Über die Enteignung der Zukunft – und deren Preis.

Die Gedanken sind frei. Aber geheim sind sie nicht mehr. Alles ist öffentlich. Denn auf der „Rückseite der Cloud“ (Seele/Zapf 2017)[1] wird mitgelesen. Und dann wird dort eifrig gerechnet. Ohne uns, aber über uns. Nichts ist mehr geheim. Und nichts ist mehr nicht vorhersehbar. Nur kennen wir das „nichts“ oft noch gar nicht. So wie die Schwangere, die von ihrem Glück erstmalig im Netz erfuhr als ihr rosa Zwillingsbekleidung angeboten wurde. Wir sind gläsern – und in unsere Glaskugel wird hinter der Cloud hineingeschaut und es entstehen Prognosen von erstaunlicher Zuverlässigkeit. Wir bemerken das daran, dass die Zukunft von vorne auf uns zukommt – mit sehr konkreten Vorschlägen, was uns so gefallen könnte und was wir morgen liken, kaufen und tun könnten. Das haben auf der Rückseite der Cloud schlaue Algorithmen für uns höchstpersönlich ausgerechnet. Auch wenn wir irritiert oder auch unangenehm überrascht sind über die Pass- und Treffgenauigkeit der Vorschläge, die uns das Netz so präsentiert, sind viele ZeitgenossInnen zugleich doch auch fasziniert. Und denken sich womöglich: Warum nicht? Gute Idee, eigentlich. Die Gedanken sind nicht mehr frei – auch nicht diejenigen an die Zukunft. Sie sind vorjustiert durch die Vernetzung all unserer Netz-Aktivitäten auf der Rückseite der Cloud. Mit immer erstaunlicherer Präzision der Angebote, die besser zu unseren Bedürfnissen passen als wir diese dachten überhaupt zu kennen. Schnell und natürlich „zeitnah“ zu den Vorschlägen, sprich also „jederzeit“, haben wir gelikt, geklickt, bestellt – und werden nach diesen Klicks weiter immer besser zu vermessen und vorauszuberechnen. Auch die neuen Gedanken, die wir bekommen, sind nicht mehr wirklich frei, weil sie vorjustiert sind – und geheim sind sie erst recht nicht mehr. Andere kennen sie bereits vor uns. Wenn uns das manipulativ erscheint, dann sollten wir uns damit auseinandersetzen. Um nicht als tragisches Marketingopfer derer zu enden, die alle unsere (vermeintlichen) Geheimnisse kennen.

Für mich ist hier die Auswirkung dieser Dynamik auf unser Zeitverhalten von Interesse. Ja klar, geklickt und gewischt ist schnell mal – jederzeit und sofort, versteht sich – und wir verbringen ja auch einige Zeit damit, es zu tun (durchschnittlich holen wir das Smartphone zwischen 76 und 132 mal am Tag hervor und verbringen zwischen durchschnittlich 145 und als „Heavy User“ 225 Minuten damit zu). Je passgenauer uns dann beim Blick aufs Display das erscheint, was uns da offeriert wird, umso schneller geht das mit der Wischerei und Klickerei weiter. Wir müssen nicht mehr lange überlegen, abwägen, erörtern, reflektieren, nein, die Vorschläge sind so passend, dass wir sie schnell und immer schneller annehmen. Das macht einen Unterschied zur Urzeit, wo unsere Vorfahren ihre Zeit ins pure Überleben investieren mussten (mit zweifelhaften Erfolgsaussichten, was sie verständlicherweise eher zögerlich werden ließ), es macht einen Unterschied zur Vormoderne, wo unsere Ahnen sehr an den Rhythmen der Natur orientiert waren (abhängig davon, zu welcher Jahreszeit der Hahn krähte), es macht einen Unterschied zu den Vertaktungen der industriellen Moderne, wo es darum ging, immer schneller einem bestimmten Takt zu folgen. Time is money eben. In der voll durchdigitalisierten Postmoderne ist das alles Geschichts-Müll. Wir sind jetzt in Echtzeit unterwegs, sind Vergleichzeitiger und Versofortiger. Und nun sind wir angesichts der digitalisierten Vorwegnahmen möglicher Zukünfte eben auch noch digitale Zukunfts-Junkies. „Junkies“ sind abhängig, sie entscheiden nicht mehr selbst. Sie nehmen, was sie bekommen (können). So holen wir uns sofort, gleichzeitig und immer schneller die Zukunft auf den (Bild-) Schirm der Gegenwart. Die Konsequenzen dieser Zukunft zeigen uns dann die Möglichkeiten der virtuellen und der augmented oder mixed Reality sehr „realistisch“. Diese Möglichkeiten stehen noch ganz am Anfang einer zweifelsohne rasanten Entwicklung, die unseren Begriff von dem, was wir bisher „Realität“ nannten, verändern wird. Und zwar auch denjenigen unserer zeitlichen Realitäten. Keine Träume, keine Zukunftsvisionen oder gar –träumereien mehr – und keine langen Zukunftsplanungen. Nur ein schneller Klick – und wisch und weg. Der nächste Klick ist nur eine Zuckung weit weg. Wir sind unserer Zeit voraus. Und verlieren dabei unsere eigene Zukunft. Sie wird uns enteignet durch uns selbst, die wir keine Geheimnisse mehr haben (können). Die Zeiten, die wir so verbringen, sind fremdbestimmt durch die immerwährenden Vorschläge zur Zukunft. Diese bestimmen unsere Gegenwarten, unsere Hier-und-Jetzt-Erfahrungen. Sie werden „konfiguriert“ durch das, was uns da ständig an Vorschlägen für mögliche Zukünfte erreicht – und was wir sofort und gleichzeitig mit anderem Gegenwärtigen vermengen. Unsere Zeit wird zu einem von der Zukunft her zentrierten Dauergewusel alles Möglichen. Auch das ist der Preis des Verlustes des Geheimen im Netz. Ein Verlust eigener, selbstbestimmter Zeiten.

Vielleicht ist es aber auch eine Chance. Oder beides, oder nichts vom beidem. Oder dies nicht und selbst das nicht. Wer weiß das schon?

Einstweilen tröstet uns (vermeintlich) diese Option: Ausschalten ist möglich! Jedenfalls scheinbar. Dann ist kurzzeitig mal wieder Zeit für eine andere Zukunft. Auf der Rückseite der Cloud wird währenddessen berechnet, welche Zukunft uns angesichts dieses Verhaltens beim nächsten Einschalten vorgeschlagen wird. Zeit wär’s, auch über dies und das nachzudenken.

[1] Seele, Peter/Zapf, Chr. Lukas: Die Rückseite der Cloud. Eine Theorie des Privaten ohne Geheimnis. Springer Verlag, Berlin 2017

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[1] Seele, Peter/Zapf, Chr. Lukas: Die Rückseite der Cloud. Eine Theorie des Privaten ohne Geheimnis. Springer Verlag, Berlin 2017

Kategorien: Allgemein

1 Kommentar

Stefan Linxweiler · 6. November 2017 um 11:03

Leider alles wahr !

ME sind wir hier Opfer der zu kurz gedachten neuzeitlichen Aufklärung, die Papst Benedikt 16 (Ratzinger) sehr gut analysierte (nicht nur für Katholiken wahr !). Daher brauchen wir Rückkopplung in Geschichte, antike Philosophie und Buddhismus ! Als weltlich – spiritueller Rückzug aus dieser irren Netzwelt !

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