Wir leben in bewegten Zeiten. So ist oft zu lesen und zu hören. Wenn das denn so ist, dann hilft nur: selbst in Bewegung zu bleiben. Das macht systemisch Sinn, wenn davon ausgegangen wird, dass Systeme dann gut aufgestellt sind für sich verändernde Umweltanforderungen, wenn sie das bei sich selbst vorhalten, worauf sie angemessen reagieren wollen.

Also wollen viele unter uns Bewegung bleiben: um allerlei Bewegtheiten unserer Umwelt angemessen begegnen zu können, um uns gut mit- oder gegenbewegen zu können in den Dauerschwankungen unseres Lebens und Arbeitens. Oder um uns eher, schneller, besser, koordinierter und trainierter bewegen zu können, damit wir auch fit sind für allerlei Bewegungen, die uns künftig begegnen. Wir wollen fit für eine vermutlich ähnlich bewegte Zukunft werden. Deshalb ist die Selbstoptimierung eine so starke Bewegung derzeit, damit wir beweglich bleiben oder wieder werden. Immer in Bewegung bleiben in einer guten Kombination von Ausdauer-, Kraft- und Koordinationstraining. Besonders angesagt ist es aktuell, im Gehirn beweglich zu bleiben. Das wäre ja manchmal auch für manche/n kein Fehler. Gemeint ist jedoch nicht die seit Jahrhunderten besungene Kombination des gesunden Geistes, der von einem gesunden Körper profitiert, sondern die Anregung des Gehirns für neue, bislang unbekannte Bewegungen. Das passiert durch Neuverschaltungen aufgrund neuer Herausforderungen, z.B. in einer neuen Kombination von Bewegungen. Also beispielsweise sich die Zähne ausnahmsweise mal mit der linken Hand putzen und dabei auf einem Bein balancieren. Oder so ähnlich. Klar, dass das Hirn sich dann was einfallen lassen muss, neue Vernetzungen aktivieren oder „Verschaltungen“ anlegen. So was wird vollmundig und schick formuliert vermarktet – und natürlich durch die Mitwirkungen namhafter Forschungsinstitute nebst einschlägiger Gutachten in seiner Wirksamkeit beschworen. Das Programm kostet auch – klar. Es soll ja auch Bewegung in die Geldströme kommen. Und in die Gewinnentwicklung. Von den momentan angesagten Bewegungseinredungen profitieren jedenfalls die Geschäftsmodelle, die das dahinterliegende Bedürfnis nach Beweglichkeit zugleich auch durch ihr Marketing befeuern. Schickes Konzept. Hoffentlich sind diejenigen, an die sich derartige Angebote richten und die dafür zahlen, geistig beweglich genug, um diese Dynamik zu erkennen. Denn Bewegung tut not – das ist keine Frage (die auch nicht gestellt wird, weil eben Bewegung per se gut zu sein scheint). Das wird auch – oder insbesondere – für diejenigen verständlich, deren Bewegungsrepertoire vorzugsweise in Wischbewegungen besteht. Wobei – aber das ist wirklich nur eine Randbemerkung zum Thema – ich kürzlich doch irritiert war angesichts einer mir bislang nicht geläufigen Bewegungskombination, die ich auf der Männertoilette in Augenschein nehmen konnte: Wischen und Schreiben auf dem Smartphone beim Pinkeln. Aber womöglich ist das auch so eine Neuverschaltungsübung, die unser Gehirn beweglich machen soll. Wer weiß.

Mit 17 habe ich angefangen regelmäßig zu laufen – vor 40 Jahren war das. Damals war das noch irgendwie was Schräges. So wurde ich jedenfalls joggend angeschaut, bevor das Wort für diese Bewegungsform etabliert war. Heute werde ich auch manchmal schräg angeschaut – das kann aber auch mit der Figur zusammenhängen, die ich da in Bewegung bringe. Mir macht diese Art der Bewegung dennoch Spaß – auch den, dass ich womöglich unterschätzt werde angesichts der selbstoptimiert gestählten Körper um mich herum. Künftig werde ich wohl mal rückwärts Laufen und dabei Jonglieren. Wegen der Erweiterung der Bewegungsoptionen und der Neuverschalterei im Oberstübchen. Ich bin mal gespannt, wie die ZeitgenossInnen dann schauen.

In Bewegung sein, das heißt, sich mit Differenz, mit neuen, mit andersartigen Eindrücken zu versorgen. Das ist angesichts der ganzen monotonen Möglichkeits- und Erwartungsüberschüsse, mit denen wir es heute ständig zu tun haben, anspruchsvoll. Bei den ganzen Möglichkeiten, in denen wir uns so rumbewegen, noch einen neuen Unterschied zu machen, der einen Unterschied macht, das ist was für schlaue (für bewegliche?) Köpfe. Denn das – einen Unterschied machen, der einen Unterschied macht – ist „Differenz“ qua Definition. „Differenzen bilden!“ – das hält uns in Bewegung und hat Bildungswert. Mehr desselben, ja das wäre einfach, aber wenig beweglich. Auch wenn es von außen so ausschaut – wie bei mir jahrelang beim Laufen. Ich lief aber immer nur durch den Wald – der zudem oft auch der gleiche war. Mit kleinen zeitlichen und örtlichen Variationen zwar, aber die Bewegung war eine reine Routine geworden. Immer gleich. Wenig beweglich – jedenfalls nach dem Differenzkriterium. Ich merkte es beim Laufen daran, dass mir nichts mehr einfiel. „Früher“ kam ich vom Laufen zurück und konnte nicht schnell genug alle Ideen und Einfälle, die mir gekommen waren zu Papier bringen. Dann: nichts mehr außer Duschen und dem Wohlgefühl nach körperlicher Betätigung. Beweglichkeit eingeschränkt, eher ein Trott, die immergleiche Dauerbewegung. Ein schönes Ritual, gewiss, aber kaum das, was hier mit Beweglichkeit gemeint ist. Ich habe dann, um neue Bewegung in die Sache zu bringen, aufgehört mit dieser mir jahrelang lieben Bewegung. Das machte einen Unterscheid, der einen Unterschied machte – blöderweise auch auf der Waage. Na ja, manchmal geht das mit der Differenz auch in eine andere Richtung, die erst mal fremd ist und gar nicht angesteuert war. Ich entdeckte dort übrigens den Reiz der Beweglichkeit meiner Finger und Beine (und so mancher etwas korrodierter Verschaltungen im Gehirn) an der Kirchenorgel wieder. Diese Bewegungen, die ich seit meinem 8ten Lebensjahr gelernt hatte, waren zu kurz gekommen. Nun konnte ich sie wiederentdecken – ganz anders als erwartet. Dilettantisch zwar, also (vom Wortstamm „diletto“ her) mit Freude betrieben, aber eben anders als monoton durch den Wald zu hecheln. Und da fielen mir auch wieder Sachen ein beim Musizieren, die das Laufen nicht mehr hervorbrachte, weil ich es zu unbeweglich gestaltet hatte.

Bewegung im hier gemeinten Sinne heißt, öfters mal woanders hin gehen, laufen, fahren, radeln – denken. Betonung auf „woanders“. Und das zu anderen Zeiten, in anderen Kombinationen und Variationen. Dann kommt (wieder) Bewegung in die Sache – und es bleibt Beweglichkeit. Routiniertes Routinebrechen – das ist die Kompetenz, die es für diese Bewegung braucht. Und ja, jetzt laufe ich auch wieder. Ja, mit mehr Gewicht, mal im Wald, mal an der Isar, mal kurz, mal ausdauernd, mal in Kombination mit dem Bike. Im Winter findet das in der Loipe statt. Nur Jonglieren dabei traue ich mich noch nicht so recht.

Aber auch solche neuen Formen der Bewegung benötigen eine gewisse Regelmäßigkeit, damit die neu angelegten Verschaltungen dann auch künftig wieder zur Verfügung stehen und genutzt werden können. Letztlich ist das, was da stattfindet Lernen – Lernen in Bewegung. Und Lernen benötigt Wiederholung – Wiederholung mit Variationen, mit kleinen Unterschieden. Das hat seine zeitlichen Qualitäten, unter anderem das bewusste Erleben von (unterschiedlich ausgedehnter) Dauer in Bewegung mit kleinen (herausfordernden) Unterschieden. Das hält uns in zeitlicher Vielfalt. Nicht die immergleiche Bewegung, sondern immer eine etwas andere. Zudem ist Bewegung etwas, das einen eigenen Rhythmus hat, der gelegentlich erst in Bewegung zu entwickeln ist. Sodass der Bewegungsablauf zur jeweiligen körperlichen Konstitution und zur Umweltanforderung, zum Beispiel zum Profil der Laufstrecke passt. Was zudem für die Bewegung – im Sinne einer körperlichen Bewegung – spricht, das ist die Pause, die uns die Bewegung abverlangt. Die Bewegung selbst ist für viele ja eine Pause von anderen eher passiv und unbeweglich angelegten Aktivitäten, aber auch die Bewegung selbst braucht nachher eine Pause: zum Ausschwitzen, zur Entspannung und zur Regeneration. Sonst entsteht kein nachhaltiger Trainingseffekt der Beweglichkeit. Und die Folgebewegung fällt auch noch unnötig schwer. Bewegung kann insofern nützlich sein, um die Qualität von Pausen wiederzuentdecken und wieder zu erspüren. Der wieder in Bewegung gekommene Musiker nickt wissend, denn er weiß einerseits, dass Musik durch Pausen (die der Komponist im Musikstück vorgesehen hat) lebendig wird und andererseits, dass es auch so was gibt wie ein „Überspielen“. Wenn also zu lange das gleiche Stück geprobt wird, geht irgendwann gar nichts mehr. Die übertrainierte Bewegung führt in die Bewegungsstörung. Da hilft nur eine Pause. Auch dorthin kann uns eine solche neue Beweglichkeit wieder mal führen. Insofern tut Bewegung not und gut in bewegten Zeiten. Mit dem Körper – und auch zwischen den Ohren. Damit wieder mal eine andere Bewegung in die Angelegenheiten kommt, die da so vor sich hineilen, meist mit eifrigen Vergleichzeitigungsbewegungen versehen. Diese Bewegung ist eher ein Vorbeiziehen und -rauschen. Differenzen zu bilden, die Bildungswert haben, das wäre doch mal wieder eine echte Lernbewegung.

Es ist Zeit für Bewegung.


Zeit für die Zeit in Bewegung: Frank Michael Orthey: Zeitumstellung. Für einen guten Umgang mit der Zeit. Haufe-Lexware.

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