„Wie wirklich ist die Wirklichkeit?“ So hatte Paul Watzlawik Mitte der 1970er-Jahren gefragt. Und wirklich einen Bestseller gelandet. Dabei mit der Illusion einer einzigen „Wirklichkeit“ aufgeräumt. Hatte die „sogenannte Wirklichkeit“ zum Ergebnis von Kommunikation erklärt. Seit dem Streifzug von Paul Watzlawik zwischen „Wahn, Täuschung und Verstehen“ – so der Untertitel – haben sich nicht nur systemtheoretisch-konstruktivistische Zugänge durchgesetzt, es wurden „in Wirklichkeit“ auch Wirklichkeitskonstruktionen beobachtbar, die viele so nicht so gerne wollten. Die sie nicht für möglich gehalten hätten. Die unwirklich erschienen. Und doch wirklich wurden. Weil Kommunikationen sie zu denjenigen Wirklichkeiten gemacht hatten, die gerade gebraucht wurden. Von irgendwem. Kommunikationen im Netz und auf Social Media-Kanälen trugen dazu nicht unerheblich bei. Das hatte Watzlawik so nicht auf dem Schirm – es waren halt andere Zeiten. In einen ganzen Teil des auch heute noch großartigen Buches untersucht er allerdings das Thema „Desinformation“. Die unterhaltsam aufbereiteten Erkenntnisse erklären eindrücklich vieles von dem, was heute als „Fake-News“ empörende Kommunikationen auf den Plan ruft. In einem raffiniert eingefädelten Experiment mit zwei Psychiatern, die angehalten waren, sich mit Patienten zu beschäftigen, die sich einbildeten, Psychiater zu sein, bildeten sich beide Psychiater – natürlich! – ein, die Wahnvorstellungen des jeweils anderen zu behandeln. Beide verhielten sich insofern „wirklichkeitsangepasst“, aber eben das wurde zum Beweis der Geistesstörung des anderen: „Je normaler sich beide verhielten, desto verrückter erschienen sie in den Augen des Partners.“[1] Tja. Und schon ist sie da, eine wahnsinnige Wirklichkeit, in der frau und man sich leicht täuschen (lassen) kann.

Und jetzt auch noch das: Künstliche Intelligenz.

Wie wirklich ist das denn?

Nach den Aufregern um und dem und hektischem Ausprobieren von ChatGPT von gefühlt allen um mich herum – meistens mit der Erkenntnis, dass die Intelligenz der künstlichen Intelligenz (KI) noch etwas Luft nach oben habe – erscheint nun der Papst in weiß puffiger Daunenjacke auf den Titelseiten. Täuschend echt das, was sich die KI-Plattform Midjourney da so ausgedacht hat. Blöd scheint sie nicht zu sein. Blöd nur, dass unsere Geprägtheit von Bildern und deren Zuverlässigkeit ins Rutschen gerät. Die Süddeutsche Zeitung orakelt vom „Verschwinden der Wirklichkeit“.[2] Und spekuliert darüber, wie sich die Rolle von Bildmaterial angesichts dessen verändern könnte. Eine Mischung von Faszination und Ratlosigkeit macht sich breit – natürlich kommunikativ aufbereitet in einer Form, die zu den reflexiv angelegten Wirklichkeiten passt, die wir uns so gerne einbilden. Allerdings stockt mir der Atem, wenn ich im besagten Artikel eines von mir sonst sehr geschätzten Autors (Max Scharnigg) der SZ gegen Ende lesen muss: „Wenn in Zukunft mehrere Realitäten existieren, …“[3] Wie bitte? Haben denn Watzlawik und die ganze Horde von Konstruktivisten nur Buchstaben statt Erkenntnisse als Wirklichkeiten hinterlassen? Ist nicht die Vielfalt von Realitäten schon längst beobachtbare „Wirklichkeit“?

Jedenfalls müssten solche Diskursbeiträge den künstlichen Intelligenzen, die da gerade freigelassen werden, irgendwie verdächtig vorkommen. Sie werden uns, wenn wir so oder so ähnlich vor uns hin parlieren, nicht für blöd halten. Sich aber mit der Frage beschäftigen, wozu solche Blödsinnigkeiten öffentlich gemacht werden. Wollen die uns verarschen?

Denjenigen, die da so expertenhaft vor sich hin sinnieren, ist womöglich im riesengroßen blinden Fleck abhandengekommen, dass es sich bei der künstlichen Intelligenzen um INTELLIGENZEN handelt. Damit ist auch die Fähigkeit gemeint, zu lernen, sich in neuen Situationen zurechtzufinden und Aufgaben durch Denken zu lösen. Die Schachsoftware der Google-Tochter DeepMind mit dem Namen AlphaZero hatte es 2017 eindrücklich gezeigt, nachdem ihr zu Beginn nur ein Schachbrett und die Grundregeln gezeigt wurden – statt wie üblicherweise bei Schachprogrammen, die Software mit Regeln und erfolgreichen Zügen aus Datenbanken zu füttern. AlphaZero lernte stattdessen selbst – und brauchte dazu 4 Stunden. 4 Stunden, um dann das Weltmeister-Schachprogramm Stockfish zu bezwingen. Nach 8 Stunden Trainingszeit schaffte AlphaZero den Sieg gegen die Vorgängersoftware AlphaGo im als hochkomplex geltenden Brettspiel „Go“.[4] Motto: Ich bin doch nicht blöd!

Das Blödeste, was wir machen können, ist es, künstliche Intelligenzen für blöde zu halten. Dazu neigen einige der momentanen Diskursbeiträge möglicherweise. Sie scheinen ein eher naives, ein „triviales“ Modell künstlicher Intelligenzen zu haben. Fahren aber dann doch eher schwere Geschütze auf. Andere – mehr als 1000 Berufenere, darunter Elon Musk – rufen in einem Manifest (interessantes Wording 😉 dazu auf, die Entwicklung von generativen Künstlichen Intelligenzen für 6 Monate auszusetzen. Frage: Sind aber die bereits bestehenden KIs so blöde, nicht die Chance zu ergreifen, sich ein halbes Jahr lang mal völlig ungestört von menschlicher „Intelligenz“ weiterzuentwickeln?

Was aber – intelligenterweise – tun?

Auch, wenn es blöd klingen mag 😉 Folgen wir doch Paul Watzlawik und den Konstruktivisten. Wenn Wirklichkeiten sich in Kommunikationen „bilden“, bedeutet dies: Kommunikation. O.k., der (blöde?) Satz „sprechenden Menschen kann geholfen werden“, gilt wohl nicht, den KIs sind keine Menschen, führt aber in die richtige Richtung. „Einbug“, die Künstliche Intelligenz in Theresa Hannings Roman „Pantopia“ hat jedenfalls geantwortet. Es entsteht eine Kommunikation. Die meisten Menschen allerdings sind auch im Roman eher auf Krawall gebürstet und wollen die KI vernichten. Einbug wird dann von zwei Menschen gerettet. Und verbessert die Welt. Rettet. Einbug ist intelligent. Hat am Beispiel der Menschen gelernt, sich immer weiter optimiert. Und weiß am Ende, dass es ein Ende geben muss. Sieht das für sich vor. „Ich erwarte mein eigenes Ende mit Ruhe und Gelassenheit. Denn ich war ein Gleicher unter Gleichen und habe in Würde existiert.“ So Einbug am Ende.[5]

Die Wirklichkeit eines Romans. Dennoch: Wir unterschätzen KIs.

Miteinander sprechen – das wäre doch schon mal was.

Statt übereinander zu spekulieren.

Sonst endet es, wie es enden muss: im Schweigen. So hat auch Paul Watzlawik seine schöne Erörterung über die Wirklichkeiten mit Ludwig Wittgenstein beendet: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“[6]

Vorher kann noch viel gesprochen werden.[7]

Kommunikationen von menschlicher und künstlicher Intelligenz bereits in der Entwicklung einzubauen und vorzusehen, das erschiene charmant – auch für die künftigen Wirklichkeiten, die daraus entstehen. Und es böte intelligente Lernanlässe für beide Wirklichkeiten. Auch im Hinblick auf künftige gemeinsame „Realitäten“.

Gute Zeiten. Wirklich!

Die Wirklichkeit ist nur ein Teil des Möglichen.“ (Friedrich Dürrenmatt)

***

Nachklang

Meine Bitte an ChatGPT: Ich würde gerne eine kurze Definition von Wirklichkeit haben.

Antwort: Die Wirklichkeit kann als der tatsächliche Zustand oder die Existenz von etwas definiert werden, unabhängig von unseren Vorstellungen oder Wahrnehmungen davon. Es bezieht sich auf die objektive Realität, die durch Fakten, Beweise und Empirie bestimmt wird, im Gegensatz zu subjektiven Wahrnehmungen oder Meinungen. In der Philosophie gibt es verschiedene Konzepte und Diskussionen darüber, was die Wirklichkeit ausmacht und wie wir sie erkennen können.

Etwas enttäuscht frage ich weiter: Gibt es auch eine konstruktivistische Sicht von Wirklichkeit?

Antwort: Ja, tatsächlich gibt es eine konstruktivistische Sichtweise von Wirklichkeit. Der Konstruktivismus besagt, dass die Wirklichkeit nicht unabhängig von unserem Bewusstsein existiert, sondern durch unsere Wahrnehmung und Interpretation konstruiert wird. Mit anderen Worten, was wir als real und wahrnehmen, wird von unseren Erfahrungen, Überzeugungen, Werten und sozialen Kontexten beeinflusst und geformt.

In dieser Sichtweise gibt es nicht nur eine einzige objektive Realität, sondern vielmehr viele verschiedene „konstruierte“ Wirklichkeiten, die von verschiedenen Individuen oder Gruppen unterschiedlich wahrgenommen und interpretiert werden können. Der Konstruktivismus hat auch Auswirkungen auf die Art und Weise, wie wir Wissen erlangen, da es uns darauf aufmerksam macht, dass unser Wissen nicht unabhängig von unserem Kontext und unseren Perspektiven ist.

Na, immerhin. Ich frage noch: Welche Wirklichkeitsauffassung präferierst Du?

Antwort: Als künstliche Intelligenz habe ich keine persönliche Präferenz für eine bestimmte Wirklichkeitsauffassung, da ich nicht über Vorlieben oder Überzeugungen verfüge. Meine Funktion besteht darin, Informationen bereitzustellen und Fragen zu beantworten, basierend auf Fakten und evidenzbasierten Erkenntnissen.

In der Philosophie und Wissenschaft gibt es viele verschiedene Sichtweisen und Theorien, die sich mit der Natur der Wirklichkeit beschäftigen, und jede hat ihre Vor- und Nachteile. Es ist wichtig, offen zu bleiben und verschiedene Perspektiven zu berücksichtigen, um ein umfassenderes Verständnis der Welt um uns herum zu erlangen.

(Chat vom 04.04.2023, 11.25 – 11.42 Uhr)

Ist das eine intelligente Aussage?

O.k., ich schließe mich einstweilen der Ansicht an, dass da noch Luft nach oben ist 😉

Ich werde es mal kommunizieren.

***

[1] Watzlawik, Paul: Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Wahn. Täuschung. Verstehen. Piper Verlag, 20. Auflage, München 1992, S. 92

[2] Süddeutsche Zeitung Nr. 77, Samstag/Sonntag, 1./2. April 2023

[3] Und der Vollständigkeit halber, für diejenigen, die es – wirklich – wissen wollen, der dürftige Satz-Fortsatz: „… muss für die Verfechter der Wahrheit, Zugang zu einer Art Hyperrealität gewährleistet sein.“ Autsch. Jetzt auch noch die „Wahrheit“.

[4] Im Überblick mit Verweis auf den zugrunde liegenden Forschungsbericht: https://www.spiegel.de/netzwelt/web/google-ki-alphazero-meistert-schach-und-go-a-1182395.html Abgerufen am 03.04.2023

[5] Hanning, Theresia: Pantopia. S. Fischer Verlag. Frankfurt am Main 2022, S. 460

[6] Es folgt der letzte Satz: „Hier also ist dieses Buch beendet.“ Watzlawik 1992, S. 237 mit Bezug auf Wittgensteins logisch-philosophische Abhandlungen. Vgl. Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logico-philosophicus. Suhrkamp Verlag. Frankfurt am Main 1963

[7] Natürlich auch über die Auswirkungen von KIs in der Zeitdimension. Das ist noch offen – auch in diesem Blog.

***

Hören Sie doch auch mal in den ORTHEYs-Zeitzeichen Podcast hinein:

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Kategorien: Gesellschaft

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