Kürzlich las ich in einem Bericht über eine Oldtimerreise nach Albanien, dass es im Vorfeld nicht gelungen sei, Termine in Tirana zu vereinbaren. Stattdessen: „Kommt einfach vorbei“ oder „Ruft an, wenn ihr da seid“. Ja, was ist das denn? Keine Termine.

Gelegentlich scheint es, als sei unser ganzes Leben und Arbeiten von elektronischen Kalendern diktiert. „Ich schicke Dir den Termin!“ Schnell „annehmen“ ausgewählt und er ist in das noch freie Zeitfenster in den meist bereits gut gefüllten Kalender gepurzelt. Es folgen dann – ein wenig Service muss sein – die voreingestellten Erinnerungen, damit der Termin bloß nicht vergessen wird. Diese Prozesse sind innerhalb weniger Jahre zum kulturellen und organisationalen Inventar unseres Lebens geworden. Sie blenden zudem mit dem vermeintlichen Charme einer gut abgestimmten Zeitorganisation bei Personen und in Systemen, z.B. Familien oder Arbeitsteams. Termine, Termine, Termine. Das bestimmt unser Zeiterleben. Hinterfragt wird das Zeit-Diktat der Termine kaum.

Geschieht das doch, wie im zitierten Reisebericht, löst es Erstaunen aus. Wenn sich dann noch zeigt, dass die Zeitorganisation vor Ort ebenfalls einem spontanen und flexiblen Abstimmungsmodus folgt, dann reagieren einige Zeitgenoss:innen leicht verunsichert. Ist ja auch komisch, irgendwie: Statt einen Termin zu machen einfach mal durch die ganze Stadt fahren, um jemanden zu treffen, der viel beschäftigt ist – und von dem gar nicht sicher ist, ob er überhaupt da ist. In dieser Geschichte in Tirana wird die betreffende Person tatsächlich dann angetroffen und nimmt sich Zeit für das Anliegen der überraschenden Gäste. Wobei es für ihn weniger überraschend ist wie für die Gäste, die überrascht, dass die unangekündigte Überraschung gar nicht überraschend ist, sondern anscheinend üblich. Wie soll das gehen? Die derart Verunsicherten aktivieren in solchen Fällen irritierten Zeiterlebens gelegentlich Klischees des Zurückgebliebenen und andere kulturelle Abwertungen (die Irritationen finden meist in „fremden“ Kulturen und oft in Urlaubszeiten statt). „Du siehst ja, wie das ausschaut hier. Kein Wunder.“ Dennoch wird die völlig andersartige Zeit-„Organisation“ dann genossen. Deren Organisationsprinzip ist es, dass Termine nicht organisiert werden, sondern sich ergeben. Das ermöglicht ziemlich interessante, weil lebendige Erfahrungen. Hat sich Verunsicherung und Irritation erst mal gelegt, entsteht sowas wie Genuss und das Gefühl von Freiheit und Zeitsouveränität.

Ich erinnere meinen dörflichen Hintergrund als Jugendlicher. Da war das durchaus üblich: Sich einfach mal kurzentschieden auf den Weg machen und dann – meist überraschend – vorbeischauen. War die Person daheim oder am Arbeitsplatz, eröffnete das nicht selten überraschende weitere Verläufe. Klappte es nicht, dann nicht. Dann ging’s weiter zum nächsten. Mal schauen ober er oder sie da ist. Und was wir uns so zu erzählen haben (natürlich ohne Agenda). Und wie’s dann weiter geht. Manche/r wird abwinken mit dem Kommentar: „Andere Zeiten waren das, ohne Internet und den ganzen zwischenzeitlichen Fortschritt.“

Sicher ist das so, die Welt hat sich geändert, es wurde neue Hamsterräder installiert und immer weiter beschleunigt. Zudem wurden mehrere dieser Hamsterrad-Baumuster vergleichzeitigt angeworfen. Grund genug, mal innezuhalten und sich anhand einer alternativen Erfahrung und aus der Vogelperspektive anzuschauen, was da so passiert – und was nicht mehr.

Sicher ist auch, dass es „Termine“ schon vor der Machtübernahme unserer elektronischen Kalender gab. Ursprünglich waren es Termine rechtlicher Natur – seit dem römischen Recht und im Mittelalter dann auch hierzulande. Ihre Nichteinhaltung hatte ernste Folgen. „Der Termin mahnt den Menschen“, hieß es. Der Begriff ist also geschichtlich mit einer gewissen Verbindlichkeitsanmutung und -aufforderung aufgeladen. Sei der Anlass heutzutage auch noch so pillepalle: Sobald es ein „Termin“ ist, wird’s ernst. Und meistens ernstgenommen. Wie so oft in der Zeitgeschichte wurde diese Kultur auch von den Kirchen befeuert, die ihr Personal und ihre Gefolgschaft mit festen Zeiten zur Zeitdisziplin veranlassten. Versehen mit der Erwartung bzw. Androhung nicht so prickelnder Folgen bei Nichtbeachtung. „Dem Gottesdienst soll nichts vorgezogen werden“ – das galt und gilt in den Klöstern, auch bezogen auf die höchst verbindliche Teilnahme an den Stundengebeten. Solche zeitlichen Verpflichtungen folgen einer inhaltlichen Logik, die zeitliche Auswirkungen hat und zu zeitlichen Ordnungen führt. Die Kirchen haben das nicht „Termin“ genannt, aber ich will lieber nicht wissen, wie viele automatisch eingestellte Terminerinnerungen es heutzutage vor der Laudes oder der Vesper gibt …

Wenn das so wäre, dann wäre es sinnbildlich für das Diktat der elektronischen Kalender und ihrer Termine und Terminerinnerungen. Diese sind inhaltlich entkoppelt, abstrakt und kommen aus einem Tool heraus. Viele Zeitgenoss:innen schätzen das heute, womöglich auch, weil es ihnen die Zeitstrukturierung abnimmt. Mit grenzwertigen Zeiterscheinungen, beispielsweise einer halbstündigen Taktung von Terminen ohne jegliche Pufferzeiten. Wie auch immer: Die einen loben Termintreue, die anderen klagen über Termingetriebenheit. Oft sind die einen auch die anderen. Wenn sie aber mal sagen können, sie hätten heute „keine Termine“, dann sind sie meistens im Urlaub. Sonst ist diese Bemerkung eher unüblich – und bereits erstverdächtig, dass hier was nicht stimmen kann. „Keine Termine“ – ich bitte Sie. Steht da jemand auf der Abschussliste, am Rande des Niedergangs oder dämmert bereits in beginnender Umnachtung vor sich hin? Dann doch lieber Termine machen. Termine zu haben, das ist eine Zugehörigkeitsgarantie. Termine zu haben bedient insofern ein menschliches Grundbedürfnis. Um welche Art von Terminen es sich dabei handelt, bleibt davon erst einmal unbenommen. Dabei sein ist alles. Und das ist ja schon mal was. Gelegentlich scheint zu gelten: „Je voller, je toller.“ Vielleicht bedienen die vielen Termine auch die Sehnsucht, das Leben sei doch planbar und steuerbar. Schaut mit Blick in den Kalender jedenfalls so aus. Aber es hat, wie alles, seinen Preis. Viele nennen ihn „Termindruck“.

Die Gefahr solchen „Termindrucks“ besteht mit Blick auf eine angestrebte zeitliche Autonomie und Souveränität darin, dass wir durch und durch terminiert zu Skalv:innen der Präzision werden. Es ist eine getaktete, abstrakte Präzision von elektronischen Kalendersystemen. Nichts daran ist natürlich, lebendig, geschweige denn an individuellen oder chronobiologischen Bedürfnissen oder Rhythmen orientiert.

Da ist eine Alternativmodellierung wie in der berichteten Geschichte aus Albanien womöglich eine charmante Idee. „Geht doch gar nicht!“ Höre ich ganz schnell bei mir. Geht aber womöglich doch begrenzt in geschützten zeitlichen Biotopen – die sich mancher Coachee in seinen Outlook-Kalender einpflegt. Raffiniert 😉

Als sogenannter Zeitforscher sehe ich mich gelegentlich veranlasst, mal was anderes auszuprobieren. Auch zeitlich. Manchmal bin ich in der Luxussituation, am Tag keine fremdbestimmten Termine zu haben. Ich habe nur genug zu tun. Dann verlasse ich das Muster der Selbstdisziplinierung im (gleichen) Modell des Terminterrors. Ich nehme mir nicht vor, bis wann ich dieses und jenes und danach etwas anderes usw. gemacht haben muss. Nein. Ich lasse eines das andere ergeben. Was sich ergibt, das überlasse ich meiner Lust und Laune. Und siehe da: Oft ist abends der sogenannte „Output“ erstaunlich hoch. Ich habe viel „weggearbeitet“, die entstandenen Texte oder Konzepte haben eine hohe Qualität (zumindest auf den ersten Blick des selbstzufriedenen Beobachters), ich bin entspannt und nicht von (selbst gesetzten) Terminen gehetzt. Ich habe auch spontan auf Anrufe oder nachbarschaftliche Kontakte reagiert und einfach mal wieder gequatscht. Wertvolle Zeitverluste – ganz ohne Termin.

Ich versuche das zum Konzept zu machen. Wenn es der Terminkalender zulässt 😉 Der lässt es genau besehen öfters zu als gedacht. Es scheint mir eher ein innerer Antrieb zu sein, „terminiert“ arbeiten zu müssen. Um dazuzugehören zu den Privilegierten des Terminauftriebs. Umso wichtiger ist eine Kontrastierung des Termindiktats. Es muss ja nicht gleich die Radikallösung sein. Es kann ja zunächst mal ein begrenzter Selbstversuch werden – mit festgelegten terminfreien Zeiten. Manche Coachees sichern das ab, indem sie sich beispielsweise für einen Nachmittag selbst einen Dauertermin „keine Termine“ anlegen 😉 Viele berichten dann euphorisiert von den Erfahrungen, der Entspanntheit, der Zufriedenheit und der Produktivität. Konsequent beibehalten bedeutet dies eine stückweise Rückgewinnung der zeitlichen Hoheit und Souveränität. Viele Menschen empfinden es als großen Gewinn, wieder Herr oder Frau der eigenen Zeiten zu sein.

Keine Termine. Bis zum nächsten Termin.

Gute Zeiten.

***

 

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Kategorien: Zeitforschung

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