Die Sommersonnenwende (am 21.06.2021) ist ein prädestiniertes Datum, um den Beobachter*innenblick auf die anstehenden Übergänge zu richten. Zeit wird’s mal dafür. Klar, angesichts des alltagssprachlich vereinfachten Übergangs der Sonnwend vom „es geht aufwärts“ zu „ab jetzt geht’s wieder abwärts“ (gemeint wäre: mit der Länge der hellichten Tage). Das mit dem Abwärtsgehen passt jetzt nicht wirklich zu derjenigen Hoffnung, die gerade angesagt ist, aber egal: es muss ordentlich gefeiert werden. Das mit dem Feiern ist ein gängiges Übergangsritual. Schließlich gilt es, etwas Altes zu verabschieden, um etwas Neues zu ermöglichen. Und das lässt sich leichter ertragen in der Gemeinsamkeit des Feierns, das gelegentlich mit der nicht nur homöopathischen Zufuhr von bewusstseinserweiternden Substanzen sowie der Ausübung seltsamer Zeremonien verbunden wird – wobei das Alte nicht immer wertschätzend verabschiedet, sondern gelegentlich wütend vertrieben oder verbrannt wird. Ein (Sonnwend-) Feuerchen machen gilt noch als eine der harmloseren Varianten – damit sollen Fruchtbarkeit und Wachstum „angefeuert“ werden. Zudem schaut es gut und eindrucksvoll aus – und bringt metaphorisch irgendwie passend das Licht zurück in die trist und dunkel gewordene Welt. Aber bevor Sie sich in die Zeiten dieses Sommersonnwend- Übergangs verlieben: stopp!
Gerade aktuell ist da noch mehr zu bedenken, zu feiern oder – das schließt sich ja nicht aus – zu betrauern. Beispielsweise der Übergang von der Beschränkung in die Lockerung. Ein anspruchsvoller Übergang, weil manche weder das eine noch das andere je so richtig verstanden haben und keine/r so richtig durchblickt. Egal, ein Anlass zum exzessiven Feiern ist das allemal. Raus auf die sommerlichen Straßen und einen knallen lassen – jedenfalls so lange bis die Spielverderber der öffentlichen Ordnung auftauchen und deutlich machen, wie unlocker „Lockerung“ gemeint ist und wie locker nun auch wieder nicht. Auch egal. Oft bekommen die sogenannten Ordnungshüter für ihre ehrenhafte und pflichtgemäße, das Gemeinwesen stabilisierende Tätigkeit noch eins auf die Mütze. Auch das ist relativ neu und steht für einen Übergang von aufgeklärter, angemessener Auseinandersetzung hinein in die kaum noch Grenzen kennende Verrohung. Letztere könnte befeuert sein durch den (leichten) Übergang vom Online-Ballerspiel zum Schmeißen von Flaschen, nachdem frau und man sich einen geballert hat (auch das ein gruppendynamischer Beschleuniger der Entgrenzungen). Die Verrohung gibt’s ja auch in der Online-Variante mit stetig steigender Intensität. Verständlich für den einen, bitter und nicht akzeptabel für die andere. Da wird der Ruf nach staatlicher Ordnung laut – und deren noch radikalere Infragestellung wahrscheinlich. Ein Übergang von einer auf weitgehenden, aus Diskursen gewonnenen Konsens hin angelegte – und sich selbst so beobachten wollende – Gesellschaft hin zu einer hochdifferenzierten Form vernetzter und widersprüchlicher Unterschiede, die immer wieder neu nicht kompatible Unterschiede machen. Manchen ist das zu steil, früher fanden sie es interessant und eine Herausforderung, jetzt aber steigen sie aus und wählen den Übergang in die Polarisierung, z.B. in diejenige von „gut“ oder „schlecht“ – oder sie suchen erst mal nach „Schuldigen“. Und wissen insofern, wo sie stehen, kennen sich (wieder) aus. Das ist verständlich, denn in der Polarisierung gibt’s die lebens- und überlebensnotwendige Vereinfachung günstiger und weniger anstrengend. Manche mögen das. Immer mehr womöglich. Erscheint ja schön einfach, die Vereinfachung. Andere kriegen die Krise, die sie gerade dachten hinter sich lassen, umso heftiger. Welche Übergänge deutet sich hier an?
Das sind tiefschürfende Fragen, die sich stellen. Pädagogische Optimisten frohlocken einstweilen, kontrastieren die Vereinfachungsthese und sehen einen Übergang vom gefälligen dahinplätschern lassen (zurück) zu einer reflexiven Modernisierung der Gesellschaft. Ihr Optimismus sieht verantwortungsbewusste Kinder und Jugendliche (und ja: sogar wieder auf der Straße!) und lässt – bei so’n bisschen Verrohung – nicht alle Hoffnung auf eine bessere Welt fahren. Die Ignoranz der Meute an blinden Flecken wird womöglich genährt vom Übergang von der pandemiebedingt gewachsenen Depression zurück in die optimistische Aktion und Reflexion. Das wäre ja schon mal wirklich was zu feiern. Andererseits gibt’s ja auch die Folgen eines Übergangs vom toleranten Miteinander zum konfrontierenden Gegeneinander zu bearbeiten. Gute Nachbarn, Freunde und Bekannte bekamen sich mit anderen Augen und mit anderen Unterscheidungen zu sehen. Da wurde „Corona-Leugner“ und „Impf-Gegner“ ausgemacht, wo zuvor nette Menschen über den Gartenzaun plauderten. Schon die Begriffe, die gewählt werden für „die anderen“ befördern nicht gerade eine gewaltfreies Kommunikationsklima. Ein Übergang von den neu entstandenen Konfrontationen zurück in die Kooperation wird seine Zeit brauchen. Das ist übrigens eine Binsenweisheit von Übergangsforschenden. Übergänge in psychischen, sozialen, organisationalen und gesellschaftlichen Systemen funktionieren nicht nach einer trivialen Logik von „Strom aus“ und „Strom an“. Immerhin handelt es sich um ein emotionales Geschehen – und das braucht seine, individuell je unterschiedliche Zeit. Zeit für die oft schwere Ablösung und die Verabschiedung des Alten, Zeit für Trauer, für Distanzierung, für Neuorientierung, für die Auswahl, die Abwägung und die Selektion neuer Möglichkeiten und schließlich Zeit für die Stabilisierung des Neuen. Insofern braucht dieser wichtige Übergang zu einer sogenannten „neuen Normalität“ andere Übergänge, die ihm flankierend hilfreich zur Seite stehen: denjenigen von der genervten Ungeduld zurück zur aufmerksamen Geduld, denjenigen von der klischeehaften Schubladisierung hin bzw. zurück zur empathischen Zugewandtheit und denjenigen von der (krisenbedingten) Fokussierung auf das „Ich“ zur Wiederentdeckung des „Wir“. Trotzdem bleiben die anstehenden Übergänge zeitlich anspruchsvoll. Die entstandenen Verletzungen und Kränkungen brauchen Zeit zum Heilen – und das braucht viel Zuwendung und Pflege. Das alles wirkt herausfordernd – und da hatten gerade doch viele gehofft, der nächste Übergang führe von allerlei Herausforderungen und Zumutungen zurück in das, was verlegenheitshalber „Normalität“ genannt wurde. Dies scheint eine Illusion gewesen zu sein.
Deshalb ist für viele Zeitgenoss*innen der entscheidende Übergang aktuell derjenige von einem (gefühlt) viel zu kühlen Frühjahr hinein in einen bisher recht vielversprechenden Sommer (der 21.06. ist ja auch der astronomische Sommeranfang). Diese Kontextveränderung löst Übergänge zwischen den Ohren und im Herzen aus, die auch nach außen sichtbar werden. Günstigstenfalls mit einem Lächeln. Die Übergänge, die wir zu sehen bekommen, sind ja auch größtenteils verheißungsvoll und geben Anlass zum Lächeln und zum Feiern. Wie zum Beispiel der Übergang von der zwangsweisen Vereinzelung zurück in die (Re-) Vergemeinschaftung, derjenige vom Home-Office zurück ins echte (allerdings feiern nicht alle diesen Übergang mit, andere allerdings lassen dieses Fest mal so richtig krachen), der Übergang von allerlei steigenden hin zu sinkenden Werten oder der von ansteigenden zu nun wieder abflachenden „Wellen“ (und die Aussicht auf echte „Wellen“, die mal wieder Spaß machen), der Übergang vom schwer angesagten zum nun gottlob abgesagten Untergang von diesem und jenem, von der Verzweiflung und den Zweifeln zurück zu Hoffnung und Vertrauen, von erzwungenen Stille (zurück) zum gemeinsame Grölen auf der Straße oder je nachdem zum Singen im Chor in der Kirche, vom stumpfen Daheimsitzen hin zu belebenden Urlaubserlebnissen, von Musik aus der Konserve zurück zur Live-Musik auf den Plätzen und in den Sälen, von digitaler Virtualität zu analoger Echt(zeit-)erfahrung.
Es steht also ein eindrucksvolles und für manche/n auch erschreckendes Sammelsurium von Übergängen an – und viele davon sind zudem ambivalent. Viele überlagern sich außerdem und finden gleichzeitig statt. Das kann anstrengend werden. Aber da können wir uns ja trösten mit dem Übergang vom Frust über nur belastende Anstrengungen hin zur neuen Lust auf die lohnenden Anstrengungen. Denn es stehen ja schöne Zeiten im „neuen Normal“ in Aussicht – jedenfalls, wenn es gelingt, diese Übergänge bewusst wahrzunehmen und zu gestalten. Denn oftmals war und ist ja Übergangslosigkeit angesagt heutzutage. Es wird einfach weitergewurstelt. Jetzt ist sie da, die Gelegenheit, die anstehenden Übergänge dazu zu nutzen, um gut abzuschließen und Altes loszulassen – um dann wieder gut Neues beginnen zu können. Das macht doch Lust auf mehr.
Schöne Zeiten!
„Das Leben ist ein Übergang, bestehend aus vielen Übergängen,
ein Lichtspalt zwischen zwei Ewigkeiten des Dunkels.“
(Vladimir Nabokov)
„Ich bin die Brücke des Übergangs zwischen dem,
was ich nicht habe, und dem, was ich nicht will.“
(Pessoa am 14.05.1930 in seinem „Buch der Unruhe“)
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