Zugegeben, ich zitiere das gerne – und auch zum wiederholten Male.[1] Es gefällt mir und es passt auch auf und für mich. Und es bzw. er ist charmant für das Zeitthema. Es geht um das, was Robert Musil (1978) in seinem Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ als „Möglichkeitssinn“ vom „Wirklichkeitssinn“ unterscheidet. „Wer ihn besitzt, sagt beispielsweise nicht: Hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muss geschehen; sondern er erfindet: Hier könnte, sollte oder müsste geschehen; und wenn man ihm von irgendetwas erklärt, dass es so sei, dann denkt er: Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein. So ließe sich Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ebenso gut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist.“ (Musil 1978, S. 16)[2]

So weit, so schön. Gerade angesichts der Multioptionsgesellschaft, die uns ständig mit Überschüssen an Möglichkeiten versieht, ist das doch ganz prima: noch mehr Möglichkeiten. Na bravo!

Der Möglichkeitssinn versorgt aber natürlich auch mit Möglichkeiten, Möglichkeiten mal wegzulassen, sie zu verschieben, sie im Nacheinander statt in der Gleichzeitigkeit zu ordnen, zu verbinden, sie zu vernetzen, zu koordinieren und auch mal: zu verwerfen. Das ist die idealtypische Ressource des Möglichkeitssinns, die ich sehr schätze. Sie bringt mich aber auch gelegentlich in die Bredoullie, wenn es mal wieder (zusätzlich zu dem, was Leben und Arbeiten gerade so bieten an Möglichkeiten) noch eine neue, eine andere, momentan sehr attraktive Möglichkeit gibt (und es keine Möglichkeit zu sein scheint, diese wegzulassen, zu verschieben usw. – kein Gedanke daran!). Der Möglichkeitssinn ist eben ein Ermöglicher. Er ermöglicht viel – und Menschen, die ihn sehr ausgeprägt haben, wissen immer, was (auch noch) zu tun – und seltener: zu lassen – sein könnte. Denn, ja es könnte auch immer noch ganz anders sein. Die Ideen dieses Mannes ohne Eigenschaften sind nichts als „noch nicht geborene Wirklichkeiten“. Deshalb hat er natürlich auch „Wirklichkeitssinn“, „aber es ist ein Sinn für eine mögliche Wirklichkeit (…)“ (Musil 1978, S. 16). Für den Umgang mit der Zeit bedeutet dies: „Ein solcher Mann (und das gilt auch für Frauen) ist keineswegs eine sehr eindeutige Angelegenheit.“ (Musil 1978, S. 4/5)

Wenn das allerdings gut klappt, dann ist dieser Mann oder diese Frau jemand, dem oder der es gelingt, die ganzen wunderbaren Möglichkeiten, die ihr und ihm so einfallen in einen inneren Dialog mit dem Wirklichkeitssinn zu bringen. Das ist dann ein dialogisches Korrektiv. Der Wirklichkeitssinn, den ich meine, ist ein Bedürfnissinn, der manchmal auch den Möglichkeitssinn stoppt: Es wird unmöglich! Wird nicht gemacht. Ganz bestimmt nicht. Dieser Wirklichkeitssinn achtet darauf, dass die Möglichkeit, die daherkommt und womöglich – weil sie neu ist und/oder auch von Anderem ablenkt – blendet, zu den Bedürfnissen passt – und vor allem: kein der jeweiligen Person wichtiges und zentrales Bedürfnis verletzt wird. Das ist manchmal bitter für Möglichkeitsenthusiasten wie mich, aber es erdet in dem, was die jeweilige Realität verträgt und verkraften kann. Es kann beispielsweise noch so eine tolle Möglichkeit sein, diesen zusätzlichen Auftrag bei diesem neuen attraktiven Auftraggeber zu machen, wenn die räumlichen Arbeitsbedingungen nicht stimmen, dann wäre das grundlegende Bedürfnis, qualitätsvoll zu arbeiten, verletzt. Ich lasse es also (schweren Herzens) bleiben. Und natürlich besteht in meinen Bürowochen die Möglichkeit, zusätzlich zum vollen Kalender, mal eben was Neues anzufangen, z.B. ein neues Buchprojekt. Da meldet sich dann der Bedürfnissinn zu Wort im Inneren Team und weist höflich aber bestimmt darauf hin, dass die Bedürfnisse nach entlastenden Zeiten bei Bewegung, im Kontakt und das Bedürfnis nach wirklich „freien“ Zeiten gerade (mal wieder) untergebuttert werden von der Möglichkeit, sich beim Schreiben zu erfinden und: zu verlieren. Der Wirklichkeitssinn, der ein Bedürfnissinn ist, kann es sich in solchen Situationen auch manchmal nicht verkneifen, darauf hinzuweisen, dass ich ja wissen würde, wo sowas enden kann: im Zusammenbruch und dem, was heute burn-out genannt wird. „Und das willst Du ja nicht wirklich nochmal?“ Will ich nicht, Mensch – der ist aber gnadenlos, Herrje! Hat aber (mal wieder) Recht. Wenn ich meine Bedürfnisse achte und beachte, dann tut mir das gut – und meiner zeitlichen Situation auch. Meiner Umwelt tut es übrigens nicht immer gut. Wenn ich zum Beispiel „Nein“ sagen muss – was ich gelernt habe, zugewandt zu formulieren (also mit Interesse, Klarheit des Nein, Begründung und einer Alternative). Dann bin ich raus aus der Nummer und das finden machen Zeitgenoss*innen nicht witzig. Ich lache mich ja auch nicht kaputt, ich weiß aber durch meinen etwas penetranten Bedürfnissinn, was geht und was nicht (mehr) geht. Punkt – und nein, lieber Möglichkeitssinn, das könnte nicht anders sein, sicher also kein Gedankenstrich, den ich so gerne mag, statt des Punktes. Nein. Punkt.

Um mich selbst vor Rückfällen zu schützen, greife ich manchmal auf einen heute im Unternehmenskontext gerne genommene Praxis zurück: Outsourcing. Da gibt es dann abends oder am Wochenende den Fragecheck durch eine sehr vertraute Person nach zu kurz gekommenen, ungesehenen oder mal wieder verletzten Bedürfnissen. Auch nicht immer schön, aber oft wichtig im Sinne einer zeitlichen Stimmigkeit.

Jemand, der die gewöhnliche Form des Wirklichkeitssinns besitzt, gleicht laut Musil „einem Fisch, der nach der Angel schnappt und die Schnur nicht sieht, während der Mann mit jenem Wirklichkeitssinn, den man auch Möglichkeitssinn nennen kann, eine Schnur durchs Wasser zieht und keine Ahnung hat, ob ein Köder daran sitzt“. Und damit es nicht bei dieser naiven Ahnungslosigkeit wieder mal tragisch endet, stellt der Bedürfnissinn die Frage nach dem Köder. Das ist die Frage nach dem Bedürfnis, das dem Angeln zu Grunde liegt. Sie beginnt in der Regel mit: „Wozu …“?

Ist es denn die Möglichkeit? Und: Wozu?

Schöne Zeiten!

***

[1] Genaugenommen habe ich – weil es mich interessiert hat – 289 Dateien auf meinem PC gefunden, in denen dieses Zitat bzw. dieser Gedanke vorkommt. Jetzt sind es 290. Ist es denn die Möglichkeit?

[2] Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften. Roman. 2. Bände. Reinbek bei Hamburg, Rowohlt-Verlag 1978

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Kategorien: Zeitforschung

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