Zeitwohlstand – den wünschen sich heute viele. Er wäre wohl das Gegenteil von dem, was viele als  Zeitmangel erleben. Wohlstand ist die andere Seite von Mangel. Die Unterscheidung Wohlstand/Mangel ist eine wirtschaftliche. Im sogenannten Zeitwohlstand wird sie auf ein nicht zu bewirtschaftendes Gut, auf die Zeit, angewendet. Da schwingt wohl die Hoffnung mit, sich im vermeintlichen Zeitwohlstand doch noch etwas mehr von der Welt in das Leben, von dem es vermutlich doch bloß eines gibt, hineinwirtschaften zu können. Da ein bisschen Zeit gespart, dort ein wenig Zeit verdichtet oder eine Tätigkeit verkürzt, einen der gefürchteten Zeitfresser getilgt und schon kommt hinten raus: mehr Zeit. In dieser Denke spiegelt sich das Modernisierungsprinzip der Moderne mit ihrem Beschleunigungsparadigma. Je schneller, desto besser – heißt auch: es geht immer noch ein bisschen mehr. Die damit mental tief verankerte Machbarkeitshoffnung wird zudem genährt durch die Erhöhung der Lebenserwartung. Sie ist seit 1950 stetig angestiegen und liegt momentan für neugeborene Mädchen bei 83,4 und für Jungen bei 78,4 Jahren. Mehr Zeit also auch von dieser Seite her für allfällige Zeitwohlstände, wahrscheinlich, sprich im Erlebensfall jedenfalls. Auch die Flexibilisierung von Arbeitszeitmodellen verspricht mehr Möglichkeiten für autonome Zeitgestaltung. Die Zeit hat wohl ihre Wohlstandsfettpölsterchen angesetzt. Trotz aller Mangelerscheinungen: Zeit wär also da. In jedem Augenblick kommt sogar immer wieder neue hinterher. Unsere Wohlstandsgesellschaft, die vornehmlich wirtschaftlich tickt, nährt wohl die Idee, Zeit sei etwas, dass es zu gewinnen gäbe und der erwirtschaftete Zeitgewinn könne zu einem optimierten Zeitkonsum führen – so hat es Jürgen P. Rinderspacher, auf den der Begriff oft zurückgeführt wird, in kritischer Perspektive herausgearbeitet. Und dann gäbe es so was wie Zeitwohlstand. Toll. Der Wohlstand bestünde also in einer optimierten Verfügbarkeit von Gütern und Zeit. Das ist ein ökonomisches Modell und Denken, das heute allgegenwärtig ist, sich angeblich bewährt hat (so kolportieren es gewisse Kreise) und zur Anwendung auf jeden und alles bei Fuß steht. Schnell noch den Gegenstand mit einem -management Zusatz verbunden, wie in diesem Falle das gerne genommene Zeitmanagement, und schon bekommt die Hoffnung von Machbarkeit und Erfüllbarkeit einen ordentlichen Euphorie-Schub. Der Besonderheit des Gegenstandes Zeit entspricht das nicht. Nichtsdestoweniger scheint der Wunsch verständlich. Und er kommt ja auch von irgendwo her, denn allenthalben ist von Zeitnöten, -knappheit und Mangelerscheinungen die Rede. Das hat vermutlich gesamtgesellschaftlich gesehen etwas mit der postmodernen Dynamik der Erwartungsüberforderung durch immer mehr Möglichkeiten zu tun. Oder mit denjenigen Möglichkeiten, die Beschleunigung und Vergleichzeitigung versprechen.

Wenn es jedoch stimmt, dass Zeit eine von vielen subjektiven und situativen Faktoren abhängige persönliche und relative Konstruktion ist, dann ist Zeitwohlstand wohl eher ein Gefühl – im Vergleich zu anderen Gefühlen, die uns innerlich eher von Zeitnotständen künden. Das Gefühl, dessen Ergebnis wir „Zeitwohlstand“ nennen, wird sich dann einstellen, wenn ich eine Qualität meiner Zeit erleben kann, die mit meinen aktuellen Bedürfnissen im Einklang steht. Die „Wege zum persönlichen Zeitwohlstand“ (Schlote) führen insofern über ein Zeitempfinden, das zu mir als ganz besondere Person in der momentanen Situation passt. Das hat eher wenig damit zu tun, wie ich über meine Zeit Buch führe, sie mir einteile oder gar manage. Denn erfüllende zeitliche Gefühle gibt es immer wieder auch in Situationen, in denen ich zeitlich eher im Spannungsfeld unterschiedlicher Anforderungen stehe. Wenn ich einen reiz- oder liebevollen Blick treffe, scheint die Zeit trotz aller Gehetztheit stehen zu bleiben. Oder wenn ich – weil ich es immer so mache – in der größten Hektik meinen mittäglichen Lauf mache, dann vergesse ich die Zeit, auch wenn sie drängt. Und wähne mich kurz im Zeitwohlstand. Meist habe ich zuvor selbst souverän und autonom über meine Zeit entschieden oder es ist etwas Überraschendes, nicht Geplantes geschehen, das die Zeit gleichwie zum Stillstand gebracht hat. Dieses Zeitwohlstands-Gefühl kann ich mit einer höheren Wahrscheinlichkeit versehen. Nicht durch Kalendereinträge und die Beschleunigung der Taktung, sodass die Zeit – jedenfalls im Kalender – „mehr hergibt“, denn das erzeugt tendenziell Zeit-Notstandsgefühle, sondern zum Beispiel dadurch, dass ich mir für Zeiten, von denen ich recht zuverlässig weiß, dass sie mir und meinem Zeitgefühl taugen, kleine Routinen anlege. Dass ich zum Beispiel um die Mittagszeit zum Laufen gehe, oder wir abends etwa um 19.00 Uhr gemeinsam mit allen Familienmitgliedern essen. Routinen mit kleinen Variationen und Flexibilitäten. Diese sorgen dafür, dass die Routine eher zu einem Ritual wird als zur abzuarbeitenden Pflichtaufgabe, zum „ToDo“. Denn das macht andere – nicht so reizvolle – Gefühle, z.B. etwas abarbeiten und/oder kontrollieren zu müssen. Als Ritual mit kleinen Variationen und Flexibilitäten darf das Essen auch schon mal eine Viertelstunde später beginnen – und es darf auch mal ein Grillen sein um 20.00 Uhr. Der Lauf findet „um die herum Mittagszeit“ statt, hat kleine Dehnungsfugen, damit er nicht unter Druck gerät und auch mal ein paar Minuten länger dauern kann. Nichtsdestoweniger findet beides statt – das ist das Ritual. Diese kleinen Interventionen sorgen dafür, dass Zeiten möglichst mit guten Gefühlen versehen werden können. Das goutiert unser Gehirn und vernetzt sich und unsere Wahrnehmung mit mehr guten Gefühlen. Und wir fühlen uns gut, haben Lust an dem, was wir tun und vergessen oft die Zeit, weil wir uns in und mit ihr richtig wohlfühlen. „Ach Du liebe Zeit.“ Stöhnt so manch‘ eine/r sehnsüchtig. Die Zeit lieben. Das wäre doch wahrlich mal eine Zeitansage mit Zeitwohlstandsgarantie.

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Für mehr Zeitwohlstand:

Frank Michael Orthey: Zeitumstellung. Für einen guten Umgang mit der Zeit. Haufe-Lexware.

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Kategorien: Zeitforschung

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