Wir waren es gewohnt, dass die Bedürfnisse, die wir spürten, hatten oder auch diejenigen, die uns inszenierte Trends oder künstliche Intelligenzen unterjubelten, zeitnah erfüllt oder gar übererfüllt wurden. Der galoppierende Konsumkapitalismus, der nur Wachstum als Konzept und Parole kennt, war zum Muster unseres Inneren geworden: Das kapitalistische Motto „Bedürfnisproduktion vor Warenproduktion“ hatte im Selbst seinen Nährboden gefunden. Viele schienen in ihren Lebenskonzepten dem vielfach untergejubelten Motto „Steigerung der Bedürfnisbefriedigung pro Zeiteinheit“ hörig geworden. Und dann der harte Schnitt: Shutdown. „Nun sind wir“ – so mein timesandmore-Zeitgenosse Karlheinz Geißler in der Wochenendausgabe der Süddeutschen Zeitung im Interview – „auf uns selbst zurückgeworfen“.

Damit könnten wir nach innen schauen – auf unsere eigentlichen Bedürfnisse. Wer da was findet, ist fein raus, manche scheinen aber nix zu finden und haben es dann schwer mit sich selbst. Überhaupt, ja, das Selbst. Das rückt in den Blick, wenn es nicht mehr nach dem etablierten und unhinterfragten Konsummuster weitergeht und zugleich grundlegende, existenzielle, so nie dagewesene Fragen unsere Gefühle und unser Gehirn beschäftigen. Aber was wir da zu spüren und zu denken bekommen, das gefällt nicht immer. Ungute Gefühle, Genervtheiten und Gereiztheiten, Unruhe und Unwohlsein nehmen zu. Gefühle sind die Füllstandsanzeiger dessen, was wir wirklich „wollen“ – genauer: was wir brauchen. Dem Denken sind Gefühle vorgelagert – und diese zeigen etwas über dahinterliegende Bedürfnisse – und manchmal auch über verletzte Bedürfnisse.

Wir haben Bedürfnisse, die Gefühle erzeugen, die uns zu denken geben. Das ist die Story des Selbst, das vielen gerade so zu schaffen macht. Sie fühlen sich darauf zurückgeworfen, weil von gewöhnlich besser informierten (Wirtschafts-) Kreisen forcierte Ablenkungsmechanismen angesichts des Shutdowns lahmgelegt sind. Da stehen, sitzen oder liegen wir nun (alleine) mit uns selbst. Und manche/r weiß damit wenig oder nichts anzufangen. Das wäre schon mal eine erste wichtige Information: mit sich selbst nichts anzufangen wissen.

Wer das wahrnimmt und denkt, könnte erst mal schauen, was die emotionalen Füllstandsanzeiger so auf der Uhr haben. Denn die Gefühle zeigen uns etwas über erfüllte oder über nicht erfüllte oder gar verletzte Bedürfnisse. Ich fühle mich ausgeglichen, leicht, entspannt, ruhig, ich freue mich, wenn ein Bedürfnis, zum Beispiel das nach Selbsterhalt und Wohlbefinden, oder das nach Liebe, Zuwendung und Kontakt, das nach Verständnis, wenn das Bedürfnis nach Freiheit oder nach Feiern oder das nach Sinn und Selbstverwirklichung befriedigt ist. Dann haben wir gute Gefühle. Sind solche Bedürfnisse verletzt, dann haben wir schlechte Gefühle, wir fühlen uns abgespannt, erstarrt, erschöpft, frustriert, geladen, unwohl, schockiert deprimiert, verstört.[1]

Krisen können dazu beitragen, dass Bedürfnisse nicht erfüllt werden (können) oder verletzt werden – das erklärt die „schlechten“ Gefühle. Dann lautet die Forschungsfrage ans Denken, was es denn braucht, um zumindest zeitlich begrenzt mit dem entstandenen Mangel (gut) auskommen zu können. Das kann zu einem inneren Deal führen, bei dem uns unser Denken helfen kann. Zu erkennen wäre der Erfolg eines gelungenen Deals an guten Gefühlen.

Wenn ich also ständig unzufrieden, genervt und gereizt bin nach den Wochen der Ausgangsbeschränkung, könnte das beispielsweise daran liegen, dass mein Bedürfnis nach Kontakt, konkret zu meinen Motorsportfreunden bei unseren (ausgefallenen) Rennveranstaltungen nicht erfüllt ist – und auch auf mittlere Sicht nicht erfüllt werden wird. Der Deal könnte sein, den Kontakt auf anderen, sonst und bislang nicht genutzten Kommunikationskanälen zu suchen und gemeinsame (Renn-) Aktivitäten in virtuellen Räumen zu gestalten. Erst mal bis Oktober befristet, denn dann könnte ein echter Kontakt auf einer echten Rennstrecke wieder möglich sein. Dieser Deal könnte helfen, die Füllstandsanzeiger der Gefühle wieder in den grünen Bereich zu bringen. Was auszuprobieren wäre. Der Nutzen des Deals ist, statt unter unguten Gefühlen zu leiden, zeitlich begrenzte Ersatz-Aktivitäten zu verhandeln, die nahe an den unerfüllten Bedürfnissen liegen.

Herausfordernd kann es in der Krise auch deshalb werden, weil nicht nur eines, sondern gleich mehrere Bedürfnisse nicht erfüllt werden. Das verursacht dann bei den Füllstandsanzeigern, unseren Gefühlen, ein ziemliches Durcheinander. Zumal, wenn einige bereits im roten Bereich angelangt sind. Dann kann es zu extremen Reaktionen gegen sich selbst und das eigene Selbst oder oft auch gegenüber (manchmal unbeteiligten) anderen Menschen kommen. Insofern gilt der Warnhinweis: Eigene Gefühle beachten! Sie zeigen uns den Weg zu unseren Bedürfnissen und zum Selbst.

Wem also nichts einfällt zum Selbst, der- oder diejenige, begibt sich sinnvollerweise auf eine innere Expedition, um nach den zugrundeliegenden erfüllten oder unerfüllten, verletzten Bedürfnissen Ausschau zu halten. Um dann einen Deal zu machen, mit dem sie leben können. Zumindest zeitlich begrenzt. Dann macht das Zurückgeworfenwerden auf uns selbst Sinn. Sinn im wahrsten Sinne des Wortes. Denn dann stimmen Bedürfnisse, Gefühle und Denken überein. Das macht Sinn. Das wäre ein Nutzen für unser Selbst, das in der gegenwärtigen Krise so herausgefordert ist und das damit auch eine Stärkung im Hinblick auf die Resilienz bei künftigen Krisen erfahren könnte.

Nehmen Sie sich Zeit für Ihre Bedürfnisse.

***

[1] Es gibt unterschiedliche Einteilungen zu unseren Grundbedürfnissen. Bei Basu/Faust werden diese neun unterschieden: Selbsterhalt, Liebe, Verständnis, Aufrichtigkeit, Zugehörigkeit, Kreativität, Freiheit, Feiern, Sinnhaftigkeit – jeweils mit unterschiedlichen Variationen. Basu, Andreas/Faust, Liane: Gewaltfreie Kommunikation. Haufe-Lexware, Freiburg, München 2015, 3. Auflage, S. 53.

Foto: Tobias Tilemann

***

Diejenigen, die Sinn in der Zeit suchen, können in den „Zeitzeichen“, meinem neuen „ABC unserer Zeit“ fündig werden. Dort finden Sie Texte und Impulse für gute Zeiten, z.B. zu den Stichworten: Abschluss – Anfang – Augenblick – Auszeit – Beschleunigung-  Chillen – Dauer – Eigenzeit – Eile – Endlichkeit – Entschleunigung – Ewigkeit – Fastenzeit – Gelassenheit – Hektik – Knappheit – Langeweile – Langsamkeit – Moment – Muße – Naturzeit – Pause – Qualitätszeit – Rasten – Rituale – Schnelligkeit – Sofortness – Sommerzeit – Stau – Takt – Rhythmus – Trödeln – Uhr – Unterbrechung – Urlaubszeit – Vergleichzeitigung – Warten – Weile – Wiederholung – Zeitfenster – Zeitfresser – Zeitmanagement – Zeitmangel – Zeitverlust – Zeitwohlstand – Zukunft – Zwischenzeit.

Gute Zeiten!

ZEITZEICHEN

Ein ABC unserer Zeit.

ISBN 978-3-7504-3216-1

€ 19,99 [D] incl. MwSt.

Erhältlich bei BoD: https://www.bod.de/buchshop/zeitzeichen-frank-michael-orthey-9783750432161


0 Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

WP Popup