Wir kennen die üblich verdächtigen Umkippeffekte der schönen festtäglichen Bescherung, wenn vom Weihnachtskitsch nur dürftig überdeckte Familiendynamiken ins Aggressive kippen und am berüchtigten zweiten Feiertag der Familiensegen plötzlich Schlagseite bekommt. Da werden Weihnachtspapier-„Knüller“ für die ebenfalls anwesenden Weihnachtspapier-„Glätter“ (die angeblich auch ökologisch verantwortliche „-Wiederverwender“ sind)[1] zur unerträglichen Zumutung und geben Anlass für allerlei verbale Spitzen und weitschweifige und nervige Grundsatzdiskussionen. Oder die Essenfragen, die angesichts anwesender vegetarisch und vegan (neu) orientierter Familienmitglieder eine nicht selten unheilvolle Aufladung bekommen, die leicht ins Ideologische kippt. „Oh Du fröhliche, oh Du selige Weihnachtszeit“ – von wegen: schöne Bescherung! (Je nach emotionaler Bescherungsdynamik können es auch mal mehrere Ausrufungszeichen sein.)

In diesem Jahr war es diese ironische Anmutung des unerwünschten und zwangsweisen Beschenktwerdens („Schöne Bescherung!“), die bereits mit Ansage in die diesmal ach so ruhigen Weihnachtszimmer Einzug hielt. Der Spiegel bescherte uns bereits Anfang Dezember die Schlagzeile „Deutschland droht harter Lockdown. Schöne Bescherung.“ Und dann hatten wir sie eben auch. Hatte ich euch ja gleich gesagt, dass das so was werden wird – dieser Unterton (des Besserwissenden) schwingt mit. Ich hab’s ja gewusst. Na ja. Schöne Bescherung!

Ich weiß nicht, ob Ihre weihnachtliche Bescherung im glückselig machenden Beschenken und Beschenktwerden bestand – oder Sie einen der prophezeiten Umkippeffekte beschert bekamen. Oder beides. Nun in der (stillen) Zeit „zwischen den Jahren“ ist jedenfalls – wieder mal, nur diesmal anders – Gelegenheit, um zu deuten, was uns denn da so bescheret ward. Oder hätte werden können. Oder noch werden kann. Die ironisch untertönig angekündigte „schöne Bescherung“, dieses gebetsmühlenhaft als „anders“ oder „besonders“ qualifizierten Weihnachtsfestes bescherte uns (oder hätte uns bescheren können):

  • Statt des überkochenden Bim-Bam-Jingle-Kitsches ein echtes Zur-Ruhe-Kommen,
  • statt der Überhäufung mit weihnachtlichem Wortmüll wohlüberlegte Herzenswünsche,
  • statt gleichwohl oberflächlicher wie komplexer (und je nachdem depressiver oder aggressiver) Familien(ge-)lage(n) die Übersichtlichkeit bewusst gewählter, reduzierter und intensiver Kontakte,
  • statt der Überhäufung mit Geschenkebergen bedacht ausgesuchte echte Gaben,
  • statt der olfaktorisch bedenklichen Erfahrung der nächtlichen (oft zeitlich völlig unpassenden und nicht enden wollenden) Christmetten im Dunstkreis zwischen Alkoholnebeln und überdosierten neuen Parfüms virtuelle oder mit Abstand versehene kurze Outdoor-Andachtserfahrungen,
  • statt wildem Weihnachtsliedergegröle ein verträumtes und eher leises Summen der bekannten und nun neu intonierten Weisen,
  • statt überfordernder Vielfalt die Besinnung auf Weniges,
  • statt üppiger Gelage frugale Beschränkung,
  • statt weihnachtlicher Hetze von diesem zu jenem Besuch entschleunigte Zeit für sich selbst und die Vertrautesten.

Das waren doch schöne Bescherungen. Oder hätten es werden können. Oder können es noch werden in der „Zeit zwischen den Jahren“ – so wird die Zeit zwischen dem ehedem Ende des alten Jahres (24. oder 25.12.) und dem Beginn des neuen (06.01.) genannt. Diese Zeit wird meist überfordert und überbefüllt mit allerlei Besuchs-, Feier- und Fressvorhaben – für dieses Mal könnte es eine Zwischenzeit werden, die eine echte Übergangserfahrung ermöglicht. „Übergang“ verstanden als: (1.) Ablösung vom Alten, (2.) Orientierung zu neuen Möglichkeiten und der (3.) Neuanbindung an jene.

In diesem Sinne: Ihnen einen „guten Rutsch“ ins neue Jahr. Dieser oft dahingefloskelte Übergangswunsch wird reflexartig garniert mit den Wünschen nach Gesundheit, die diesmal – statt unüberlegt dazu genuschelt – besonders betont werden und dann natürlich mit den Wünschen nach (der Rückkehr der) Normalität ergänzt.

Diese Normalität können wir uns zwar gegenseitig wünschen, haben dann aber eine (in diesem Falle: ironisch untertönig hinterlegte) „schöne Bescherung“, dann nämlich, wenn die Wünsche enttäuscht werden. Das ist erwartbar, wenn frau und man sehenden Auges in die Welt blickt. Und dort schwer atmende oder nur mehr kurzatmig vor sich hin hechelnde Klima-, Öko-, Gesundheits-, Finanz-, Politik- und Gesellschaftssysteme zu sehen bekommt, die mit viel proklamatorischem Gedöns und höchstem Aufwand gerade noch so am Leben erhalten werden. Was auch immer ehedem „Normalität“ gewesen sein mag, es wird sie nicht mehr geben können angesichts solcher und anderer, noch nicht erahnter Weltzustände.

Mit diesem Blick in die Welt heißt die oben angemerkte „Ablösung vom Alten“ eben die Ablösung von jenen illusionistisch stabilisierten Normalitätsvorstellungen und -mustern, die vielen im Grunde ihrer Herzen sowieso schon suspekt und wackelig erschienen. Nur hatten viele womöglich keinen Kontakt zu ihrem Herzen und dessen Angelegenheiten. Sich nun ein Herz zu fassen (das eigene bietet sich an), innezuhalten und sich Orientierung zu neuen Möglichkeiten verschaffen, hieße „sich an einen Ort der Stille zu begeben“, so heißt es in der „Theorie U“ des MIT-Professors C. Otto Scharmer (2019, S. 40). „Innehalten“ bedeutet auch das Beenden von Gewohnheitsmustern. Dazu braucht es viel (Selbst-) Beobachtung. Gelingt dieses „Sehen“, dann ist es möglich, die Aufmerksamkeit vom Äußeren zum Inneren zu lenken, sich selbst zu „erspüren“ und von dort aus das Gelände der neuen zukünftigen Möglichkeiten zu kartieren. In dem Raum der äußeren und inneren Stille ist es möglich, loszulassen und der Zukunft ansichtig zu werden. „Die Grenze zwischen Beobachter und Beobachtendem löst sich vollständig auf und eröffnet einen Raum, in dem die Zukunft ansichtig werden kann.“[2] Der Erfolg des Tuns ist abhängig von der Stimmigkeit des inneren Zustandes der bzw. des Beobachtenden. Derart beim Innehalten im U-Prozess bei sich selbst angekommen, können ihr bzw. ihm neue Möglichkeiten (2.) zugänglich werden. Diese werden vom Selbst und von der Zukunft aus gespürt und gedacht. Dieses „Presensing“ ermöglicht dann ein Verdichten und Protoyping, also ein Erkunden der Zukunft im Tun und dann das „Verwirklichen“ – hier erfolgt dann die oben (3.) angesprochene „Neuanbindung an neue Möglichkeiten“.

Das wäre doch mal was anderes als die heraufbeschworene Wiederkehr der sogenannten „Normalität“. Wenn ein solches „Precensing“ normal werden könnte, dann wäre das sowohl ein Beitrag zu persönlich, sozialen, organisationalen und kulturellen Resilienz – die wird ja gerade gebetsmühlenartig heraufbeschworen – wie auch zu angemessen Zukunftsbildern, die nicht durch die angestaubten Anhaftungen untauglicher Wirklichkeiten aus der Vergangenheit getrübt sind.

So könnte das doch ein guter Rutsch werden, der uns Schönes beschert.

Gute Zeiten beim Innehalten zwischen den Jahren.

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[1] Und die gibt es natürlich auch als -innen*. Ein empirischer Beleg für die geschlechterbezogene Verteilung von KnüllerInnen* und GlätterInnen* steht allerdings noch aus.

[2] Scharmer, C. Otto: Essentials der Theorie U. Grundprinzipien und Anwendungen. Carl-Auer-Systeme-Verlag, Heidelberg 2019, S. 40. Die sieben Schritte des Kernprozesses der Theorie U und gleichwie des „Achtsamwerdens und in die Welt-Bringens“: Herunterladen, Sehen, Erspüren, Presencing, Verdichten, Protoypen erstellen, Verwirklichen. Die Theorie U kann insbesondere für Führung und Personal– und Organisationsentwicklungsprozesse nützlich werden.

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Die Zeit „zwischen den Jahren“ eignet sich auch für den neuen ORTHEYs-Zeitzeichen Podcast:

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Kategorien: Gesellschaft

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