„Keine Zeit!“ Das ist zu einem universellen Erklärungsprinzip geworden. Es bedarf keiner weiteren Erklärung mehr. Die Floskel beendet jede Unterhaltung und alle Diskussionen und hinterlässt ein mitfühlendes und oft auch solidarisches Bedauern für die derart Geplagten. Der proklamierte Mangel an Zeit verbindet diejenigen, die sich (leider!) rarmachen müssen – oder es wollen. Ob alles heute wirklich so viel schneller geht, dass dadurch mehr „Zeitknappheit“ entsteht, sei zunächst dahingestellt. Mit Blick auf allerlei Alltagserfahrungen scheint aber klar, dass wir uns besser aufgehoben fühlen, wenn wir zu den Schnelleren gehören. Und zu denjenigen, die, weil sie in allen Verrichtungen so schnell sein müssen, eben „keine Zeit“ haben. Dann wähnen wir uns auf der sicheren Seite. „Tut mir leid, keine Zeit!“ Diese Floskel vermittelt vor allem Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Gehetzten, zu denjenigen, die sich verausgaben, die alles geben. Und das sind heute in gewisser Weise die Privilegierten, die Angesehenen und die Erfolgreichen. Dieses mentale Modell scheint sich kulturell zu verfestigen. Der Zeitmangel gehört zum Kampf ums gute Dasein und ist zum festen Selbstbeschreibungsinventar hiesiger Gesellschaften geworden. Der Mangel verbindet, die Knappheit der Zeit vergemeinschaftet. Die Wendung „keine Zeit“ hat also zunächst eine Funktion, die gebraucht wird.
Durch die Floskel „Tut mir leid, keine Zeit“ wird in einer auf die Gemeinschaft gerichteten Perspektive Zugehörigkeit ausgedrückt. Das ist ihre Funktion. Soziologisch gesehen wird dadurch „Inklusion“ und „Exklusion“ geregelt. Das heißt: Wer auch keine Zeit hat, der- oder diejenige ist drinnen, gehört dazu. Wer dagegen Zeit hat, gehört nicht dazu. Der- oder diejenige ist draußen. Übrigens oft auch im wörtlichen Sinne: draußen aus dem Unternehmen oder draußen aus der Behaglichkeit einer Wohnung in der unwirtlichen Kälte der Straße oder unter einer Großstadtbrücke. Grund genug, sich über zeitlichen Mangel als zugehörig zu erklären. „Meine Zeit ist schließlich auch knapp!“ Das zeigt ja wohl, dass ich dazugehöre, mitten drin bin in dem, was gesellschaftlich akzeptiert und präferiert ist. Ich gehöre zur Gemeinschaft derjenigen, die in Zeitnöte geraten. Das sind die Erfolgreichen, die Fleißigen – nicht die Müßiggänger, die nichts mit ihrer Zeit anfangen können oder wollen. Insofern hat der Zeitmangel auch eine soziale Funktion, denn in Not geratene Menschen rücken zusammen, bedauern und unterstützen einander voller Verständnis in der Not. Das tut gut und erwärmt in der Kälte der (Zeit-) Not.
Auch in einer auf die Person gerichteten, individuellen Perspektive machen zeitliche Vorstellungen, die wir uns machen, Sinn. Deshalb machen wir sie uns so, wie wir sie gebrauchen können. Sie sind wichtig, haben eine Bedeutung, eine Funktion, einen Nutzen. Wir machen uns Bilder von uns in der Welt, damit wir uns als einzigartiges Wesen unterscheiden bzw. als solches von anderen unterschieden werden können. So geben wir uns ein – günstigstenfalls – unverwechselbares Profil, werden erkennbar und sind dadurch in der Vielfalt der Welt zu verorten, von uns selbst und von anderen. Wir geben uns in einer bestimmten Weise, wir kleiden uns, pflegen unsere Macken und Besonderheiten, leben auf dem Land oder in der Stadt, in einer Loftwohnung oder im Reihenhaus, arbeiten im öffentlichen Dienst, einer Garagenfirma oder freischaffend. Wir pflegen Lebensabschnittspartnerschaften oder leben in Großfamilien, machen Sport im Fußballverein oder im Fitnessstudio. All das komponieren wir so stimmig für uns, dass wir abgegrenzt sind. Das gibt uns unsere Unverwechselbarkeit, unsere Identität, unseren ganz eigenartigen „Sinn des Lebens“. Wir „konstruieren“ uns in der Welt als einzigartiges Individuum, so dass dies für uns selbst und unsere Umwelt sinnvoll und brauchbar ist. Ein zunehmend bedeutsamerer Aspekt für diese Besonderheitsbilder und Sinnkonstruktionen ist die Zeit. Zeitliche Konstruktionen werden gebraucht, um sich seiner selbst, der anderen, der Organisation, der Gesellschaft oder der Umwelt zu vergewissern. Auch dadurch bekommt das Dasein einen Sinn. Ich weiß, wer ich bin auch dadurch, dass ich weiß, wann ich es wie bin. Oder zumindest: wann ich es sein will. Deshalb konstruiere ich für mein Leben auch einen zeitlichen Rahmen. Selbstfindung und Selbstverortung ist auch „Selbstverzeitlichung“. Ich pflege meine festen Rituale und Routinen, nehme mir täglich Zeit für Sport und Familie, nehme mir einmal im Jahr meine Auszeit, mache mal schnell die Mails, führe meinen Terminkalender, der die zeitlichen Bedingungen des Lebens visualisiert und sichtbar macht – in manchen Unternehmen ist der auch über Outlook für die anderen sichtbar. Tendenziell ist der Kalender heutzutage voll und wird immer voller. Es gilt nicht mehr „Je oller, je doller“, eher wohl „Je voller, je toller“. Das ist eine hohe Brauchbarkeit, ein großer Nutzen der zur Schau gestellten Zeitknappheit: Wir gehören dazu, erfüllen die gesellschaftlichen Erwartungen – und wir sind wichtig. Grund genug, unsere Konstruktionen von Zeitknappheit weiter zu verfeinern. Das macht Sinn für uns und unsere Umwelt.
Übrigens auch denjenigen, sich zu schützen vor allerlei Zumutungen. Sorry, dafür habe ich keine Zeit. Die innere Stimme hört sich etwas anders an: Dafür ist mir meine Zeit zu schade. Doppelter Gewinn also. Einerseits gehöre ich dadurch, dass ich keine Zeit habe, dazu, bin wichtig, unverzichtbar gar. Andererseits schütze ich mich vor allerlei Unbill, den ich mir nicht antun mag. Eigentlich eine ziemlich charmante und Sinn-volle Idee. Oder?
Zudem … – aber das muss unter uns bleiben: Wenn ich „keine Zeit“ habe, dann bin ich auch offen für die zahllosen Angebote derjenigen, die – natürlich kostenpflichtig – Hilfe, Beratung und viele wirkungsvolle, tolle Tools für derart geplagte ZeitgenossInnen offerieren. Da bin ich via meines Zeitmangels auch noch mitten drin und voll dabei in der oberangesagten Selbstoptimierungswelle. Nebst Aufmerksamkeitsgewinnen und vielen Kommunikationsanlässen. Ein nützliches Ding eigentlich, dieser Zeitmangel.
Und – auch das – unter uns gesagt: Einen faktischen Mangel an Zeit kann es ja kaum geben. Einerseits kommt ja offenbar ständig was nach, das wir Zeit nennen. Andererseits weiß ja keiner so wirklich genau, was da nachkommt und „Zeit“ genannt wird.
Jetzt ist aber Schluss – für so was hab‘ ich wirklich keine Zeit!
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