Wie wäre diese Krise vor 10 Jahren verlaufen – oder vor 20? Ich finde das eine interessante Frage, selbst wenn ich Antwortperspektiven nur auf die digitalen Möglichkeiten beziehe, die es damals nur eingeschränkt gab. Was seit Mitte März in der auferlegten Verlangsamung und in der daraus entstehenden Geschwindigkeit online geschah, befeuerte in ungeahnter Weise vieles, was einstweilen zwar da war, aber in den meisten Kontexten eher zurückhaltend und diskret genutzt wurde. Heute, nur wenige Wochen später, ist vieles selbstverständlich geworden, was ich noch auf dem Heimweg von meinem vorläufig letzten Seminartag am Freitag, den 13. März kaum für möglich gehalten hätte. Zwar hatte ich seit Jahren online gearbeitet in Coaching- und Webinar-Settings, aber dass ich mal ein Wochenseminar als Live-Online-Training leiten würde – und dies für vernünftig gehalten hätte -, diese Vorstellung hätte ich doch eher einer Überdosis Rotwein zugeschrieben. Mittlerweile habe ich dieses und vieles andere online ausprobiert und gestaltet – und dabei Erfahrungen gemacht, die ich eindrucksvoll finde, auch, oder weil sie meinen mitgebrachten und wohl ziemlich zementierten Glaubenssätzen widersprechen.

War Online-Leben schon länger Teil unserer Lebensführung, zum Beispiel beim Einkaufen und dem Rumgedaddel in Social-Media-Kanälen, ist jetzt auch Online-Arbeiten und -Lernen, um das lange gestritten wurde, selbstverständlich geworden. Einschließlich der damit verbundenen Grenzerfahrungen, die jetzt nicht mehr den disziplinären, abstrakten Fachdiskursen entstammen, sondern dem konkreten Erleben, u.a. mit technikbedingten Zusammenbrüchen, fehlenden „echten“ sozialen, aber ganz anderen wertvollen Begegnungen, den eigenen Dynamiken des Homeschoolings, eingeschränkten und zugleich neuen methodischen Möglichkeiten in Online-Webinarräumen nebst flugs neu erfundener kleiner Online-Schummeleien (Videoeinspielungen mit interessierter Mine während des Spülmaschine-Einräumens oder gefakte Teilnehmeridentitäten, die zusätzlich beim Live-Online-Training auftauchen). Viele neue Möglichkeiten also – und einige neue Begrenzungen. Chancen, die neue Risiken mitführen und produzieren. Die Chancen der Online-Kommunikationen haben es ermöglicht, dass der bisherige Verlauf der Corona-Krise so verträglich und für viele auch unaufgeregt war. Jetzt zeigen sich Risiken – die kleineren mit Blick auf die Waage, die größeren stehen zur gesellschaftlichen und kulturellen Ablehnung oder Annahme an. Es verhält sich ähnlich wie mit den politischen Maßnahmen, die erst einmal gemacht wurden – und nun auch kritisch und kontrovers diskutiert werden. So soll es sein – auch bezogen auf die von vielen Seiten aus ökonomischen Gründen gepushten Online-Entwicklungen. Wenn diese Formen, zu leben, zu arbeiten und sich zu geben, bereits seit Jahren durch die Möglichkeiten der Smartphones gut gedüngten Nährboden für Online-Kompensationen in der Krise mitbrachten, wäre jetzt eine gute Gelegenheit, dies alles mal in den Blick zu nehmen, um die Entscheidungsgrundlagen für den zukünftigen Gebrauch zu schärfen. Ja – es geht um Entscheidungen. Nicht um voraussetzungsloses Machen. Was wir in anderen Fällen unseres Lebens und Arbeitens selbstverständlich finden – Entscheidungen für oder gegen etwas zu treffen, das lassen viele bezüglich des Online-Lebens, -Arbeitens und -Lernens wie selbstverständlich weg. Offenbar halten es viele für „alternativlos“ (würden es aber kaum mehr so nennen). Online-Formen und -Formate beim Arbeiten, Leben und Lernen können hilfreich sein und Sinn machen. Voraussetzung dafür ist, dass zuvor entschieden wurde (genaugenommen übrigens darüber, was die Referenz für welchen „Sinn“ ist). Das scheint heutzutage nicht immer der Fall zu sein – lieber wird schnell mal gewischt (durchschnittlich 173 Meter pro Tag übers Display übrigens). Mit einem Wisch ist auch die fällige Entscheidung weg zugunsten einer neuen Möglichkeit. Da gerät Frau und Mann leicht durcheinander und übersieht den ein oder anderen blinden Fleck. Der rückt womöglich in den Blick, wenn wir mal versuchen, das ein oder andere, was zur selbstverständlichen Lebensführung geworden ist, mit analoger Brille anzuschauen. Der Schriftsteller Dave Eggers bringt es in der Wochenendausgabe der Süddeutschen Zeitung im Interview mit dem Titel „Wahnsinn“ auf den Punkt: „Wenn man sich mal analog übersetzt, was man die ganze Zeit macht, merkt man sofort, wie absurd es ist. Niemand sitzt den ganzen Tag vor seinem Briefkasten und fragt sich ständig ganz aufgeregt, was wohl als nächstes reinkommt, wann der Briefträger wieder etwas bringen wird. Die Leute würden zu Recht denken, man wäre bekloppt. Oder in der Schule: Wie soll ein Kind sich auf den Unterricht konzentrieren, wenn vor ihm auf dem Tisch ein Telefon liegt, ein Fernseher, ein Computer, ein Videospielsalon, alles in einem Gerät? Es ist irgendwie aus dem Ruder gelaufen: Wir verhalten uns, als ob uns diese Geräte regieren, anstatt bewusste Entscheidungen zu treffen.“ Nachgefragt zur Analogie für Zwitter, antwortet Eggers: „Jemand stellt sich in irgendeine Seitengasse und belauscht, was zufällig Vorbeischlurfende vor sich hinmurmeln. Und dann hält man sich für informiert.“[1] # Wahnsinn.

Es scheint, als sei bezüglich dieses, auch zeitlich so beachtlichen Online-Anteils unseres Lebens und Arbeitens die ein oder andere Entscheidung nie getroffen worden. Es wurde einfach gemacht, weil es möglich war (leider einer der kleinen Anfangsdefekte der Postmoderne). Jetzt, wo sich das Online-Krisengetue und Gemache, das aus der Not heraus Sinn machte, weil es Weiterleben, -arbeiten und -lernen sicherte, angeblich wieder dem nähert, was manche „Normalität“ nennen, wäre es Zeit für der Entscheidung vorgelagerter Fragen und ihre höchstpersönliche Beantwortung: Was von dem, was wir da zwangsweise Online probieren mussten und durften, soll für mich eine sogenannte „Normalität“ werden? Beim Leben, beim Arbeiten und Lernen? Was davon macht (neuen) Sinn? Was belastet in welcher Art und Weise, schränkt – wie genau – auch ein? Was will ich in welchem Umfang nutzen bzw. mir (bewusst) zumuten? Was (mit-) gestalten? Und was nicht? Was passt für mich online – und wie lange? Und was brauche ich offline? Und was in welcher Mischung?

Entscheidungen sind wunderbare Möglichkeiten, um neue Möglichkeiten zu sortieren im Hinblick auf Arbeiten, Leben und Lernen, wie ich es jeweils möchte, weil es für mich Sinn macht. Für ein Leben, Arbeiten und Lernen, das meinen Bedürfnissen entspricht.

Gute Zeiten für gute Entscheidungen. Online und/oder Offline.

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[1] Dave Eggers „Wahnsinn“. Interview Johanna Adorján. Süddeutsche Zeitung, Samstag/Sonntag, 23./24. Mai 2020, Nr. 118, S. 52

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Gute Zeiten!

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