Kinder sehnen es herbei, das Älterwerden. Sie wünschen sich, endlich „groß“, „erwachsen“ zu sein – und dann dazuzugehören. Und damit etwas mehr, vermeintlich (fast) alles zu dürfen und zu können. Dass dies dann auch Selektionsprobleme mit sich bringt, die manche als Zeitknappheit oder Zeitdruck wahrnehmen, haben sie noch nicht auf dem Schirm. Zeit scheint in der Kindheit wie ein unendliches Meer von Möglichkeiten. Dass die ersehnte Zugehörigkeit zu den „Großen“ einen Verlust des Meeres zeitlicher Möglichkeiten zugunsten begrenzter zeitlicher Kanäle bedeutet, das ist noch nicht klar. Woher sollte diese Klarheit auch kommen? Sozialisation und Bildungssystem sorgen ja mit dafür, dass alles seine Ordnung behält mit dem Älterwerden, indem sie das Maß der Zwänge für die „Heranwachsenden“ unmerklich aber auch stetig erhöhen. Die Kanäle werden begrenzter und die Flußgeschwindigkeit wird erhöht.
Pubertierende geben aber nochmal ordentlich Gas auf dem Weg zu einem anderen, vermeintlich „besseren“ Alter. Aber kaum scheint ein solcher Zustand von Autonomie und Selbstbestimmtheit in den enger werdenden zeitlichen Kanälen erreicht, schielen manche auf das Alter – und finden es gar nicht mehr so prickelnd. Sie wähnen ab 25 beginnenden Verfall, der dreißigste Geburtstag schmeckt schon bitter, der Vierziger erscheint schier unbegreiflich, mit fünfzig wird’s richtig krass – und mit sechzig deklarieren sich manche als die Vierziger von vor 20 Jahren. Die – das entlastet! – sind dann mit 80 die 60-er von vor 20 Jahren. Na ja, wenn’s denn beruhigt. Mehr ist es aber auch nicht. Denn die Zeit schreitet voran – was soll sie auch sonst tun? Von der durchschnittlichen Lebenserwartung her gesehen, steht zwar statistisch gesehen immer mehr Lebenszeit zur Verfügung, aber irgendwie wird auch zunehmend klarer, dass die Lebensnummer etwas Endliches hat. In unserem Älterwerden nähern wir uns dem eigenen Ende. Was auch immer wir uns auch einreden (lassen). Kurzzeitig mag es ablenkend oder tröstlich wirken, zum sogenannten „Best Ager“ gemacht zu werden, aber es ändert den Sachverhalt der mit dem Altern abnehmender Lebenszeit nicht wirklich.
Die meisten Zeitgenoss:innen wollen gerne alt werden. Zunächst jedenfalls. Besonders scheint das der Fall in einem (gefühlten) Alter „dazwischen“. Die Altersvorstellung, die dem Gerne-alt-werden-wollen zu Grunde liegt, scheint oft eine, die das aktuelle (noch) „junge“ Gefühl konserviert. Nicht wenige sagen aber, wenn es ihnen dann gelungen ist mit dem Altwerden, dass sie sich das doch anders vorgestellt hätten. Und erfinden vermeintlich witzige Beschreibungen dazu: „Altern ist nix für Feiglinge“ – oder so. Bevor es so weit kommt, wird lange Zeit so getan, als wäre Alter etwas, das vermieden oder so gestaltet werden kann, als sei es gar nicht alt. Forever Young! Das gilt vor allem im Alter. Oft wird es auch durch Aktivitäten belegt, die klassischerweise eher dem Jugendalter zugeschrieben werden. „Seht her, was sie/er noch macht! Alle Achtung. Ein junger könnte es nicht besser.“ Das zu hören, tut gut, ändert aber nichts am Illusionscharakter der Forever-Young-Einredung. Umso mehr werden solche Illusionen gepflegt, um die damit verbundenen Hoffnungen in der Außenwirkung abzuernten. „Wie alt ist er? Nein, nicht wirklich!“ Was aber hilft solch oberflächliche Illusionsbildung und was helfen die erwünschten Fremdbilder? Sie lenken ab und beruhigen – jedenfalls eine Zeit lang.
Zeit ist eine Konstruktion, eine Sinnstruktur, die es uns ermöglicht, uns im Lauf der Dinge zu verorten, uns im Nacheinander und im Verhältnis zu unserer Umwelt zu ordnen und zu positionieren. Das macht Sinn. Im Falle der Zeitordnung „Alter“ finden diejenigen, die diese Positionierung für sich nutzen, den Sinn allerdings nicht immer ganz geschmeidig. Neben dem Runterticken der Zeit in Richtung der eigenen Endlichkeit werden mit dem Alters-Sinn ja üblicherweise auch diverse Einschränkungen oder gar Gebrechlichkeiten verbunden. Im Alter ist nicht mehr alles für alle Zeiten möglich. Insofern gilt es für viele, die noch verbleibende Zeit möglichst gut zu nutzen. Das heißt meist, die eigenen Zeiten mit möglichst vielen bewussten Erlebniseinheiten zuzupflastern. Günstigstenfalls soll das für ein intensives Erleben sorgen, oft endet es aber auch im sogenannten Rentnerstress. Immerhin gibt’s ja für diese Klientel die ein oder andere Vergünstigung. Apropos: Ich wähnte mich in meiner Zeitforscheridentität offenbar (arrogant) auf einer anderen Flughöhe unterwegs bei dem Thema. Umso heftiger zwickte es mich, als ich vergangene Woche erstmalig in einem Museum gefragt wurde, ob für mich nicht der Seniorenrabatt in Frage käme. Ich antwortetet mit einem entschiedenen „Nein!“ – obschon irritiert, hatte ich blitzschnell gecheckt, dass ich als 61-jähriger für den ab 65 gültigen Seniorenrabatt noch (viel!) zu jung war. Das war doch auch augenscheinlich! Es tat dann so richtig weh, als die kundenorientierte Einlasserin nicht ablassen konnte und nochmals ausholte: Wirklich nicht? Da war wohl etwas anderes in der Augen Schein 😉
Menschen im Alter neigen dazu, das noch mögliche Nacheinander zu überfordern, es zu überfüllen, es zu eng zu takten. Der entstehende Stress lenkt zwar kurzfristig ab, verschärft aber letztlich die Alterswahrnehmung noch mehr und führt, wenn das gewahr wird, gelegentlich in depressive Gefilde. Schade eigentlich, denn – Achtung: Unwort – „eigentlich“ ist es doch schön, das Alter. Diesen Zustand derart für sich – schön! – etikettieren und einordnen zu können, setzt voraus, dass ich mich innerlich altersgemäß aufstelle und äußerlich dem adäquat verhalte. Dann kann eine Stimmigkeit entstehen. Das heißt nicht notwendigerweise, mit 60 „am Stock zu gehen“. Die Stimmigkeit ist individuell unterschiedlich. Manch eine/r geht am Stock – aber o.k., das ist heute meist ein Walking-Stecken. Andere wollen und brauchen ihn nicht und wählen altersgemäß etwas anderes, das es ihnen erleichtert, das Alter zu er-leben. Und das ihnen gefällt und Freude und Lust bereitet. Das kann ich mir ja überlegen. Und dieses Überlegen kann bereits Freude bereiten. Da kommen dann so Gedanken auf wie: „Was ich immer schon mal machen wollte“ (und wozu ich jetzt endlich Zeit habe). Manches muss auch altersgemäß entsorgt werden, weil es zum Olympiasieg mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr langen wird. Aber womöglich für eine späte Laufkarriere (in der Seniorenklasse). Vieles kann auch neu ausprobiert werden. Geht es noch? Oder geht stattdessen etwas anderes, das womöglich sogar mehr Freude macht?
Altern bedeutet auch, sich an beobacht- und vor allem spürbaren Begrenzungen abzuarbeiten. Immer wieder neu, weil sich die Grenzen ja immer weiter verschieben. Das ist für manche kompetitive Menschen in Wettbewerbskontexten anspruchsvoll. Aber in unseren Zeiten gibt es ja auch Klassen für späte Karrieren. Manche/r kokettiert auch damit – und klebt auf sein historisches Rennfahrzeug den Ü-85-Aufkleber. In diesem Jahr hoffe ich auf den Einsatz dieses geschätzten Sportfreundes mit 90. Schnell und sicher ist er allemal. Aber was kommt dann? Auch das eine bedeutsame Frage, die sich stellt, wenn ein deklariertes Ziel – zum Beispiel „mit 90 will ich nochmal im Rennauto starten“ – erreicht ist. Ist dann Schluss – mit was? Für immer? Kommt dann noch was? Und wie wird das ausschauen?
Immer neue Fragen und Themen, die entschieden werden wollen. Solange sie entschieden werden können, ist das irgendwie ein Luxusproblem. Denn dann ist ja noch Leben drin in den Entscheider:innen. Nichtsdestoweniger werden solche Fragen und zu entscheidende Themen oft als belastend erlebt. Das liegt wohl auch daran, dass die Entscheidungen immer damit verbunden sind, von etwas loszulassen. Auch wenn dann bestenfalls neues, anderes möglich ist, bleibt doch Ablösungsarbeit zu leisten. Und das ist auch Trauerarbeit, die ihre Zeit braucht. Zu sagen: „Ich werde dieses und jenes nicht mehr machen. Das ist das letzte Mal“ – das kann bei aller Freude darüber, dass es – so lange! – ging, auch traurig stimmen. Denn damit ist jetzt Schluss. Natürlich bietet jedes Ende auch Möglichkeiten des Neuanfangs. Aber bevor die Energie im Neubeginn positiv gefärbt werden kann, ist erst mal Trauer angesagt – und nötig!
Wenn dies ermöglicht wurde – und dass dies geschieht, ist wesentlich – dann kann der Blick auf neues, andere Mögliche gerichtet werden. „Mag sein, dass jetzt mit dem aktiven Motorsport Schluss ist, aber alte Musikinstrumente und das Musikmachen machen mir große Freude. Und dafür hab‘ ich künftig auch mehr Zeit.“
In dieser Veränderungsdynamik kann das Altern auch etwas Leichtes, etwas Spielerisches bekommen. Es hat seine Reize. Aber die sind erkauft durch neue und zunehmend mehr Begrenzungen. Wenn der Blick der Alternden allerdings nur auf (immer neue!) Begrenzungen gerichtet ist, dann wird’s wohl irgendwann tatenlos im Sessel oder im Bett enden. Wenn der Blick über die Grenze schweift, dann besteht die Chance, in neue Areale aufbrechen zu können. Das sind auch und insbesondere Areale zwischen den Ohren – rationale und vor allem emotionale. Diese zu erkunden und zu entdecken, kann eine neues, der Zeit des Alters angemessenes Denken und Fühlen eröffnen. Das ist die Alternative zur illusionären Forever-Young-Einredung. Manche werden auch deshalb 80, weil sie nicht immerzu versucht haben, 40 zu bleiben 😉
Wenn Ihnen dieses und jenes nicht allzu fremd vorkommt, können Sie die aktuelle Fastenzeit als Zeit altersgemäßer Besinnung nutzen.
Fragen Sie sich in einer stillen Stunde doch mal dieses oder jenes – oder was anderes, das Ihnen altersgemäß 😉 durch den Sinn geht:
- Wie fühle ich mein Alter?
- Was ist meinem Alter gemäß?
- Welche Grenzen und Begrenzungen erlebe ich?
- Was geht nicht mehr?
- Wovon kann/muss/sollte ich mich lösen?
- Wie kann die Ablösung gut gelingen?
- Welche neuen Möglichkeiten eröffnet mir die Ablösung?
- Wie kann ich mein Alter – mir und meinem Alter gemäß – genussvoll gestalten?
- Wie kann ich „spielerisch“ leicht alt und immer älter werden?
Alter, das ist der „große Zwang zur kleinen Freiheit“ (Geißler/Orthey). Manchmal ist es die Freiheit in der Aktivität, mal die in Beziehung – und oftmals diejenige, die emotional oder auch rational zwischen den eigenen Ohren entsteht. „Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann.“ (Francis Picabia)
Nehmen Sie sich die Freiheit, die es braucht, um gut altern zu können.
*
Weil das Thema nicht nur irgendwie neblig wabernd in der Luft hängt, sondern akut anliegt, ist dies der Start in eine unregelmäßige Folge des Alterns in diesem Blog.
Und weil das Alter auch etwas ganz Praktisches hat, entsteht derzeit ein Lern- und Entwicklungskonzept für eine „Senior Self-Leadership-Journey: creactive aging!“
Wenn Sie sich nicht zu alt fühlen, dann hören Sie doch mal in den ORTHEYs-Zeitzeichen Podcast hinein:
Oder Sie schökern in den Zeitzeichen:
ZEITZEICHEN
Ein ABC unserer Zeit.
ISBN 978-3-7504-3216-1
€ 19,99 [D] incl. MwSt.
Erhältlich bei BoD: https://www.bod.de/buchshop/zeitzeichen-frank-michael-orthey-9783750432161
0 Kommentare