„Erst dean ma amoi nix, dann miaß ma moi schaung und dann wean ma scho segn.“ Das ist der bayerische Dreisatz, wie er hierzulande gelegentlich zu hören und manchmal auf Holzschildern im Eingangsbereich der Häuser zu finden ist. Ich las ihn kürzlich, zitiert in der Tageszeitung, notierte ihn und vergaß ihn. Also Satz im ersten Teil („amoi nix dean“) erfüllt: Nichts getan. Heute: Wiedergefunden und nachgedacht,  Satz im zweiten Teil („moi schaung“) erfüllt: mal geschaut. Und gedacht: könnt ja ganz interessant sein und losgemacht mit Schreiben, um zu sehen, was daraus wird. Dritter Teil eingelöst: mal sehen. „Dann wean ma scho segn.“

Dreisatz also – in der bayerischen Variante. Nun ist Mathematik beileibe nicht meine Kernkompetenz. Wikipedia spendet – wie so oft, wenn das „Schaung“ dort mündet – Trost: „Man kann mit dem Dreisatz Probleme aufgrund einfacher Einsichten oder auch ganz schematisch lösen, ohne die zugrunde liegenden mathematischen Gesetzmäßigkeiten vollständig zu durchschauen.“[1] Insofern ist der – bayerische – Dreisatz auch für mich geeignet. Wie auch für andere Zeitgenoss:innen, die manchmal einfache Einsichten hilfreich finden. Zumal – typisch bayerischer Weg! – dieser Dreisatz anders ist, also genaugenommen: nicht mathematisch. Aber dazu später mehr. Zurück zu den „einfachen Einsichten“, die bayerischen und mathematischen Dreisatz verbinden: Eine solche „einfache Einsicht“ kann beispielsweise diejenige sein, nicht gleich und unverzüglich aktivistisch loszulegen, sobald ein Reiz auftritt. Das ist ja ein Reflex, wie er durch Social-Media-Getue, insbesondere die Twitterei, oft ins Unerfreuliche und Unästhetische führt. Will ich nicht. Also erst mal innehalten, nichts tun. Bewusst: Nichts tun. Schwer genug. Auch weil es nicht unseren mühevoll ansozialisierten Gepflogenheiten und verfestigten Glaubenssätzen entspricht. Da ist tendenziell der Aktive, der auch noch fix gleich mit dabei ist, das präferierte Muster. Das wird heute in der Umsetzung ja auch leicht gemacht: Schnell ist was eingetippt und in die Welt gebracht. Mit Echtzeitangabe, versteht sich. Schnell reagiert. Likes und Teilen-Reaktionen goutieren dieses Muster. Vorne mit dabei sein, das zählt. Auch wenn der Sinn schwach ist. Der bayerische Dreisatz empfiehlt ein Gegenmodell, das auf die qualitativen Ressourcen der Verzeitlichung setzt.

Natürlich gilt die Weisheit des – bayerischen – Dreisatzes nicht immer. Auch sie ist kontextabhängig. Manchmal muss es auch schnell gehen. Nichtstun in der Notaufnahme oder als Feuerwehrfrau bei schnell loderndem Brand oder als Sprinter beim Startschuss im Startblock – das endet günstigstenfalls wunderlich, schlimmstenfalls wird es gefährlich. Bevor die einfache Einsicht Anwendung findet, ist also zunächst der Kontext zu bedenken. Was braucht es aktuell für und in diesem Kontext? Und da ist eine medizinische Notlage oder eine Wettbewerbssituation ein anderer Kontext wie eine Diskussion in einem Chat mit allerlei spontanen Unbedachtheiten. Oder wie eine krisenartige globale Situation, die erst einmal gut bedacht werden will.

Der bayerische Dreisatz ist kein Patentrezept für alles auf dieser Welt. Manchmal ist er nicht angemessen – oder funktioniert auch nicht. Das teilt er mit dem mathematischen Dreisatz. Auch der funktioniert nicht, wenn die Problemanalyse ungenau war bzw. ein wesentliches Element oder ein Einfluss nicht bedacht wurde. Das wird in der Mathematik „Kartoffelparadoxon“ genannt. Die klassische Aufgabe ist irreführend[2],verleitet zur reinen Rechnung des Dreisatzes, aber das Ergebnis ist unbrauchbar, weil unbedacht blieb, dass die Kartoffeln über Nacht ihr Gewicht verändern, weil sich die Gesamtmasse durch Trocknung verdoppelt hat – im Gewicht aber gleich angesetzt bleibt.[3] Da wurde ein Umwelteinfluss vergessen – oder was nicht selten der Fall ist bei einfachen mathematischen Dreisätzen: es wurde der Faktor Zeit vergessen und das, was er verändert, weil sich etwas mit der Zeit verändert. Wenn Frank O. zwischen 19.00 und 20.00 Uhr im Bierzelt eine Maß Josefibock trinkt, wieviel hat er dann um 23.00 Uhr getrunken? Abgesehen davon, dass er das dann ohnehin nicht mehr ausrechnen könnte, ändert – nicht nur in diesem Falle – die Zeit etwas am Gegenstand oder an Relationen. Dreisatz hin oder her. Die Rechnung stimmt nicht mehr. Und wenn sie doch stimmt, dann hat das seinen Preis.

Der mathematische Dreisatz bedient unsere Illusion der Machbarkeit, der Regelhaftigkeit und der Vorausberechenbarkeit: Wenn „dies“ sich zu „dem“ in einer bestimmten Weise verhält, dann kann ich berechnen, wie sich „dies andere“ zu einem unbekannten anderen verhält – und das unbekannte andere rausrechnen.[4] Natürlich! Wurde schließlich systematisch mit dem Dreisatz ausgerechnet. Kein Zufall also! Dass sich das Leben nicht immer an Dreisätze hält – nicht nur beim Starkbierfest – ist für mache/n schwer zu ertragen. Viele Menschen hätten es doch gerne vorhersehbar. Planbar. Wenn der Illusionscharakter dessen dann auffliegt, weil die Rechnung nicht stimmt oder etwas gnadenlos scheitert, was – auch zeitlich – so toll geplant war, dann ist das Erwachen oft böse und die Enttäuschung groß. Das, was wir verlegenheitshalber „Wirklichkeit“ nennen, hält sich oft nicht an Pläne und Berechnungen. Es kommt eher unberechenbar, manchmal ungefähr, aber nie so wie der Plan daher. Und damit meine ich nicht nur die Pläne der Deutschen Bahn, die oft nur sehr ungefähr verwirklicht werden können, weil dieses und jenes anders ist als es der Plan es vorsah. Dann doch lieber das Ungefähre zur Normalität erheben. Dann könnte der Plan eine ungefähre Orientierung geben, wie es laufen könnte – vorausgesetzt alles liefe mal nach Plan. Sparen würde sich manche/r die Enttäuschung. Das kleinere Übel wäre es, mit dem Ungefähren zu leben – auch zeitlich. Und es wäre viel spannender. Auch schön.

Zurück zum Ausgangspunkt, dem bayerischen Dreisatz, denn der ist viel radikaler (klar, grummeln die Bayer:innen): nicht „ungefähr“, sondern gar nix! Nichts tun, schaugn, um dann mal zum segn. Systemtheoretisch übersetzt: Um zu beobachten („schaugn“), brauchen Beobachter:innen Zeit. Die verschaffen sie sich mit dem Nichtstun, einem bewussten Nichtstun, das einen zeitlichen „Gewinn“ einfährt für die notwendige Beobachtung. Denn Beobachtung braucht Zeit, erst recht, wenn sie vielfältig angelegt sein soll und perspektivenreich, um die Komplexität der möglichen Wirklichkeiten möglichst umfassend zu erfassen.[5] Und das gilt nicht nur für politisch, gesellschaftlich und ökologisch weitrechende Entscheidungen, sondern auch für die kleineren Dinge des Lebens, an denen unser Herz – und manchmal vieles andere – hängt. Um dann, wenn „gschaut“ ist, mal sehn (was möglich ist). „Dann wean ma scho segn.“ Hier kommt der Musilsche Möglichkeitssinn ins Spiel, der den Wirklichkeitssinn ergänzt, weil: „Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein.“ Wenn sorgsam beobachtet wurde, erscheinen die Möglichkeiten – nebst einiger Unmöglichkeiten und der Gewissheit doppelter Kontingenz, nämlich: dass es eben immer auch anders sein könnte. Um dann, mit der gebotenen Bescheidenheit und Gelassenheit: zu segn. Meistens wird dann eine der Möglichkeiten gewählt, es wird also entschieden – und es wird auch was getan. Manchmal auch nicht. Der Charme des bayerischen Dreisatzes liegt – sofern Kontext- und Problemanalyse es hergeben – in der „Verzeitlichung von Komplexität“. Das, was uns da an herausfordernder Wirklichkeit erscheint, wird über den Kniff des Nichtstuns und des Ordnens von Möglichkeiten durchschaubarer – ohne die Gewissheit, dass es auch „so ist“. Das macht bescheiden und gelassen. Es reduziert Erwartungen und arbeitet „mit der Zeit“ – und nicht gegen sie. „Erst mal eine Nacht darüber schlafen …“ heißt das lebenspraktisch – und mancherorts als Regel etabliert – in Konfliktlagen. Denn die Zeit ändert was. Damit kann gezielt gearbeitet werden. Indem wir sie sein lassen, um zu schaugn, damit wir dann – hoffentlich angemessen – segn können. Ein „wertvoller Zeitverlust“ im Sinne der besseren Belastbarkeit dessen, was ma scho segn wern.

Eine Nebenwirkung solch bewusst eingebauter zeitlicher Elastizität ist oft, dass sich die emotionale Situation ändert. Was tags zuvor katastrophal erschien, nicht fass- und erst recht nicht schaffbar, kann „mit der Zeit“ weniger bedrohlich wirken. Manchmal kehrt dabei auch die Leichtigkeit und die Heiterkeit zurück. Die leugnet nicht die Ernsthaftigkeit der Wirklichkeit, mit der wir es zu tun haben, gibt ihr aber einen anderen Beigeschmack. Etwa so, wie ihn der bayerische Dreisatz ganz gut vermittelt. Und wie es das Münchner Urgestein Karl Valentin in einem (Drei-?) Satz formuliert: „Ich freue mich, wenn es regnet, denn wenn ich mich nicht freue, regnet es auch.“

Gute Zeiten. Dann wean ma scho segn.

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[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Dreisatz#Beispiel_1, aufgerufen am 01.04.2023. Der Autor fühlt sich angesprochen, weil er fern des Durchschauens mathematischer Gesetzmäßigkeiten unterwegs ist.

[2] „Es wurden 100 Kilogramm Kartoffeln mit 99 Prozent Wasser geerntet. In der Sonne trockneten sie ‚etwas‘ ein. ‚Die Kartoffeln‘ bestehen nun nur noch zu 98 Prozent aus Wasser, sind aber ansonsten unversehrt. Wie viel wiegen die Kartoffeln jetzt?“ https://de.wikipedia.org/wiki/Kartoffelparadoxon, abgerufen am 01.04.2023, 15.55 Uhr

[3] In stiller Hoffnung, dass mein inkompetenzbasiertes Verstehen ausreicht, um verständlich zu machen, um was es geht. Und fachlich nicht völlig daneben zu liegen 😉

[4] In 3 Stunden legt ein Fahrzeug bei konstanter Geschwindigkeit 240 km zurück, wie weit kommt es in 7 Stunden? Es gilt: 3 zu 240 verhält sich wie 7 zu „x“. Und ja: Das Fahrzeug kommt in 7 Stunden 560 km weit. Abgeschrieben am 02.04.2023, 12.27 Uhr: https://de.wikipedia.org/wiki/Dreisatz

[5] In diesem Falle würde die Operation der Beobachtung auf mehrere, unterschiedliche Unterscheidungen zurückgreifen.

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Gute Zeiten!

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Kategorien: Zeitforschung

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