Zeitlos sein. Das ist für viele Menschen eine wiederkehrende Sehnsucht. Was das bedeutet, bleibt meist diffus, irgendeine Mischung wohl aus der Befreiung von (vermeintlichen) zeitlichen Zwängen, der unendlichen Verfügbarkeit dessen, was wir Zeit nennen und der Freiheit, das Leben im Nacheinander so zu ordnen, wie es gerade passend erscheint. Zeitliche Freiheit quasi, Zeit ohne Ende und zugleich losgelöst von der Zeit. „Zeitlos schön“ – ohne die Einschränkung einer Epoche, überzeitlich. So in die Richtung geht’s mit der Zeitlosigkeit, die sich manche/r wünscht.So in die Richtung geht’s mit der Zeitlosigkeit, die sich manche/r wünscht.

Eifrige Zeitgenoss*innen fällt aktuell eine gewisse mediale Konjunktur des Themas Zeit – und insbesondere der Zeitlosigkeit – auf. Nicht nur, dass gerade das neue Buch meines timesandmore-Kollegen Karlheinz Geißler „Die Uhr kann gehen!“ ein Ende der Gehorsamkeitskultur ankündigt[1], nein, eifrigen Zeitungsleser*innen fällt dieser Tage zudem auf, dass die Meldung der nordnorwegischen Insel Sommarøy, auf der die dort geltende Zeit abgeschafft werden soll, sich eilends verbreitet. Am Freitag schaffte es das Thema ins Streiflicht der Süddeutschen Zeitung.[2] Ist das Zufall oder deuten diese Anzeichen darauf hin, dass sich gerade was ändert mit unserer Zeit (womit wir wie meist üblich die „Uhrzeit“ meinen)? Kjell Ove Hveding von der norwegischen Initiative sagt: „Wir haben mehr und mehr darüber diskutiert, wie unsere Uhr uns Zeit nimmt, anstatt sie uns zu schenken.“ (Fokus online, vom 19.06. um 20.23 Uhr ;-). Auf Sommarøy (deutsch: „Sommer-Insel“) verschwindet die Sonne vom 18. Mai bis zum 26. Juli nicht hinter dem Horizont. Der hierzulande übliche Tag-Nacht-Rhythmus funktioniert dort nicht, die Mitternachtssonne, so Hveding, mache Uhren überflüssig. Diese Logik irritiert. Denn eine solche Form von der Natur abgekoppelter „Zeitlosigkeit“ schreit doch eigentlich danach, über die Uhrzeit eine abstrakte Ordnung zu bekommen. Insofern macht die Initiative stutzig. Denn es war doch die Uhr, die uns abstrakte Zeitordnungen bescherte – und die dann beispielsweise in den hellerleuchteten Fabrikationshallen Ausbeutung rund um die Uhr ermöglichte und Zeit zu Geld werden ließ. Das war die Hoffnung, eine Illusion zwar für viele, aber im Ergebnis in den Geldtaschen der Nutznießer sichtbar. Die Uhrzeit war was wert – und sie gab der Zeit eine Ordnung, die wider der Natur – auch derjenigen der menschlichen – war. Damit ist die Uhr doch das über Jahrhunderte erprobte Instrument, um in der Mitsommernacht den Überblick zu behalten und nicht zu Mitternacht versehentlich den Rasen zu mähen. Die 350 Inselbewohner scheinen allerdings einer anderen Logik zu folgen. Sie wollen sich offenbar vom Diktat der Uhrzeit befreien und zu Mitternacht Rasen mähen, Fassaden streichen oder mit den Kindern zum Spielplatz gehen. Ihre Uhren werden dann wohl ähnlich den Schlössern, die Glück bringen sollen, an einem Brückengeländer entsorgt werden. Befreit vom Uhrzeit-Terror kann wieder alles jederzeit möglich sein. Das ist die Perspektive der unter solchen Bedingungen vermeintlich Zeitlosen. Genaugenommen sind sie zwar nur uhrzeitlos, aber das Gefühl macht womöglich mehr spürbar als die bloße Entlastung von Ziffernblatt und Stundentakt.

Leben wir also in einer Zeit, einer Zeitenwende womöglich, in der wir miterleben dürfen, wie die Zeitordnung der Uhr in Frage gestellt oder gar abgeschafft wird? Das Streiflicht kommt heute am 21. Juni zur Einschätzung, dass die norwegischen Inselbewohner in Wahrheit versuchen, einen „Zipfel der Ewigkeit in die Finger zu bekommen: Sie wollen das Zeitliche segnen, bevor sie den Löffel abgegeben.“ Aha. Wenn die Inselbewohner die gewonnene Zeitsouveränität dann nutzen, um „das Zeitliche zu segnen“, indem sie ihm eine für sie selbst stimmige Form und Ordnung geben, die die Uhrzeit überflüssig macht, dann ist das die wunderbare, die „segensreiche“ Perspektive der Uhrzeitlosigkeit. Ob die Uhrzeitlosigkeit aber die Bedürfnisse aller Menschen trifft, sei dahingestellt. Offen bleibt einstweilen zudem, wie es unter den Bedingungen der Uhrzeitlosigkeit gelingen kann, zeitliche Koordinierung zu organisieren. Bei 350 InselbewohnerInnen kann das womöglich kommunikativ noch klappen. Wie aber soll das bei Milliarden Menschen gehen?

Natürlich melden sich jetzt die Netzfreaks zu Wort und verweisen darauf, dass derartige Koordinierung im Netz völlig unkompliziert möglich sei. Künftig mit den voll ausgeschöpften Möglichkeiten künstlicher Intelligenzen ausgestattet, solle das wohl ein Leichtes sein und der Weg zur Erfüllung aller zeitlichen Bedürfnisse! Die Machthaber im Netz werden diese aufkeimenden Reden eilends befeuern, wie es einst die Machthaber über die Gemeinwesen und die Produktionsmittel auch machten: Sie schraubten Uhren an ihre Türme. Das hatten sie von den Klöstern und den Kirchen abgekupfert, die diese zeitliche Disziplinierungspraxis bereits erfolgreich erprobt hatten seit die Räderuhren verfügbar waren.[3] Die damit weithin sichtbaren zeitlichen Steuerungsmittel wurden zu einer mehr und mehr geteilten Form, um Ordnung ins zeitliche Nacheinander zu bringen. Die Uhren schafften es dann an die Handgelenke und wurden nebenbei zur Mode – und damit auch das, was sie konnten: die Zeit zuverlässig in immergleicher Taktung zerlegen, zergliedern, ordnen und koordinieren. Damit schien die Willkür der Zeit und ihre mit Endlichkeit drohende Offenheit besiegt. Das teilten weitgehend alle Betroffenen, denn es hatte ja auch einen individuellen Charme. Und sei es nur den, das Gefühl zu verstärken, Macht über das eigene Dasein zu haben. Diesen Charme nutzen natürlich die eigentlichen Machthaber – die Gemeinwesen, die Organisationen, Unternehmen, die Staaten und überstaatlichen Zusammenschlüsse – für ihre Machtambitionen. Die Uhrzeit wurde zum schick getarnten Zielerreichungsinstrument der mächtigen Institutionen – und ließ deren Macht immer weiter wachsen. Damit soll jetzt – erst mal auf Sommarøy – Schluss sein. Die Uhr kann weg! Es lebe die eigene, die persönliche Zeitordnung. Alles weitere wird autonom und flexibel, dezentral und transparent im Netz geregelt. Permanent surfend in die zeitliche Autonomie.

Hier enden üblicherweise die Geschichten der – nicht nur zeitlichen – Glücksversprechen. Zugleich beginnt hier der blinde Fleck – und verstellt die Sicht ins Innere der Machtzentralen. Wie es einst die imposanten Turmuhren an den Prachtbauten und -fassaden auch taten. Waren es bei der Uhrzeit die etablieren Machtinstitutionen, deren tatsächliche Absicht sich hinter den uhrzeitgeschmückten Fassaden verbarg, so sind es bei den Netzzeiten die …

Ja was – oder wer – eigentlich?

Klar, es gibt da die bekannten und gefürchteten Mächte von Netz-Organisationen, die mittlerweile zu den größten Unternehmen auf dem Globus zählen. Aber auch deren Mächte sind nicht mehr als Feigenblätter für die neuen Machthaber, die uns einstweilen zeitliche Glückseligkeit und Souveränität im Netz so weismachen, als hätten wir das alles höchstpersönlich erfunden: Es sind die neuen Mächte der Algorythmen und künstlichen Intelligenzen. Das sollten sich nicht nur die von der Uhrzeit befreiten 350 Inselbewohner auf der Insel Sommarøy bewusst machen, sondern auch alle anderen, die einstweilen noch gebannt auf die neuen Freiheiten und Flexibilitäten schauen, die Uhrzeitlosigkeit und die ihr nachfolgenden Netzzeiten scheinbar ermöglichen.

Soviel Zeit muss sein. Zeitlosigkeit hin oder her.

Einen schönen Sommer!

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[1] Karlheinz A. Geißler: Die Uhr kann gehen. Das Ende der Gehorsamkeitskultur. Stuttgart, Hirzel-Verlag 2019 (zum Verlag)

[2] Süddeutsche Zeitung vom 21.06.2019

[3] Der Begriff „Uhrmacher“ tauchte erstmalig 1269 n.Chr. auf einer Bierrechnung auf. Dass das in einem Kloster (Beaulieu) gewesen sein soll, ist mindestens eine gute Story. Hier geht es zur Geschichte der Uhrzeitmessung.

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Bei all der Zeitlosigkeit bleibt Zeit zum Lesen

Karlheinz A. Geißler: Die Uhr kann gehen. Das Ende der Gehorsamkeitskultur. Stuttgart, Hirzel-Verlag 2019

Kategorien: Zeitforschung

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