Es scheinen Zeiten zu sein, in denen wir uns ständig in unseren Möglichkeitsüberschüssen verlieren. Mit einem Wisch über irgendein Display ist alles weg – und ganz viel anderes, neues erscheint auf unserem Schirm. Der eine genießt die Grenzenlosigkeit der sich derart immerzu aufdrängenden zukünftigen Möglichkeiten, die andere träumt von den „alten Zeiten“, wo es noch Zeit gab (ja so wird es oft ausgedrückt), um schöne Momente und Augenblicke zu genießen. Hier Zukunfts-, dort Vergangenheitsorientierung. Schwelgen in Optionen für Künftiges und/oder Träumereien mit der Glorifizierung des Vergangenen. Vermisst wird in beiden Zuständen oft das sogenannte Hier-und-Jetzt. Gemeint ist so etwas wie die augenblickliche Besinnung auf den momentanen Zeitpunkt – ohne sich auf etwas zu besinnen. Nachgefragt geben einige ZeitgenossInnen an, „einfach nur“ im Hier-und-Jetzt „sein“ zu wollen. Das ersehnen sich manche und es wird oft sprachlich mit „einfach nur“ garniert. Ob das, was da ersehnt oder erwünscht wird tatsächlich „einfach“ ist, das sei dahingestellt. Gewünscht wird es jedenfalls ganz einfach. Das Gewünschte kommt zudem individuell unterschiedlich daher. Die Sehnsuchtsvollen möchten meist „in der Gegenwart leben“, heute, jetzt, das Leben genießen, wie es gerade ist. Sie wollen in der gegenwärtigen Erfahrung sein, weder in der Vergangenheit, noch in der Zukunft. Sich ihrer selbst in der Zeit bewusst sein – hier-und-jetzt!

Verständlich ist diese Sehnsucht – insbesondere angesichts der Möglichkeitsüberschüsse, die uns oft in ein Hamsterrad bringen, in dem wir die möglichen Erfahrungen mit Erwartungen überfordern, immer mehr mitnehmen möchten, immer mehr in unserer Zeit unterbringen wollen, immer mehr, immer mehr. Um dann in Nöte zu geraden, die wir Zeitdruck, Zeitmangel oder Zeitnot nennen. Umso mehr wollen wir das Hier-und-Jetzt, das wir verloren zu haben meinen, zurück. Jetzt. Das ist die verständliche Sehnsucht, die teilweise illusionär ist.

Möglich ist es, sich auf den Moment zu fokussieren. Entweder mit allen Sinnen oder in einem meditativen Zustand, der auf möglichst viele Wahrnehmungen bewusst verzichtet, sie weglässt. So kann die Bewusstheit bzw. das Spüren für das Hier-und-Jetzt gefördert werden. Es ist allerdings nicht möglich, diesen Zustand dauerhaft zu halten. Wenn das die Vorstellung ist, dann ist sie auf Enttäuschung angelegt. Denn irgendwann ist die Notwendigkeit unumgänglich, zukunftsorientiert, beispielsweise an Nahrungsaufnahme zu denken – und weg ist das Erleben des Hier-und-Jetzt. Denn nun geht es um die Selektion zukünftiger Möglichkeiten. Was, wann, wie, mit wem essen? Wie zubereiten? Das Zeitbewusstsein ist auf die Zukunft gerichtet – und auf die Selektion der Möglichkeiten, die sie erfordert. Oder es kommen in der Stimmigkeit des Hier-und-Jetzt-Erlebens Bilder von schönen Momenten der Vergangenheit ins Gedächtnis. Dann bin ich auch raus aus dem Hier-und-Jetzt, werde nostalgisch, denke zurück. Das Hier-und-Jetzt ist und bleibt ein gegenwärtiges. Ein Jetzt eben. Es hat keine Dauerhaftigkeit. Das ist praktisch wie theoretisch nicht vorstellbar. Denn die Gegenwart entsteht aus oder besser in der Differenz von Vergangenheit und Zukunft. Das Hier-und-Jetzt braucht beides, um erlebt werden zu können. Insofern geht es nicht darum, „in der Vergangenheit“ oder „in der Zukunft“ bzw. viel besser natürlich: „im Hier-und-Jetzt“ zu leben. Der gelegentlich von Hier-und-Jetzt-Fans verkündete Zustand: „Leben Sie in der Gegenwart“ ist ohnehin alternativlos. Eher geht es darum, eine persönliche Stimmigkeit bezogen auf die eigene Vergangenheit sowie für die möglichen Zukünfte herzustellen. Dann erst ist auch das ungetrübte, das freie, oft das „befreite“ Erleben des gegenwärtigen Hier-und-Jetzt möglich. Dann ist Energie und Emotion da für ein starkes Gegenwartserleben.

Das „Hier-und-Jetzt“ ist mit Bindestrichen verbunden. Es hat eine verbundene räumliche und eine zeitliche Dimension. Es findet genau hier und genau jetzt statt. Und beides hat miteinander zu tun. Suchen Sie sich also für den Anfang einen Ort, an dem sie gerne jetzt etwas Zeit verbringen möchten. Befreien Sie sich – vielleicht mit einer kleinen Phantasiereise an den momentanen Ort – von Gedanken, die um Vergangenes kreisen und von Störungen, die von Künftigem künden. Lenken Sie sich nicht ab, bleiben Sie bei sich, dem Ort, der Zeit. Die Wahrnehmung des Hier-und-Jetzt entsteht aus der gefühlten Stimmigkeit mit der eigenen Vergangenheit und möglichen Zukünften und der Stimmigkeit von Person, Emotion, Situation, Ort und Zeit. Manche sagen dann, sie hätten ihre Mitte gefunden. Seien achtsam, freundlich zu sich selbst geworden, hätten ihr Lächeln (wieder-) entdeckt, sich mit dem Herzen wahrgenommen. Je nachdem, wo sie die Sprache gefunden haben für diesen ersehnten Zustand, der sich emotional positiv auswirkt. Ob sie sich zu der Beschreibung dieses emotionalen Zustands der ZEN-Sprache oder derjenigen der aktuellen Einredungen der Selbstoptimierungsszene bedienen, das ist nicht von Bedeutung. Wenn es hilft, dann hilft es.

Aus einer Zeitforscherperspektive spricht einiges dafür, sich mit Hier-und-Jetzt-Erfahrungen zu versorgen, um sich selbst in erfüllten und erfüllenden Zeiten erleben – und vor allem: zu spüren. Ebenso wie in glücklichen  Momenten, in Pausen, in der Muße, beim Rasten oder – warum auch nicht – beim Warten. Das sind alles Möglichkeiten, um das Hier-und-Jetzt zu erleben, es sich zu Herzen zu nehmen – und es zur Ressource des eigenen Zeitbewusstseins zu machen.

Also: Fassen Sie sich ein Herz. Hier-und-Jetzt.

Frank Michael Orthey: Zeitumstellung. Für einen guten Umgang mit der Zeit. Haufe-Lexware.

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Kategorien: Zeitforschung

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