Gewaltige Zeiten sind das heutzutage. Dieser Satz ist unterschiedlich versteh- und interpretierbar. Beispielsweise im Sinne von Zeiten, die vom Thema Gewalt her justiert sind, vom gewaltvollen Krieg, von schrecklichen Naturkatastrophen oder der sprachlichen Gewalt im Alltag des Netzes und des Lebens und Arbeitens. Gewaltig, gedacht und verstanden also eher im Sinne von gewaltvoll.

„Gewaltig“ – so einige Synonyme – ist bedeutend, es ist enorm, gigantisch, riesig oder kolossal. Und ja, es ist: einflussreich, mächtig. In diesem Sinne sind gewaltige Zeiten solche, die Macht über uns haben. Oder auch Gewalt. Die uns womöglich in der Gewalt haben, wenn wir viel Zeit mit dem verbringen, was sie uns bieten – oder wozu sie uns (zu) zwingen (scheinen). Das wäre ja ein ziemlich gewaltiger – und ja, auch ein gewaltvoller – Einfluss.

Ebenso wenig wie schlimme, harte oder erholsame Zeiten gibt es per se „gewaltige“ Zeiten. Es gibt nur solche Zeiten, die wir durch eine entsprechende Vorjustierung so empfinden. Die Zeit als solche ist immer gleich – na ja, wie wir spätestens seit Einstein wissen, relativ gleich jedenfalls. Die Beimischung der Beobachtenden gibt ihr erst Sinn. Gewaltigen Sinn manchmal. Der dann auch wieder Auswirkungen im Verhalten hat. Manchmal auch gewaltvoll. Es ist jedenfalls nicht die Zeit als solche, sondern es sind wir, die wir ihr eine Qualität zuschreiben. Es ist die Qualität, die wir meinen zu erleben – und die wir dann mittels eines vermeintlich aussagekräftigen Adjektivs maßgeblich für unsere Zeiten – und die anderer – machen. Das ist unser unmittelbarer Einfluss auf unser Zeiterleben. Und wenn wir das kommunikativ in Umlauf setzen, oft auch auf das unserer Mitmenschen. Wir befeuern entweder Zustimmung oder – heute oft empörte – Ablehnung. Womöglich wird unsere Einschätzung geteilt – und flugs sind die gewaltigen Zeiten wieder etwas gewaltiger geworden. Nur dadurch, dass wir sie in einer gewissen Weise sprachlich qualifiziert hatten. Via Social-Media-Multiplikation vermag eine solche Wirkung auch durchaus quantitativ gewaltige Ausmaße anzunehmen.

Womöglich neigt jetzt die ein oder der andere dazu, zu widersprechen: Der Krieg ist doch schrecklich, das Erdbeben unfassbar gewaltig – das „ist“ doch schlimm. Also sind es doch auch schlimme, gewaltige Zeiten.

Ja, das erleben wir als schlimm. Und das ist gut so, denn es steht ja für Empfindsamkeit und Sensibilität, für Empathie und auch für das, was heute oft „Achtsamkeit“ genannt wird. Schwierig wird dies Empfinden, wenn wir es vorschnell in den „Zeiten“-Status erheben. Es kann schon mal sein, dass dies angemessen ist. Voraussetzung wäre aber, dass aus den individuellen Empfindungen vieler eine Erzählung entstanden wäre, die von den allermeisten so geteilt wird, dass sie sich kommunikativ als soziales Band im jeweiligen System verfestigt hätte. Das kann zudem noch regional unterschiedlich sein. Die Menschen in der Ukraine erleben die Zeiten anders „gewaltig“ als diejenigen im rheinischen Karneval, der heuer wieder uneingeschränkt stattfinden kann. Es kann also schon gewaltig wirken, was uns da begegnet – auch in seinen zeitlichen Auswirkungen. Es kommt aber eben darauf an, wer gefragt oder wer wie gehört wird. Für die einen sind die närrischen Zeiten eine endlich mal wieder gewaltige Erfahrung – für die anderen eine gewaltige Zumutung. Für beide ist es gewaltig, nur anders.

Menschen brauchen Vereinfachungen, um mit dem, was manche von ihnen Komplexität nennen, zurecht zu kommen. Schwierig wird die Vereinfachung in der Verallgemeinerung, die so tut, als sei das für „die“ oder für „alle“ auch so (gewaltig). Die Beimischung von breit interpretationsfähigen Adjektiven und die Kombination mit dem Begriff der Zeiten birgt die Gefahr, dass eine Vereinfachung als allgemein gültig unterstellt wird. Das ist ja heutzutage nicht unüblich: anscheinend üben Vereinfachungen – in welche Richtung auch immer sie weisen – aktuell einen hohen Reiz aus. Aber das ist eine Abschweifung, die ich stoppe, bevor sie zu gewaltig wird 😉

Pragmatisch gewendet heißt das, solche – manchmal gewaltige – Vereinfachungen, genauer unter die Lupe zu nehmen, konkret also: die Referenz zu erheben, die dem jeweils gewählten Adjektiv zu Grunde liegt. Und es heißt weiter, mit dem Zeitenbegriff zurückhaltend umzugehen. O.k., ich weiß, das ist herausfordernd, weil es gerade aktuell närrische Zeiten sind und wir in einer Zeitenwende leben. Nichtsdestoweniger ist es unsere Verantwortung, das mediale Dauergetöse aus Steigerungs- und Empörungsrhetorik nicht auch noch unsererseits im Kleinen weiter zu befeuern. Es darf auch mal etwas weniger sein. Nicht gleich gewaltig – und nicht gleich gültig für alle und aller „Zeiten“. Solche Selbstbeschränkung kann auch entlastend sein, weil es auf die eigene Person und die eigenen Bedürfnisse und das eigene Empfinden zurückführt. „Ja, das freut mich“, oder „es macht mich traurig“, „es erschüttert mich“ oder besser noch mit „ich“: „ich bin berührt“ oder „besorgt“. Das wäre eine (gewaltige?) qualitative Steigerung in unseren Kommunikationen. Wenn Menschen von sich und ihren Gefühlen, auch von ihrer Zeitempfindung (miteinander) sprechen, statt sich in abstrahierende Verallgemeinerungen zu flüchten, über die dann immer weiter so dahin gefloskelt wird.

Wir haben insofern nicht nur die Deutungshoheit über das, was wir wahrnehmen und wie es auf uns wirkt. Wir haben auch die Hoheit darüber, wie wir es zur Sprache bringen. Es geht darum, sich diese Qualität zu bewahren, damit wir auch angesichts dessen, was da so alles gewaltig auf uns einströmt, bei uns selbst und in unseren Ressourcen bleiben können. Und nicht der Gefahr erliegen, in ein zynisches „die Welt ist schlecht und ich kann auch nix daran ändern“ verfallen. Dann sind übrigens weitere Vereinfachungen anschlussfähig – auch kommunikativ: meist geht es dann um „die anderen“, die Welt wird in Gut und Böse aufgeteilt und ruckzuck liegt neue und mehr Kampfesrhetorik an. Diese Dynamik birgt die Gefahr der zusätzlichen Befeuerung „gewaltiger Zeiten“. Besser also: Bei sich selbst bleiben. Denn: Wer bei sich selbst ist, kann auch gut bei anderen sein.

Die Auswirkung auf unser Zeiterleben wäre, dass wir unsere Zeit bewusster erleben. Und sie so auch zu benennen. Statt sie vorschnellt in den von uns als Person entkoppelten „Zeiten“-Status zu erheben und ihnen damit viel (zu viel) Gewalt zu geben.

Als schön und ermutigend empfinde ich es, wie viele Menschen angesichts der Auswirkungen der schlimmen Erdbebenkatastrohen eben diesen Weg gehen. Er mündet im Tun, das im Einklang mit der eigenen Person und den Bedürfnissen und ja auch: den Nöten anderer steht. Es ermöglicht echten Kontakt zu sich selbst und zu anderen. Und es ermöglicht ein intensives (Zeit-) Erleben in der Vielfalt.

In diesem Sinne: Leben Sie solche vielfältigen Zeiten.

Das wäre doch mal ziemlich enorm 😉

Der „Inklusionshimmel“ ist ein Kunstprojekt des Cafe Miteinand in Bad Tölz. Die im Bürgergarten zusammengebundenen, individuell gestalteten Hula-Hupp-Reifen stehen für Einzigartigkeit und Verschiedenheit, für Vielfalt und Verbundenheit in Unterschiedlichkeit.

***

Wenn ihre Zeit es zulässt, hören Sie mal in den ORTHEYs-Zeitzeichen Podcast hinein:

Oder Sie schökern in den Zeitzeichen:

ZEITZEICHEN

Ein ABC unserer Zeit.

ISBN 978-3-7504-3216-1

€ 19,99 [D] incl. MwSt.

Erhältlich bei BoD: https://www.bod.de/buchshop/zeitzeichen-frank-michael-orthey-9783750432161


0 Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

WP Popup