Heute Ruhetag! In längst verblichenen damaligen Zeiten, als Restaurants grundsätzlich noch offen hatten für Gäste, hat diese Ankündigung an verschlossenen Restauranttüren wohl schon mal genervt. Kein Vergleich hingegen sind solche kleine Genervtheitserfahrungen im Vergleich zu den Stürmen der Entrüstung, mit denen auf die politisch beabsichtigten zusätzlichen „Osterruhetage“ reagiert wurde. Ergebnis: Verzeihung, so die Bundeskanzlerin, „die Idee der sogenannten Osterruhe war ein Fehler. Sie hatte ihre guten Gründe, war aber in der Kürze der Zeit nicht gut genug umsetzbar, wenn sie überhaupt jemals so umsetzbar ist, dass Aufwand und Nutzen in einem halbwegs vernünftigen Verhältnis stehen.“ Also nun doch keine Ruhetage, weil es so schnell dann doch nicht möglich ist. Diese Begründung kennen viele Zeitgenoss*innen von sich selbst, wenn sie (mal wieder) Ruhetage eingeplant hatten, dann aber doch aus – wie sie meinen – guten Gründen einen Rückzieher machen. Der Aufwand, den Ruhetag zu halten, scheint plötzlich im Verhältnis zum Nutzen, der „Ruhe“, zu hoch. Dann lassen wir es eben und machen stattdessen weiter wie immer – meist ruhelos. Wilhelm Busch hat dazu passend gereimt: „Erquicklich ist die Mittagsruh, nur kommt man oftmals nicht dazu.“ Und nun kommen wir also auch nicht zu zwei zusätzlichen Ruhetagen zu Ostern.

Dabei ist doch ein Ruhetag – zumal ein zusätzlicher, kurzfristig eingeführter – erst mal eine gute Nachricht für von allerlei Verrichtungen gehetzte Zeitgenoss*innen. Der Ruhetag ist arbeitsrechtlich ein Wochentag, an dem die Arbeit ruht – oder eben ein Sonnabend oder Sonntag. Fein raus wären in der beabsichtigten Osterruhe übrigens auch diejenigen gewesen, die aus bestimmten Gründen an den avisierten Ruhetagen hätten arbeiten müssen. Sie hätten einen „Ersatzruhetag“ erhalten – und natürlich die Feiertagsvergütung. Schade, dass das mit den Ruhetagen nichts geworden ist. Bei den großen Radklassikern muss spätestens nach fünf Etappen ein Ruhetag angesetzt werden – das ist Reglement. Tatsächlich sind Ruhetage in kirchlicher und politischer Tradition oft angeordnet. „Sechs Tage sollst du arbeiten, am siebten Tag sollst du ruhen“, heißt es im Alten Testament. Das Gebot der Sonntagsruhe hat eine lange Geschichte in christlichen Ländern. In der Weimarer Reichsverfassung wurde es dann auch gesetzlich festgeschrieben. Im Judentum ist die Einhaltung des Schabbats eines der 10 Gebote. Es scheint so, als hätten mächtige Institutionen von jeher das Wohlergehen der rast- und ruhelosen im Blick gehabt, wenn ihnen derart Ruhetage verordnet wurden. Das war natürlich nicht ganz uneigennützig, denn: „Nach getaner Arbeit ist gut Ruhen.“ Damit dann montags gut ausgeruht wieder flott geschuftet werden kann. Insofern ist die Ruhe als Disziplinierungsinstrument nichts Neues. Es geht dabei nicht um die Ruhe selbst, gedacht als „innere Ruhe“, sondern um ihren Nutzen mit Blick auf ein anderes Ziel, also beispielsweise auf die Produktivität der Arbeitenden oder auf die Eindämmung des Ausbreitungsgeschehens.

Trotzdem: Ich fand das eine schöne Vorstellung – gedacht war ja an eine „erweiterte Ruhezeit zu Ostern“: fünf Tage zur Ruhe kommen. Also nicht jetzt mit Blick auf die ganzen zwangsweisen Lockdown-Beruhigungen der Mobilitäts- und Arbeitsgewohnheiten, die wohl bei vielen Menschen doch zu Beunruhigungen führen. Sondern um innerlich zur Ruhe zu kommen. Alles offline am besten in einer richtigen langen Ruhepause. Wie in der Musik eine große – mehrere Takte umfassende – Pause, an deren bewusst gesetzte Ruhephase sich dann eine dahinstürmende, sich auftürmende Harmonienfolge anschließt, die das Herz aufgehen lässt. Das war so mein Bild. Nebst den Frühlingshoffnungen im jahreszeitlichen und im übertragenen Sinne. Lebendigkeit gewinnt die Musik auch durch die Pausen. Sie sind dramaturgisch wichtig und dienen unter anderem der Verarbeitung der vorhergehenden und der Vorbereitung der anstehenden Genüsse. Dabei ist es eine Kunst (der Komponist*innen), die Entwicklung des Musikstückes an einer passenden Stelle durch eine Pause zu unterbrechen. Die Pause soll ja Sinn machen für das Gesamtwerk. Manchmal ergibt sie sich aus der Melodie, aus einzelnen Motiven oder der Verarbeitung des Themas, bevor ein zweites eröffnet wird, manchmal fließt sie aus dem Rhythmus heraus – und manchmal wird sie auch überraschend gesetzt, und ist damit oft sehr wirkungsvoll. Freunde der sogenannten „Kunstpause“ in Vorträgen oder bei Beratungsinterventionen wissen die Wirkungen des in der Pause entstehenden Aufmerksamkeitsgewinns zu schätzen und zu nutzen. Das ist die Kunst der Kunstpause – wie es auch mehr Kunst als das sogenannte Zeitmanagement ist, für sich die passenden Ruhepausen zu finden und zu halten.

Pausen machen nicht nur musikalisch und rhetorisch Sinn, sie halten auch das Leben lebendig, erheben es aus der monotonen Eintönigkeit des Immer-weiter-wie-bisher in – nicht nur – zeitliche Vielfalt. Die Wiederentdeckung dieser zeitlichen Vielfalt erscheint heutzutage dringend nötig, denn bei vielen Menschen mündet die verordnete Einfalt des Lebens und Arbeitens in trostloser Monotonie, die sie mit Mehr-desselben an trostloser Aktivität bekämpfen, um bloß nicht zur Ruhe kommen zu müssen. Der Ruhe ist der Feind, denn in der Ruhe wird nicht die Kraft vermutet, die sprichwörtlich in ihr liegt, sondern im Innehalten der Ruhe wird womöglich eine Klarheit befürchtet, die so gerade nicht wünschenswert ist. Also schnell hektisch weiter. Es hängt ja viel daran – gute Gründe bis hin zur Existenzsicherung sind ja schnell zusammengeschustert. In meiner aktuellen Online-Coachingpraxis erlebe ich so viele kurzfristige Terminverschiebungen wie nie zuvor. Meist werden diese mit Blick auf die eigene zeitlich prekäre Situation begründet. „Danke für Ihre Flexibilität“ – lese und höre ich dann oft. Diese Herausforderungen an meine Flexibilität gehen auch zu Lasten meiner eigenen Ruhepausen. Der Koordinierungsaufwand ist momentan enorm und hat seine zeitlichen Folgen. Insofern hätten mir diese angeordneten Ruhetage schon gut gefallen können. Na ja, dann muss ich mir eben eine andere Begründung suchen, um mal wieder in die innere Ruhe zu kommen. Diese ist es, die ich gefährdet sehe – auch mit Blick auf Fragen und Anliegen der Klient*innen, die ich begleiten darf. Es macht sich tendenziell eine chronische Ruhelosigkeit, eine innere Aufgeregtheit breit und belastet die Gemüter. Da wäre eine Pause doch mal eine feine Sache.

Während ich mir dieses und jenes überlegte und mich in Ruhe-Phantasien verlustierte, las ich schockiert die Eil-Meldung, dass die vorösterlichen Ruhetage nun doch nicht stattfinden sollen – Schlagzeilen: „Merkel kippt Osterruhe“. Es eilte wohl sehr, die Verlangsamung in die Ruhe hinein zu stoppen. Also schnell weiter. Aber: Ich lasse mir meine Ruhetage nicht nehmen und verordne sie mir dann eben selbst! So viel Autonomie muss sein.

Gut beraten wären viele Zeitgenoss*innen mit ähnlichen zeitlichen, „beruhigenden“ (Nicht-) Vorhaben oder Routinen, mit kleinen Pausen zwischendurch, mit regelmäßigen größeren Pausen zur Regeneration, mit fixen Ritualen, die es fördern, zur – inneren – Ruhe zu kommen – und auch mit der Einhaltung von angeordneten und selbst definierten Ruhetagen. Diese individuellen Zeitformen sollten sich an den Rhythmen der äußeren und inneren Natur orientieren. Die heute allseits herbeigerufene Resilienz würde es danken.

Es geht insofern nicht um eine nutzenbestimmte äußere Ruhe (Geschäfte zu, Mobilität und Kontakte begrenzt), wie sie mit der verworfenen Idee der Politik zur Corona-Eindämmung angesteuert war, sondern um die innere Ruhe. „Wenn man seine Ruhe nicht in sich findet, ist es zwecklos, sie andernorts zu suchen.“ So der französische Moralist François de La Rochefoucauld. Manche/r muss das erst wieder oder auch neu lernen, was der Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi ins hier angezapfte Zeit-Zitate-Archiv einbringt: „Der Mensch muss zu innerer Ruhe gebildet werden.“ Das wäre doch mal ein schönes Projekt der – nunmehr erbetenen statt angeordneten – zwangsberuhigten Osterzeit: Die Bildung und Wiederentdeckung der inneren Ruhe. Sie versteckt sich zwischen einer (nicht mehr) gefühlten Stimmigkeit und Balanciertheit, einem (nicht mehr gegebenem) Einklang der vielen Facetten unseres Lebens und Arbeitens und einem (unbekannt gewordenen) Zustand des gefühlten „Gut-bei-sich-seins“.

Diese Form der Ruhe ist eher ein Gefühl als ein messbarer zeitlicher Zustand. Wilhelm von Humboldt spendet den passenden abschließenden Satz dazu: „Die Ruhe ist die natürliche Stimmung eines wohlgeregelten, mit sich einigen Herzens.“

Ruhige Zeiten.

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Gute Zeiten!

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