Im derzeitigen Winter, der sich justament mit einem abermaligen deutlichen Lebenszeichen im hiesigen Oberbayern in Erinnerung bringt, werden andere als die üblichen zeitlichen Erfahrungen möglich. Gut, im Winter mal etwas Pufferzeit und ein kleines Zeitpolster einplanen, in Kauf nehmen, dass nicht alles zeitlich so am Schnürchen geht wie sonst, das gehört fast schon zur winterlichen Romantik. Im Tölzer Land sind seit Anfang diesen Jahres noch andere Erfahrungen möglich. Die Zeit wird vom aktuellen Winter her gedacht – muss es sogar. In einem Winter, der auch den lange hier Einheimischen als einer der schneereichsten gilt, wird die Zeit um das Schneeräumen und -fräsen herum gedacht und angeordnet. Der Winter gibt vor was möglich ist. Und was nicht. Ganztägiges Schneeräumen und Dächer freischaufeln lässt wenig Zeit für anderes. Die vorhandenen Planungen werden unwichtig. Nicht weil für einige Zeit der Katastrophenfall angeordnet war – was übrigens auch einige zeitliche Ordnungen veränderte, z.B. die Schulzeit durch Verlängerung der Ferien und die Herabsetzung der innerörtlichen Geschwindigkeitsbegrenzung auf 30 km/h -, nein, das alles ist nicht gemeint, sondern die bestehenden zeitlichen Planungen werden unwichtig, weil die natürlichen Umstände es im laufenden persönlichen Alltagsbetrieb erforderten. Und heute auch wieder mal erfordern. Mir fiel das eben an der Schneefräse ein und auf. Und auch, wie gelassen ich es nehmen konnte, nun nicht am Schreibtisch den während zwei Wochen Seminarreise aufgelaufenen Berg von ToDos und Terminangelegenheiten abzuarbeiten. Die Natur fordert etwas anderes. Die Naturzeiten sind in unserer von Beschleunigung, Zeitverdichtung und Vergleichzeitigung gekennzeichneten Zeitkultur weitgehend ausgeblendet. Es geht – so scheint es – eher darum, sich von natürlichen Rhythmen und Zyklen unabhängig zu machen. Alles soll bestenfalls immerzu uneingeschränkt möglich sein – und zwar sofort. Sommers wie winters. Das Wetter ist etwas für eine App. Und – allerdings wohl mit nachlassender Tendenz – etwas für den Small Talk. Es ist nichts, was uns zeitlich einschränken sollte. Na ja, mal abgesehen von den (immer häufigeren) Katastrophenszenarien vielleicht. Das lassen manche gerade noch so gelten. Flugverspätung wegen Tsunami – geht in Grenzen der erschöpften Verspätungsgeduld noch in Ordnung (zeitlich begrenzt jedenfalls). Aber ich bitte Sie, Winterzeit? Wir sind ja nicht mehr in der Urzeit oder in der Vormoderne, wo Leben und Arbeiten noch an natürlichen Rhythmen orientiert war. Wir leben nicht nach einer Naturzeitlogik, sondern sind in einer global tickenden Welt von einer Synchronisations- und Koordinationslogik umgeben und meist: getrieben. Und auf die soll bitte auch Verlass sein.

Wenn Sie diese ach so perfekte (und zugleich störanfällige) Synchronisations- und Koordinationslogik mal vermissen möchten, dann kommen Sie mal zum Schneeschnippen hier ins Tölzer Land (das ist jetzt gerade – Sonntagabend – bevor es gleich dunkel wird, wieder dran). Mal abgesehen von gesunder Frischluftzufuhr und einem nicht unerheblichen Bewegungspensum, das Ihre Sport-Smartwatch Ihnen gerne positiv verbuchen wird, können Sie hier mal so richtig loslassen. Nein, Sie müssen es eigentlich, sonst kommen Sie hier nicht mehr raus. Anpacken eher, Anpacken zum Loslassen – so ist es richtig. Damit Sie wieder raus kommen hier. Denn auch die Mobilität kann kurzzeitig eingeschränkt sein. Wie auch die üblich verdächtigen eng getakteten Aufgaben- und Organisationszeiten.

Zeitordnung im Fünfeck in der „Zeitumstellung“[1]

Allerdings sind auch neue zeitliche Erfahrungen in der Sozialzeit- und Kulturzeitdimension möglich, weil es miteinander, in der Nachbarschaft und im Ort viel zu besprechen und zu erzählen gibt. Vor allem aber kehrt auf dem Umweg über die winterliche Naturzeitgabe etwas zurück, das sonst oft zu kurz kommt: die Eigenzeit. Beim tapferen Schneeräumen kommt das Träumen. Naturzeitlich bedingte Zumutung bringt Eigenzeit-Zugaben. Das ist widersprüchlich, womöglich paradox. So ist es mit der Zeit: Um (wieder mal) das Gefühl selbstbestimmter Zeit erleben zu können, ist manchmal – wie im Falle der witterungsbedingten Winterzeit – eine fremdbestimmte Zeit hilfreich. Wer alles versteht, bleibt hinter seinen bzw. ihren Möglichkeiten. Was wirkt, das wirkt, kommentiert der nie um einen Spruch verlegene (etwas schlaumeierische) Systemiker. Schneeräumen – jedenfalls in diesem Ausmaß – in der momentanen Winterzeit, ist wichtig und dringlich. In der Eisenhowerschen Zeitmanagement-Logik also ganz oben auf der ToDo-Liste. „A-Aufgaben“ heißen die wichtigen und zugleich dringlichen Dinge. Und nun ausgerechnet bei „A-Aufgaben“ – bei dem was sonst super stressig ist – Eigenzeitgefühle? Wenn das so ist – und bei mir stimmt es jedenfalls emotional -, dann könnte das etwas mit der Natur zu tun haben, die hier der Wichtigkeits- und Dringlichkeitsgeber ist. Die Natur darf das (abgesehen davon, dass sie gar nicht um Erlaubnis fragt). Sie hat – jedenfalls bei mir – eine hohe Akzeptanz. Ich bin dankbar für das, was sie dadurch ermöglicht, dass sie ist, wie sie ist. Und das ist am ehesten spürbar, wenn es extrem(er) wird. Etwa so wie im Sommer 2018, als die hitzebedingten Touren zum See mich Langsamkeit (wieder-) entdecken ließen. Und jetzt diese außergewöhnliche Winterzeit mit Schneeräumen. Das macht Sinn – na ja. Und Muskelkater – sicher. Und ein gutes zeitliches Gefühl bei alledem – ganz sicher. Zeit, die uns die Natur schenkt, können wir wohl anders – eben als Geschenk – sehen als andere Zeiten, die wir tagtäglich so eingeschenkt bekommen. So gesehen ist diese Winterzeit ein wahrer Luxus für mein (fremdbestimmtes) Eigenzeiterleben. Abgesehen davon auch eine gute Ausrede, wie mir scheint. „Ich muss jetzt Schluss machen, muss an die Schneefräse und aufs Dach.“ Wer will da schon was sagen? Eher verständnisvolles und gelegentlich fast mitleidsvolles schnelles Verabschieden ist erlebbar. Die Naturzeit ist eben näher an uns dran als menschliche und „natürliche“ Person als die anderen Zeiten, mit denen wir es zu tun haben. Da bekommt sie auch mehr Akzeptanz. Jetzt aber schnell! Es ist schließlich Winterzeit. Da gibt’s eine (Schnee-) Ladung Eigenzeit oben drauf. Nehmen Sie die Naturzeiten, wie sie kommen. Für eine kleine Zeitumstellung sind sie allzeit gut – „… auch im Winter wenn es schneit“.

[1] Frank Michael Orthey: Zeitumstellung. Für einen guten Umgang mit der Zeit. Haufe-Lexware. Freiburg, München, Stuttgart 2017

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Nicht nur für den Winter, wenn es schneit: Frank Michael Orthey: Zeitumstellung. Für einen guten Umgang mit der Zeit. Haufe-Lexware.

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Kategorien: Zeitforschung

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