere oder dem Erfolg hinterherrennen, sondern in denen wir zu uns selbst und unserer eigentlichen Bestimmung kommen“ – so Ulrich Schnabel (2010, S. 21) in seinem schönen Buch über die Muße.[1] „Vom Glück des Nichtstuns.“ So lautet der Untertitel. Ich arbeite weiter daran. Denn ich hatte Anfangserfolge: Besonders glücklich war ich, wenn ich das ganze anstehende Tun sehenden Auges durchbrach (o.k., es war nur für eine kurze Zeit, also für ca. 15 Minuten) und mich bewusst entschied, jetzt mal: nichts zu tun. Das Glücksgefühl danach war schon ziemlich euphorisierend: Ich war – und ja: ich bin – so frei, mich gegen das Tun zu entscheiden. Ich bin wieder Herr im eigenen Haus, Herr meiner Zeiten.

Und die Nummer, mir das in den Kalender zu schreiben, die finde ich schon ziemlich lässig. Tue ich weiter 😉

Ist ja viel zu tun.

[1] Schnabel, Ulrich: muße. Vom Glück des Nichtstuns. Karl Blessing Verlag. München 2010

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Kategorien: Zeitforschung

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