Nach den erzwungenen Verlangsamungen unseres Lebens und Arbeitens, soll neuerdings vieles schnell – und ja bitte: schneller! – gehen: Das Impfen, möglichst die Rückkehr zur sogenannten „Normalität“, das „Hochfahren“ von allem Möglichen, besonders der Wirtschaft. Und nun befeuert der „Schnelltest“ diese ganzen schnellen Hoffnungen. Aber halt. Wart mal schnell!

„Der Schnellste ist der beste!“ Die Geschichte sportlicher Wettbewerbe befeuert diesen Glaubenssatz, der seine Verfestigung in den Fortschrittsdynamiken der Industriemoderne fand. Sportlich ging es zunächst „Mann gegen Mann“ (in der Antike sportelten nur Männer), dann machte die Uhr als Gegenerfindung zum klassischen griechischen Wettkampf auch hier einen Unterschied, denn sie bot die Möglichkeit der „Races against time“. Damit war der „Wettlauf gegen die Zeit“ etabliert – auch als Metapher und Redewendung. Uhren, hier als „Stopp-Uhren“ am Werk, machten den Fortschritt der Schnellen messbar und vergleichbar. Die Geschichte der Geschwindigkeitsweltrekorde für Landfahrzeuge zeigt eindrucksvoll den „Fortschritt“ beim Streben nach Schnelligkeit. Mit der Überschreitung der 100-km-Marke durch den Belgier Camille Jenatzy im Jahre 1899 nahm die technische Schnelligkeits-Konkurrenz richtig Fahrt auf. Die Pferde als die bisherigen Ermöglicher von Schnelligkeit sahen nun einer Karriere als reine Sportgeräte entgegen. Die Technik versprach jetzt mehr Schnelligkeit. Jenatzy hatte das geschossförmig anmutende Vehikel, das übrigens von zwei Elektromotoren (!) angetrieben wurde, auf den Namen „La Jamais Contente“ (Die nie Zufriedene) getauft. Damit war das Motto der Jagd gesetzt, die selbst immer schneller wurde. Besonders in den USA war die schnelle Fahrt an Stränden und auf den Salzseen beliebt – und ist es bis heute.[1]

Dass Schnelligkeit offenbar beeindruckt und marketingwirksam ist, machte sich auch das Regime der Nationalsozialisten zu Nutze und schickte eigens konstruierte Rekordwagen von Mercedes und Auto Union auf die neu gebauten und auf Schnelligkeitsgewinne hin angelegten Autobahnen. Die Nazis als die Schnellsten der Welt, als die Beherrscher der Geschwindigkeit. Diese gewünschte Zuschreibung sollte Machtansprüche untermauern. Dass die Bahnen später auch schnell in die Kriege führten, war ein nicht unerwünschter Nebeneffekt. Im Krieg besorgten dann Schnellfeuergewehre, Schnellboote und schnelle Überschallflugzeuge das Übrige.

Die Schnelligkeit überblendet vieles, z.B. politische Fehlleitungen oder andere Sinnverdünnungen. Mit Schnelligkeit ist man gut dran – und ist schnell mal abgelenkt von vielem anderen, das schwerer (und meist heißt das: langsamer) zu denken und zu ertragen ist. Das Schnelligkeitsparadigma ist abstrakt, entkoppelt von anderen Sinnbezügen, gewinnt den Antrieb nur aus sich selbst heraus. Immer schneller fortschreiten. Egal wohin, Hauptsache, es geht schneller. Das begründet sich selbst. Am Ende steht die verselbstständigte, pure und sinnlos beschleunigte „Bewegung der Bewegung“ – ob auf Autobahnen oder in der totalen Mobilmachung hinein in den Blitzkrieg. Schnelligkeit hat ihre Reize, die blenden. Die Nazis und andere totalitären Regime wussten diese zu nutzen. Und die Blendwirkung dazu.

„Alles veloziferisch“, klagt Goethe (in einem Brief an seinen Großneffen, den Juristen Nicolovius 1825) und meint damit das „größte Unheil unserer Zeit, die nichts reif werden lässt … und so immer von der Hand in den Mund lebt“. Das „Veloziferische“ ist eine ziemlich fortschrittliche Wortschöpfung Goethes. Er zieht darin die Worte „Velocitas“ (Eile) und „Lucifer“ – eine schwierige Figur – zusammen. Zwar bedeutet „Lucifer“ im Grunde „der Lichtbringer“, zeigt also die Erleuchtung an, aber es steht eben auch für den Teufel (den Goethe in seiner Kritik wohl eher im Sinne hatte)! Das „Veloziferische“ bringt damit die Ambivalenz der Schnelligkeit auf den sprachlichen Punkt. Der Erfolgsgeschichte der Schnelligkeit tat das keinen Abbruch.

Die Schnelligkeit als Zeitkategorie nahm dabei auch räumlich Form an. Die sogenannte „Stromlinienform“ dient der Reduzierung von Stirnfläche und Luftwiderstand. Neben den technischen Aspekten wird die Stromlinienform aber auch zum Bild der Geschwindigkeit. Die Stromlinie ist so attraktiv, dass sie auf statische Dinge angewendet wird, für die minimaler Luftwiderstand keinerlei Funktionalität hat: Kühlschränke, Staubsauger, Kaffeemaschinen, Wasserhähne und andere Haushaltsgegenstände bekamen und bekommen die Stromlinienform verpasst.[2] Leider wird auch manches Denken gelegentlich schnell mal stromlinienförmig glattgebürstet.

Das sportliche Motto „der Schnellste ist der beste“ ist längst zu einem wenig in Frage gestellten, gesellschaftlich geteilten Wert geworden zu sein. „Schnell gleich besser“ ist die Grundannahme für zahllose Slogans. Schnelligkeit ist … „unsere Stärke“, „ihr Vorteil“, „Trumpf“, „unser Erfolgsrezept“, „keine Hexerei“, „das A und O“ und „gefragt“ ist sie aller Orten. Schnelligkeit scheint prädestiniert, um von anderen Sinnbezügen abgekoppelt zu werden. Sie steht und wirkt für sich alleine, das „Wozu“ wird zurück- oder oft ausgeblendet. Derartig verselbständigt eignet sich der Begriff zur Aufwertung von allerlei. Auf die Schnelle gegoogelt: „Schnelle Gerichte“ brauchen „schnelle Rezepte“ für die „schnelle Küche“, manchmal für „schnelles Abnehmen“ (das ist der Renner der Google-Suche), „schnelle Lösungen“ brauchen oft später „schnelle Hilfe“ – vielleicht von den vor einigen Jahren ins Leben gerufenen „schnellen (Streit-) Kräften“, einer Bundeswehrdivision für alle Fälle, in denen es schnell gehen muss. „Schnell Geld verdienen“ – wer will das nicht? Von „schneller Liebe“ ganz zu schweigen. O.k., der „Schnellimbiss“ ist schon ein echt alter Hut und hat sich längst bezahlt gemacht, hat es dann zum „Schnellrestaurant“ gebracht – und das ist so normal geworden, dass der Begriff heute eher eingespart wird. Nur das Essen bleibt schnell: „Fast Food“. Mittlerweile ist es eher ein Luxus geworden, mal langsam und in aller Ruhe zu essen. „Slow Food“ ist als Gegenbewegung angesagt. Damit auf der Heimfahrt dann die Schnelligkeit so richtig genossen werden kann. Nur der „Schnellzug“ ist in den Ruhestand versetzt, weil er irgendwann in dem ganzen Steigerungswahn der Bahn der langsamste aller Zugkategorien wurde. Er wird nur noch auf Museumsstrecken eingesetzt. Da kann man dann mal erleben, wie schön es früher mal war, schnell Zug zu fahren.

Leider hat sich auch das Virus schnell entwickelt. Schneller als von vielen gedacht hat es Mutationen hervorgebracht, die jetzt zur Schnelligkeit zwingen. Es scheint ein Geschwindigkeitswettbewerb ausgebrochen zu sein zwischen der Mutationsgeschwindigkeit und derjenigen der medizinischen, politischen und gesellschaftlichen Reaktionen darauf. Deshalb jetzt schnell, schnell – und bitte möglichst schneller! Viele nach öffentlicher Anerkennung heischende Politiker*Innen und verängstigte Bürger*Innen fordern das. Einstweilen klappt das vor allem begrifflich. Jedenfalls vermittelt das der „Schnelltest“. Obschon darauf hingewiesen wird, dass Schnelltestverfahren nicht geeignet sind, uns schnell wieder ins sogenannte normale Leben zu befördern, bleibt die Hoffnung, die die Wortschöpfung auslöst, offenbar bestehen. Dass der Schnelltest, wie vieles andere Schnelle auch, den kleinen Makel aufweist, dass er eben zwar schnell, dafür aber auch nicht ganz so zuverlässig ist, wie andere, langsamere Verfahren, wird schnell mal ausgeblendet.

Eine der Ambivalenzen, die Schnelligkeit immer mitführt: Sie hat etwas mit ihrer anderen Seite, der Langsamkeit zu tun, führt in sie zurück oder zu ihr hin. Selbst Menschen, die berufsmäßig schnell unterwegs sind, attestieren der Schnelligkeit eine Art kontemplative Qualität. Die Zeit scheint langsamer zu vergehen, je schneller ich unterwegs bin. Der erschrockene Fernsehzuschauer zuckt angesichts der dramatischen Ereignisse der schnellen Bilder der Formel 1 zusammen, der Pilot im Auto erlebt die spektakulären Abläufe in Zeitlupe – und völlig gelassen. Und reagiert auch entsprechend überlegt (meistens jedenfalls). Schnelligkeit braucht allerhöchste Konzentration und Achtsamkeit – und ermöglicht hoch sensible Wahrnehmungen im Hier-und-Jetzt. Diese führen in die Langsamkeit. Als Juan Manuel Fangio, bis zu Michael Schumachers Rekordserie der erfolgreichste Rennfahrer aller Zeiten, bei einem Grand Prix von Monaco in den 1950-er Jahren auf eine Kurve zuraste, hatte er das intuitive Gefühl, dass etwas nicht stimmte und verringerte sofort die Geschwindigkeit. Es war sein Glück und rettete seinen Erfolg – und möglicherweise auch sein Leben. Nach der Kurve war die Strecke durch eine Havarie nahezu völlig blockiert. Im Nachhinein wurden dem schnellen Mann aus Argentinien klar, was ihn zum spontanen Abbremsen gebracht hatte: Es waren die Zuschauer. Sie schauten nicht wie zuvor auf den schnell heranrasenden Star, sondern sie schauten in dieser Runde weg, in die „falsche“ Richtung – hin zur für den Weltmeister nicht einsehbaren Unfallstelle. Das Eingebundensein in das Erleben von Schnelligkeit aktiviert und schärft die Sinne offenbar im besonderen Maße. Das bewirkt eine innere Langsamkeit mit höchster Aufmerksamkeit. Nur mit ihr können die Schnellsten schnell sein.

Das könnte denn auch eine kleine Strategie sein: In der Warteschlange zum Schnelltest-to-Go nochmal langsam nachdenken über dieses und jenes, was da so schnell gehen soll. Über die Chancen, aber auch über Risiken oder über riskante Lücken – und darüber, was denn die Langsamkeit, in die ich als Wartende/r gerade gezwungen bin, auch ermöglich könnte. Und auch mal schauen, wohin die Zuschauer der ganzen schnellen Hoffnungen schauen.

Beim unhinterfragten Schnell-Sein oder im unreflektierten Schnelligkeitsglauben könnte sonst die Ursache für Übersehenes, für nicht ausreichend Bedachtes und auch für enttäuschte Hoffnungen liegen.

In der Urzeit war Schnelligkeit überlebenswichtig: im Kampf darum, wer heute gefressen wird oder wer noch etwas weiterleben darf. Gewöhnlich gut informierte Kreise führen hier gerne den schnellen Geparden an, wissen aber dabei, dass der die meiste Zeit des Tages ziemlich langsam vor sich hindöst, um sich dann, aber dann wirklich richtig schnell, sein Abendessen zu erjagen. Zunächst darf Schnelligkeit insofern als Überlebensfunktion gehandelt werden bevor es mit ihr wettbewerbsmäßig und (macht-) politisch seinen weiteren chronischen Verlauf nahm. Bei aller Skepsis, die den Schnellen heutzutage oft begegnet, darf diese Überlebensfunktion nicht vergessen werden. Schnelligkeit zur rechten Zeit kann schützen und sie kann Leben retten. Nach wie vor.

Die gebotene Langsamkeit vorausgesetzt.

Wart mal schnell! Auch auf den Schnelltest.

Gute Zeiten!

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[1] In diesem Schnell-Text habe ich Teile aus den Zeitzeichen (Frank Michael Orthey: Zeitzeichen. Ein ABC unserer Zeit. Texte und Impulse für gute Zeiten. ORTHEYS, BoD, Norderstedt 2019) verarbeitet. Es musste schnell gehen.

[2] Vgl. dazu: Braun, Andreas: Tempo, Tempo! Eine Kunst- und Kulturgeschichte der Geschwindigkeit im 19. Jahrhundert. Anabas, Frankfurt am Main 2001, S. 162ff

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Gute Zeiten!

ZEITZEICHEN

Ein ABC unserer Zeit.

ISBN 978-3-7504-3216-1

€ 19,99 [D] incl. MwSt.

Erhältlich bei BoD: https://www.bod.de/buchshop/zeitzeichen-frank-michael-orthey-9783750432161

Der Autor mag gelegentlich die Schnelligkeit – besonders im historischen Rennwagen.


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