Als Zeitforscher unterliege ich – womöglich ähnlich wie andere Zeitgenoss:innen – einer steigenden Genervtheit angesichts alltäglicher „Zeitfresser“. Vor 6 Jahren hatte ich in einem gleichnamigen Beitrag eher zu einem gelassenen Umgang mit diesen raffinierten und gelegentlich trickreichen „Zeitdieben“ angeregt – und dazu, sich die Zeit zur Freundin zu machen und sie in ihrer Vielfalt lebendig zu halten. Regelmäßige Blog-News-Leser:innen mögen dieses Motiv wiedererkennen: Zeitfresser als Verlebendigungs-Ressource quasi. Gute Idee eigentlich (und ein schwieriges Wort: „eigentlich“).

Denn gleichwohl: Es gibt Situationen, in denen mir das mit der Lebendigkeitsannahme meiner Zeit und der Gelassenheit nicht gelingen mag. Angesichts der Dreistigkeit mancher Zeitdiebstähle stellt sich innerhalb kürzester Zeit Genervtheit und gelegentlich Empörung ein. Meist bin ich dann an etwas gehindert worden, das ich vorhatte – durch etwas anderes, das ich nicht vorhatte und mir auch nie vorgenommen hätte vorzuhaben. Ich hätte mir zum Beispiel nie Updates vorgenommen, die einen Neustart erfordern. Verbunden mit dem Wiederherstellen von allerlei, was geschlossen und nicht automatisch wieder geöffnet oder wiederhergestellt wurde. Das erfordert Suchen, die hätten vermieden werden können. Und liefert Suchergebnisse, die beileibe nicht zur Lebendigkeit meiner Zeit beitragen. Oder Authentifizierungen nach irgendeinem doppelten Sicherheitsverfahren, das nicht nur die Benutzung eines weiteren (gerade abgeschalteten) Gerätes erfordert, sondern auch die Eingabe eines Passwortes, das ich erst suchen muss. Schwups, sind 10 Minuten dahin. Oder unangefragte Newsletter im Posteingang, die weggeklickt oder bestenfalls abbestellt werden müssen. Oder Benachrichtigungen, die – obschon nicht eingestellt – nach dem Update wieder angezeigt werden. Und nun irgendwo ausgeschaltet werden müssen. Nebst Login versteht sich, wozu es wieder ein Passwort braucht, eine doppelte Verifizierung. Gelegentlich häufen sich die Überfälle solcher skrupellosen Zeitdiebstähle. Mir scheinen es ganze Diebstahlserien gut organisierter Diebesbanden zu sein. Was den leisen Verdacht aufkeimen lässt, dass hier eine Verschwörung am Werke ist, die es auf meine Zeit abgesehen hat. Aber nein. Weg mit solchen Gedanken! Dennoch waren sie eine Zeitlang da – zu Lasten solcher Gedanken, die ich mir gerne gemacht hätte. Wenn ich mich diesen endlich wieder zuwende, poppen auf dem Schirm, der ein Bildschirm ist, seltsame Autokorrekturen auf, die unnötige Aufmerksamkeit und natürlich meine Zeit binden, weil die KI zu blöd ist, meine wechselnden Lieblingsformulierungen zu erkennen. Im Posteingang erscheinen derweil munter Suchagenten-Benachrichtigungen, die ich – ja es stimmt – wohl mal eingestellt habe. Aber doch nicht so viele. Und nicht ständig! Und nicht mit diesem Ablenkungspotenzial. Oh, ein Musikinstrument ganz in meiner Nähe – schnell mal hingeschaut. Und schnell mal verloren in diesem und jenem. Bloß nichts verpassen: Mittendrin im „Fear of missing out“. Zugegeben, ich mache dies und jenes manchmal parallel, wenn ich in einer Telefon-Warteschleife stecke (das ist ja der Klassiker des feigen Zeitdiebstahls). Trotz des von mir gewählten Multitasking-Desasters dominiert bald die, durch geschmacksneutrale Musikberieselung befeuerte Aggression die von mir gewählte Ablenkungen durch mehr oder weniger attraktive Suchagenten-Benachrichtigungen oder das Wegklicken von Schwachsinn im Posteingang. Da wird der Zeitfresser ganz schnell zum Geduldsfresser und oft zum ultimativen Gute-Laune-Killer. So schnell geht’s vom Diebstahl zum Mord. Wenn ich mich dann durch den ganzen mörderischen Müll hindurchgelitten habe und es kommt dann noch eine Bewertungsanfrage eines Online-Versandhauses, dann ist wirklich Schluss mit lustig. Immerhin: In die Social-Media-Fallen tappe ich nicht mehr, nachdem ich mir hier mal die „wozu brauchst Du das?“-Frage gestellt habe, als ich zuvor dem Zeitdieb gefolgt war, der mir 39 ungelesene Facebook-Nachrichten avisierte. Und wenn da was Wichtiges/Interessantes dabei ist? Dann führt eines zum anderen – und all das führt von mir weg. Und von meiner zeitlichen Souveränität. O.k., die Social-Media-Diebesbanden habe ich nun – endlich oder vorläufig jedenfalls – gestellt und lasse mich nicht mehr einfach so bestehlen. Es liegt ja in meiner Macht und Entscheidungshoheit. Da habe ich mal ein Machtwort mir gegenüber gesprochen, das auch die Zeitdiebe abschreckt.

Wenn ich allerdings durch eine plötzliche Bildschirmanzeige genötigt werde mich der angezeigten „Synchronisierungsprobleme“ unterschiedlicher Geräte anzunehmen, dann werde ich auch mal unflätig – und ganz allein im Büro auch schon mal laut. Damit die beste Ehefrau und Kollegin von allen im Nachbarbüro auch was von meinen Leiden hat. Gewohnheit geworden ist bei diesem und jenem, was da so lockt im Netz, das immerwährende Cookie-Klicken. Überhaupt: die mir ständig abverlangte Klickerei macht aktuell im rechten Arm Sehnenscheidebeschwerden und sie stiehlt mir Mini-Zeiten, die sich häufen. Ich rechne das lieber nicht nach, warte aber gespannt auf diesbezügliche Studien, von deren frustrierender Lektüre ich mir dann die Zeit rauben lassen werde. Erwartbare Ergebnisse sind womöglich und ziemlich erschreckend, was solche Mini-Zeitfresser, die ja quasi die trickreichen Taschendiebe der Zeit sind, sich so zusammenstehlen über einen Tag. Aber sei‘s drum. Haken dran. Ach ja, das gehört auch dazu: Häkchen setzen. Das ist Standard. Und neeeeeeiiiiin: Ich habe die AGBs wirklich nicht auch noch gelesen. Und auch nicht die Widerrufsbelehrung, hinter die ich aber ein bewusstes Häkchen gesetzt habe. Klick, da tick ich aus. Bevor emotionale und andere zunächst unbeteiligte Opfer zu beklagen sind, schau ich – bevor ich es für den Vormittag abschalten möchte – auf mein mobiles Gerät und mir fällt auf, dass ich ja entsperren muss. Wir wischen täglich ohnehin durchschnittlich 173 Meter übers Display (Stand 2019), da kommt es auf diesen Wisch auch nicht mehr an. Wenn wir – was eine Studie sagt – zwischen 53 und 80 mal draufschauen, dann ist das bei einer angenommenen Wachzeit von 18 Stunden täglich etwa jede Viertelstunde einmal Entsperren. Das dauert einschließlich der bei mir ständig zunehmenden „Sie haben ein falsches Muster gezeichnet“-Stolperer etwa 3 Sekunden. 60 mal (angenommen) 3 sind 180 Sekunden – sind drei Minuten pro Tag Zeitdiebstahl nur durch Entsperren. Entsetzlich. So genau wollte ich das gar nicht wissen. Zu spät.

Sicher kann vieles, das hier des Zeitdiebstahls bezichtigt wurde, eingestellt und vermieden werden. Updates können geplant werden und es können Einstellungen geändert werden – und solche Sachen eben, die manche Zeitdiebe fernhalten. Kleines „aber“: Auch das muss gemacht werden und es braucht seine Zeit. Alles hat seinen Preis. Meist ist das auch ein zeitlicher.

Übrigens, weil es mir gerade einfällt nach einem Coaching vergangene Woche, und auch erstverdächtig ist für eine gute Position auf der nach oben offenen Zeitdiebe-Aufregerskala: Nach Updates oder sonstigen nicht beauftragten Einstellungsveränderungen werden beim virtuellen Meeting Kameras und Audiogeräte nicht mehr erkannt. Nach erfolglosem Rumfummeln heißt die Lösung meist: Neustart. Ergebnis siehe oben. Die Zeit ist einstweilen verronnen zwischen Runter- und Hochfahren, Warten auf die Verarbeitung von Updates, die bei dieser Gelegenheit gleich (ebenfalls ohne meinen Auftrag!) mit abgearbeitet werden, Eingaben von Passwörtern, Wiederherstellen benötigter Fenster – und all diese Sachen eben.

Die Zeitdiebe sind gewieft: Sie machen meist überraschend auf sich aufmerksam, lenken dann ab und binden dann die Aufmerksamkeit längere Zeit. Während das geschieht, inszenieren besonders geschickte Diebesbanden parallel neue Ablenkungen. Die Vergleichzeitigung bindet alle verfügbare Energie, die Diebe reiben sich die Hände, weil sie derart fette Beute machen. Eine Kombination aus Überraschungs-, Ablenkungs- und Aufmerksamkeitsbindungs-Effekten. Vergleichzeitigt. Raffiniert! Um dann hinter meinem Rücken tief in die Zeitressourcen zu greifen. Jeder oberflächliche Reiseratgeber warnt vor derlei Diebes-Tricks. Bei Zeiten scheint das nicht zu klappen, obwohl die Strategie bekannt ist.

Aber was tun? Einstweilen Sie darüber nachdenken, können Sie die Liste der kleinen, aber sehr raffinierten Zeitdiebe fortsetzen. Aber Vorsicht: das kann dauern.

Wenn Sie nicht immer mehr zum bemitleidenswerten Opfer solcher kleinen Zeitdiebstähle werden wollen, dann könnten Sie ganz lebenspraktisch Strukturen und Routinen einrichten, um die kleinen Diebstähle zeitlich zu begrenzen, z.B. sich morgens dafür ein „Zeitfenster“ freihalten. Wenn Sie ahnen, dass Sie danach womöglich eine (gerade nicht verfügbare) Stimmungsaufhellung benötigen, planen Sie die Zeiten für die unvermeidlichen Zeitdiebe an anderer Stelle Ihres tagtäglichen Rhythmus, die besser passt für Sie. Und vergessen Sie nicht, sich danach zu belohnen, indem Sie beispielsweise an die frische Luft gehen, um sich zu bewegen. Wenn ich schon beklaut werde, dann bestimme ich jedenfalls wann. Und für meine Leiden belohne ich mich – wenn sie denn schon unvermeidbar sind.

Sie könnten sich zudem auch mal Zeit nehmen, um mit wiederkehrenden Zeitdieben gezielt aufzuräumen: dies und jenes abbestellen, deaktivieren, Einstellungen ändern. Das wäre womöglich ein wertvoller Zeitverlust. Vorab oder währenddessen könnten Sie sich die Wozu-Frage stellen: Wozu brauche ich dies wirklich? Je nach Antwort, haben Sie gegebenenfalls mehr zu entfernen, zu löschen oder zu deaktivieren. Ihre Zeit könnte es Ihnen danken. Besonders dankbar ist aber oft das Gefühl dazu: Erleichterung, Entlastung und Freude über zurückgewonnene Freiheiten. Daraus lässt sich eine Haltung ableiten, die wichtiger ist als das Lebenspraktische: Begrüßen Sie die unangemeldeten Zeitdiebe als etwas Interessantes und nehmen Sie sie zum Anlass, um innezuhalten, mehrfach tief durchzuatmen und sich eine Mini-Pause zu gönnen im Immer-Weiter. Den kleinen Zeitdieben sei Dank. Einige derart auf frischer Tat ertappte ergreifen auch die Flucht. Was bleibt, ist ein bisschen geschenkte Eigenzeit.

Wie auch immer: Das alles braucht seine Zeit, die so meist nicht vorgesehen ist im persönlichen „Zeitmanagement“ oder auf unseren ToDo-Listen. Früher hieß es im klassischen Zeitmanagement: Täglich 40 % Pufferzeiten einplanen. Angesichts dessen, was da zeitintensiv werden kann ohne Einfluss darauf nehmen zu können, heißt es heute realistischerweise: Es braucht mehr Zeiten und zeitliche Dehnungsfugen für Ungeplantes und Unerwartetes, das ja nicht nur von den hier angesprochenen Zeitdieben kommt, sondern aus den ständig kolportierten „zunehmenden“ Unsicherheitslagen unseres Lebens und Arbeitens entsteht.

Und noch ein abseitiger Gedanke zum Schluss: Diebstahl, auch der von Zeit, setzt ja voraus, dass ich das gestohlene Gut besitze. Ketzerische Fragen: Ist das bei der Zeit so? Kann mir etwas gestohlen werden, das ich gar nicht besitze?

Gute Zeiten!

***

Wenn Sie gerade mal keine Zeitdiebe jagen, dann hören Sie doch mal in den ORTHEYs-Zeitzeichen Podcast hinein:

Oder Sie schökern in den Zeitzeichen:

ZEITZEICHEN

Ein ABC unserer Zeit.

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€ 19,99 [D] incl. MwSt.

Kategorien: Zeitforschung
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