Ist Ihnen aufgefallen, wie häufig derzeit in der Werbung mit zeitbezogenen Begrifflichkeiten operiert wird? O.k., vieles davon ist bekannt und bereits etwas verbraucht: Hier werden „kostbare Momente“ verheißen, dort „wertvolle Zeiten“, natürlich öfters mal die vielfach gewünschten „Wellness Auszeiten“ und bei Manufactum heißt es gerade auf dem neuen Katalog: „Lang lebe der Augenblick. Geschenke für eine gute Zeit“. Ein aktueller Reiseprospekt aus dem (analogen) Briefkasten – Titel „Bezaubernde Zeiten“ – setzt ganz auf Entschleunigung und Verlangsamung: „Go slow!“ Beim Reisen soll die Langsamkeit (wieder-) entdeckt werden. Ging es früher oft darum, möglichst schnell zu reisen und in kurzer Zeit viel zu sehen und zu erleben („Europa in 6 Tagen!“), wendet sich jetzt das Blatt der Attraktivität. „Von der Geschwindigkeit zur Entschleunigung“, „bewusst verweilen“ und „ein Lob der Langsamkeit“, so heißt es im Prospekt, das in wertiger Magazin-Aufmachung daherkommt und schon haptisch und optisch zum Verweilen einlädt. Die verheißenen „bezaubernden Zeiten“ haben denn auch ihren Preis: 12 Tage Tansania mit Safari und Strand für 6.210, Euro pro Person im Doppelzimmer sind ebenso eine Ansage wie im Katalog von Manufactum die „guten Dinge“ für „genussvolle Momente“: Sie räkeln sich im „Sessel Mariposa“ (980,-), eingekuschelt in die „Decke Lammwolle Fischgrat“ (148,-), hören auf dem „Rega Planar 1 Plattenspieler“ (380,-) „Schumann The Symphonics auf Vinyl“ (299,-), deren „strahlenden Klang“ sie zuvor mit „sauberer Rille“ unterstützt haben – mittels der „Schallplattenbürste Ziegenhaar“ (85,-). Macht für den Augenblick 1.892,- Euro! Momentchen mal: Das ist viel Geld für circa 3 Sekunden, denn solange dauert der ersehnte, der bezaubernde Augenblick aus Sicht des Gehirns. Egal, die Augenblicksindustrie gibt es her. „Lang lebe der Augenblick!“ Langlebigkeit kostet, ebenso wie die Langsamkeit. „Zeit ist Geld.“ Das hat uns die Industriemoderne hinterlassen. Ursprünglich war das als Beschleunigungsprinzip gedacht: Immer mehr Arbeit, Produktion, Dienstleistung, Güter in immer kürzerer Zeit. Der Klassiker. Jetzt gilt das auch für das Gegenteil des time-is-money-Prinzips: Mehr Entschleunigung und Langsamkeit kosten auch mehr Geld, nicht mehr nur Beschleunigung und Geschwindigkeit. Diejenigen die bei „slow food“ dabei waren, hatten geahnt, dass der langsame Genuss teuer werden könnte. Tja, Zeit muss man sich eben leisten können. Schwachsinnssatz. Wir selbst entscheiden über unsere Zeit, egal was uns der Verlangsamungsmarkt einredet. Dennoch scheint der Markt mit der Entschleunigung zu laufen. Und ja, kleiner Unterschied: Es ist ein Marktgeschehen, das läuft. Etikettenschwindel: Hier geht’s nicht um Zeit, sondern es geht um Geld. Die Wiederentdeckung der Langsamkeit ist ein Marketing-Konzept, das angesichts der Durchtaktungs- und Vergleichzeitigungserfahrungen laufen muss. Denn das ganze Wischi-Waschi heutzutage produziert Sehnsüchte nach dem Verweilen, nach Bewusstheit, nach Achtsamkeit und Beachtung statt der vielen Flüchtigkeiten. Im Bildungsmarkt gibt es deshalb für hinreichend erstverdächtige Zielgruppen (Manager, Führungskräfte) schon lange die gut laufenden Selbsterfahrungsformate in Klöstern – offline in Klausur versteht sich. Stundengebet statt Wischi-Waschi. Endlich mal runterkommen. Das kostet. Jetzt dehnt sich dieses Marktgeschehen immer mehr aus in den Alltag. Gut, die Anzeichen sind seit Jahren unübersehbar (und auch in diesem Blog bereits mehrfach gewürdigt worden): Meditation, Yoga und diese Sachen boomen. Die Mitte finden ist angesagt angesichts der ständigen Entgleisungserfahrungen im Dauertaumel. Das macht Sinn für viele – und deshalb machen es ja auch viele. Damit sie in der Hektomatikwelt so was wie Stimmigkeit für sich hinbekommen. Aber jetzt, bitte, das muss man sich mal vorstellen: Je langsamer der Urlaub, desto mehr kostet er. O.k., wenn der Markt es hergibt. Dann bitte: Go slow.

John Franklin, (in diesem Blog gerne und mehrfach gesehener Gast und) Hauptfigur in Sten Nadolnys Klassiker „Die Entdeckung der Langsamkeit“ gelingt es, die Langsamkeit, die ihm wie eine Behinderung erschien, zur Ressource zu machen und sie als solche zu nutzen. Er ist aber nicht im Urlaub, sondern beruflich als Seefahrer unterwegs (nein, es handelt sich nicht um ein Kreuzfahrtschiff). Sein Modell ist übrigens, dass es jemanden gibt für die schnellen Dinge (Geschäfte führen usw.) und jemanden, der Ruhe und Abstand hat, der an den entscheidenden Stellen nein sagen kann, der sich nicht um das Eilige kümmert, sondern sich einzelnes lange anschaut“.[1] Ihm ist es gelungen, Langsamkeit im Alltag zu pflegen – und sie dort sogar (beruflich) zu nutzen.

Sicher können Sie viel Kohle hinlegen für einen langsamen Urlaub. Gute Entspannung in diesem Falle! Im Sinne von angestrebter zeitlicher (innerer) Stimmigkeit ist damit aber nur temporär begrenzt ein begrenzter und übersichtlicher Gewinn zu verbuchen (es sei denn Sie sind der Veranstalter solcher Reisen). Anders, wenn es dauerhaft gelingt – wie im Falle von Nadolnys Romanfigur John Franklin -, der Langsamkeit im Alltag ihren Platz (zurück) zu geben. Das muss ja nicht exklusiv sein, denn das lassen die allermeisten Lebens- und Arbeitsmodelle heute kaum zu. Und manchmal spricht ja auch einiges funktional für Beschleunigung und Geschwindigkeit. Die können bisweilen recht nützlich sein. Ausschließlich schnell zu sein, bedeutet aber oft, flüchtig zu werden, unaufmerksam und häufig unachtsam (nicht zuletzt sich selbst gegenüber). Die Welt rauscht vorbei und hinterlässt nur ein unspezifisches Rauschen im Hintergrund. Insofern hilft es, auch mal langsam zu machen. Damit es dann auch wieder schneller weitergehen kann. Langsam mal wieder der Vielfalt der Zeiten im Alltag Raum geben – das ist die Perspektive. Im Alltag ist die Langsamkeit auch günstiger als beim Reiseveranstalter. Sie bekommen sogar was raus dafür. Bei sich selbst. Die Langsamkeit ist ein menschenfreundliches Prinzip: bedächtig, vorsichtig sich selbst, anderen Menschen, den Dingen, den Ereignissen und der Umwelt gegenüber. Insofern ja: Go slow. Lassen Sie es zur Abwechslung auch mal langsam angehen.

Wenn das nicht reicht, dann steht Ihnen ja noch der go-slow (engl., Subst.) zur Verfügung: Das ist der Bummelstreik, eine fantastische Intervention der Werktätigen, die nicht das viele Geld für die go slow-Reisen besitzen. Heute von 10.00 – 12.00 Uhr ist Bummelstreik! Da wird dann – nach heutiger Definition – „Dienst nach Vorschrift“ gemacht. Langsam, sehr genau und auch mal übergenau. Das wäre wohl für viele Arbeitstätigkeiten doch auch ein Gewinn, es mal wieder vorschriftsmäßig genau zu machen und es nicht möglichst schnell hinzuhudeln. Auch so kann die Langsamkeit zur Qualitätszeit werden.

Go slow.

P.S.: Die Uhrumstellung am Sonntag von 03.00 auf 02.00 Uhr gibt womöglich einen willkommenen Anlass. Investieren Sie doch die derart „gewonnene“ Stunde mal in was Langsames.

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[1] Nadolny, Sten: Die Entdeckung der Langsamkeit. München, Zürich, Piper Verlag 1983, S. 273

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Jetzt mal schön langsam!

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Kategorien: Zeitforschung

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