Erstmals ist es mir in einer Sportreportage aufgefallen. Dem Experten zur Folge, der gerade offenbar ein Ohrwurm-Momentum hatte, fehlte es, jemand hatte es oder es war in irgendeiner anderen Art und Weise ständig bedeutsam: das Momentum.
Ich war in dem Moment etwas ratlos, was gemeint sein könnte. Denn da schien mir ob der Dichte der Begriffsverwendung vieles möglich, um damit gemeint sein zu können. Jedenfalls war mein Beobachterblick erst mal justiert und ich rannte durch die Welt der Zeiten und beobachtete auf das Momentum hin. Dazu neige ich als Zeitforscher. Denn wenn Sprache Bewusstsein macht, dann ist es bedeutsam, wie zeitliche Begriffe Verwendung finden. Und auch, welche neuen oder mit neuem Sinn hinterlegten Worte es im alltäglichen Sprachgebrauch „am Ende des Tages“ gibt 😉
Nun ja, jetzt also das Momentum. Natürlich fällt es auf, wenn der Beobachterblick erst mal verengt ist. Überall Momentum. Das ist wegen der Verengung – sicher übertrieben, obwohl, na ja, es kommt schon (immer?) öfters vor. Ist ja auch kein Wunder. Das Momentum scheint recht unverbraucht und (jedenfalls im Alltagsgebrauch) relativ wenig definiert. Das macht es attraktiv. Denn Sprecher:innen machen sich auch attraktiv durch ihre Sprache. Sie spekulieren – wie der Sportexperte wohl auch – auf Aufmerksamkeitsgewinne durch das von Ihnen gewählte „Wording“. Vielleicht hoffen sie ja auf ein Momentum 😉
Das Momentum könnte gemeint und verstanden sein im Sinne der physikalischen Verwendung als „Impuls“ oder auch als „Schwung“. Oder aber im bereits angepassten Sinne der Alltagssprache als „in Gang, in Schwung kommend“, „Fahrt aufnehmend“ – oder „einen Lauf habend“. Oder als eine Bewegungskraft, als Beweggrund, als Verlauf, als Zeitabschnitt oder Zeitraum – oder: Moment mal – tatsächlich als Augenblick, Moment. In occasionis momento (im günstigen Augenblick) hat Momentum eine zeitliche Perspektive. Aus dem Lateinischen übersetzt wird es als Wichtigkeit, Gewicht, Bedeutung, Wert, Geltung. Es hat also eine Qualität. All das – einschließlich des Diffusen – macht das Momentum attraktiv. Das Momentum scheint eine Wucht zu haben.
Die Sportler in der eingangs erwähnten Motorsportreporttage (ja, ja, ich schaue so was an …) hatten es dem Experten zur Folge nicht. Andere schon. Von keiner Ahnung geprägt, spekulierte ich damals, was die einen haben könnten und was den anderen wohl fehle. „Es“ zu haben, hatte was mit Erfolg oder Erfolgsaussicht zu tun. Wenn es fehlte, womöglich irgendwie abhandengekommen war, dann sah es sportlich düster aus – so schien mir. Diejenigen, denen es fehlte, hatten wohl Schwung, Eigenantrieb verloren. Nicht im technischen, sondern im psychologischen Sinne. Ihnen fehlte die Kraft der Eigendynamik. Andere hatten einen Lauf – oder er schien womöglich wahrscheinlich. Damit sind zwei Aspekte markiert: Der eine ist die Energie, um die es beim Momentum immer irgendwie zu gehen scheint. Und der andere ist der zeitliche Aspekt: Die Energie, der Schwung, die Wucht, der Lauf, die/der sich entwickelt hat – oder künftig erwartet wird. Oder verlorengegangen ist. Der oder die also eine Vergangenheit oder eine Zukunft hat. Oder beides. Dazwischen liegt die Gegenwart, in der sich das Momentum als Augenblick, als Moment verdichtet. Das Hier-und-Jetzt hat dadurch ein Momentum – oder auch nicht.
Den Reiz des Momentums machen sich auch Filmtitel, Organisationen, Agenturen, Institute, Verfahren oder Veranstaltungen zu Nutze – und wurden so genannt. In der Verwendung als Kapitalmarktfaktor bezeichnet ein positives und steigendes Momentum einen bestehenden, sich beschleunigenden Aufwärtstrend, ein positives und fallendes Momentum einen bestehenden Aufwärtstrend, der gebremst wird, ein negatives, fallendes Momentum einen bestehenden, sich beschleunigenden Abwärtstrend und ein negatives und steigendes Momentrum einen bestehenden Abwärtstrend, der gebremst wird. Auch hier: Energie (Aufwärts-/Abwärts-Bewegung) und Zeit (Beschleunigung, Verlangsamung). Dieser Anwendung einen Moment lang folgend, müsste das oft zitierte Momentum also zusätzlich qualifiziert werden, beispielsweise als „positives“ oder „negatives“ Momentum. So hatte es wohl der Sport-Experte gemeint.
Aus Zeitforscherperspektive wäre das ja schon mal ein Fortschritt: Sich der Qualität des Moments bewusstwerden, für sich klären, was für den Moment förderlich oder auch hinderlich ist, welche Energien gerade relevant sind, wohin die Reise womöglich führt – und was getan werden kann, damit das Erleben eines positiven Momentums wahrscheinlicher wird.
In unserem Zeiterleben spiegelt sich immer etwas anderes, das dann (auch) zeitliche Auswirkung hat. Zeitkompetenz bedeutet deshalb, die Qualitätsgeber der Situation zu kennen, z.B. die eigenen Antreiber oder Muster, die Bedeutung der Beziehungsqualität, der Inhaltlichkeit dessen, worum es gerade geht, der jeweiligen organisationalen Dynamik oder des kulturellen Kontextes – sowie der Umwelteinflüsse. All das fließt in die Qualität und in die Zeitlichkeit dessen ein, was wir hier „Momentum“ – oder sonst auch anders – nennen.
Kurzum ist das doch schon mal ganz praktisch: sich auf den Augenblick besinnen – ihn in seinen Facetten wahrnehmen – und ihn (bzw. genauer: den nächsten) gestalten, damit er eine Qualität bekommt. So können wir zu Momentensammler:innen werden.
Das könnte doch ein positives Momentum im noch jungen neuen Jahr werden.
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