Für viele ist es die fünfte Jahreszeit. Andere ZeitgenossInnen verstehen das nur begrenzt. Sie sind innerlich wohl nicht so aufgestellt, dass sie die göttlichen zehn Gebote im Karnevals-, Fassenachts- oder Faschingsmodus übertreten wollen oder können. Diejenigen, denen das liegt, beginnen damit nach der zehn. Nämlich bei der Zahl der Narren, der 11. Am 11.11. um 11.11 Uhr. Dann beginnt für sie eine wahrlich närrische Zeit. Jenseits der zehn Gebote. Ausnahmezeit. Alles ist möglich. Und noch viel mehr – was sonst im jeweiligen Systemkontext nicht möglich ist. Und das war und ist häufig ein politischer, ein ökonomischer oder ein organisationaler. Im Karneval läuft es wider dem tierischen Ernst der Systemlogiken.
In einer Zeitperspektive macht die Karnevalszeit ebenso wie andere, durch Voranstellungen als besondere markierte Zeiten deshalb Sinn, weil sie dem Lauf der Zeit einen spezifischen, oft einen zusätzlichen oder auch einen anderen Sinngehalt vorschaltet. Dieser vorgeschaltete und dann vorgehaltene Sinn ist, je nachdem ob es sich beispielsweise um die Advents-, die Winter– oder die Fastenzeit handelt, ein anderer als der übliche tagtägliche (Wahn-) Sinn. Bei der Karnevals- oder Faschingszeit ist es ein närrischer, ein Sinn jenseits der üblichen Sinnhorizonte. Ein Un-Sinn. So war das jedenfalls mal gedacht. Eine Zeit, in der möglich war, was sonst nicht gestattet und erlaubt war. In den Büttenreden, die im 19. Jahrhundert in heimlichen Versammlungen das Verbot politischer Äußerungen der Besatzer im Rheinland umgingen, konnte und kann alles gesagt werden, was in anderen Diskursen nicht anschlussfähig wäre. Eine Bundestagsrede im Karnevalsmodus oder eine katholische Predigt – das ginge wohl nur als Karnevalsintervention durch. Dass alles möglich ist auch jenseits der etablierten und weitgehend geteilten Sinnhaftigkeiten, das ist denn auch das Besondere dieser Zeit. Derzeit scheint es schwer angesagt, diese ganzen Unmöglichkeiten reichlich zu nutzen. Karneval läuft. Dass heute doch sowieso alles irgendwie geht im Zeitgeist, ist das Eine. Das Andere ist, dass die Karnevalszeit darauf angelegt ist, sich über die selbst- und fremdgesetzten Grenzen hinwegzusetzen. Ob das die Zwänge der Arbeitswelt oder die Begrenzungen der sogenannten Vernunft sind – egal. Jetzt: Erst mal krachen lassen. Jenseits der Selbstoptimierungswelle – wäre doch gelacht, ich bitte euch, einmal im Jahr. Ausnahmezustand. Da geht was. Was sonst nicht geht. Für Außenstehende – wie mich – immer wieder unfassbar. Und irgendwie doch auch beneidenswert. Diese Maskierungen und grenzenlosen Grenzverletzungen. Eine Schau. Eine Befreiung. Jedenfalls für diejenigen, die nicht als Akteure zum hochdifferenzierten System Karneval gehören und in Garden oder Jeckenvereinen tätig sind. Für sie sind die Grenzverletzungen der Narren harte Arbeit. Von Anfang November bis zum Aschermittwoch. Die Närrinnen und Narren steigern – mit regionalen und kulturellen Unterschiedlichkeiten die Dosis der Exzesse und Andersartigkeiten, die dann – je nachdem – am Rosenmontag oder am Faschingsdienstag für den einen oder die andere in einer Überdosierung mündet. Karneval und Fasching öffnen der Unvernunft Tür und Tor – jedenfalls eine (begrenzte) Zeit lang einen Spalt weit. Und das ist einer durchrationalisierten und vernunftdurchdrungenen Zeit hochattraktiv. Dies ist ja auch eine Zeit, die ihre eigenen Risiken und Umschlagprozesse mitführt. Die heißen Trump, Putin oder Kim Jong-un – an Karneval wird gerne personalisiert. Sie landen überlebensgroß und konterkariert auf den Motivwagen in den Rosenmontagszügen und als Pointen in den Büttenreden. Das wirkt entlastend und Närrin und Narr mag womöglich kurz das Gefühl haben, es denen gezeigt, gesagt zu haben. Oder sie zu durchschauen – oder jedenfalls mal ordentlich draufzuhauen. Die Vernunft wird einschließlich ihrer Schattenseiten zum Thema der Karnevalszeit. Sie macht jetzt eine andere, ungewohnte Karriere als Witz und Pointe, wird durch den Kakao gezogen, belacht und in ihrer Überzeichnung und Umkehrung beklatscht. Das macht vielen Spaß – und unser Gehirn freut sich ob der heute im Alltagsbetrieb geläufigen Ernsthaftigkeiten am Überschuss positiver Emotionen. Denn die machen Sinn (sagt die Gehirnforschung ;-). Bei all diesen Unvernünftigkeiten geraten die Karnevalist*en (außer beim Schunkeln) aus dem Takt. Karneval und Fasching bringen diejenigen, die mitmachen, in einen anderen Rhythmus als denjenigen des Alltags. Alltägliche Rhythmen sind bestimmt von Beschleunigung, Zeitverdichtung, Vergleichzeitigung und Unregelmäßigkeiten. Die damit einhergehende Musik klingt demnach oft ziemlich schräg. Ganz zu schweigen davon, dass das Ganze taktlos vor sich geht. Im Karneval gibt es hingegen andere Takte und Rhythmen. Die sind tendenziell gleichmäßiger als die alltäglichen – es sei denn gegen Ende hin, wenn die Frequenz von Kölsch und Alt das ihre hinzutut und es auch hier (aus anderen Gründen als im Alltag) mal taktlos wird. Diese eigenartigen Karnevals- und Faschingsrhythmen machen Stimmung – nicht nur bei den Stimmungsschlagern. Das liegt auch daran, dass kaum jemand Karneval und Fasching alleine feiert – jedenfalls kenne ich niemanden, der- oder diejenige das macht. Karnevalszeit ist eine Zeit des Miteinanders. Auch wenn die Kontakte häufig neu und schnell wechselnd sind. Das gemeinsame Erleben – oft mit erstmals unbekannten und fernen Menschen – regt an und macht Freude. Da wird schnell untergehakt, gemeinsam geschunkelt und manchmal gemunkelt, angestoßen, gelacht, übereinander und das jeweilige Kostüm bestaunt. Apropos Kostüme. Für viele, die Karneval und Fasching feiern, ist das eine ganzjährige Beschäftigung, als was denn im darauffolgenden Karneval „gegangen“ wird. Wie will ich gerne mal sein? Wie gehe ich in diesem Jahr? Als Hippiebraut oder als Superman, als Erdbeere oder als Frosch, als Tüte Pommes oder als Erbsenschote? Das sind wichtige Überlegungen, die für viele Karnevalisten unterm Jahr kleine zeitliche Biotope vom alltäglichen Wahnsinn sind. Um dann mal ganz anders sein und wirken zu können. Nicht nur nach außen. Sondern auch in der Zeit. Schon in der Früh anfangen mit dem Kostümieren, mit gemeinsamen Feiern loslegen, ganztägig zusammen lachen und es abends krachen lassen bis … Keine Ahnung bis wann. Jedenfalls jenseits der Vernunftgrenze soll es wohl sein. Es lebe der Un-Sinn.
Insofern ist die Karnevals- oder Faschingszeit eine begrenzte Auszeit von der Vernunft und ihren Schattenseiten, vom Sinn, der heute häufig verdünnt erscheint – und vom (vermeintlich) Sinnlosen. Karnevalszeit ist eine Zeit des Unsinns. Das erscheint sinnvoll, vernünftig. Und es macht frei. Karnevalszeit ist eine Differenzerfahrung.
Helau und Alaaf! Letzteres soll übrigens „nichts geht über“ oder „über alles hinaus“ heißen. Unsinn über alles hinaus! In diesem Sinne: Genießen Sie schöne „unsinnige“ Zeiten im Karneval und im Fasching.
P.S.: Übrigens machen auch diejenigen, die nicht mitmachen dank derer, die die Karnevalszeiten genießen, oft andere zeitliche Erfahrungen. Aber das ist eine andere Geschichte.
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