ORTHEYs beschäftigen sich mit Lernen. In unseren eigenen Lernbiografien war das so – bis hin zu den pädagogischen Studiengängen. Es hat uns nicht losgelassen. In unseren Arbeits-Formaten beschäftigen wir uns damit, Lernen bei Personen, in Gruppen, Teams und in Organisationen anzuregen, zu unterstützen und zu begleiten. Neben theoriegeleiteten, konzeptionellen und praktischen Zugängen haben wir aber immer wieder auch Blicke auf die andere, die kritische, die Zumutungs-Seite dieser großen Einredung gewagt: 1998 war es der „Große Zwang zur kleinen Freiheit“ (Frank Orthey gemeinsam mit Karlheinz A. Geißler bei Hirzel), 2004 das „zwielichtige lernen“ (W. Bertelsmann Verlag) und 2006 die Habilitationsschrift „betriebe – lernen – systeme“ (Universität Bielefeld). Insofern steht dieser kleine BLOG-Text in einer Tradition – und bedient sich natürlich ohne jegliche Skrupel bei bisher bereits (mehrfach und selbst ;-)) Geschriebenem. Interessant ist, dass das nach wie vor irgendwie aktuell erscheint …

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Lernen ist spätestens seit der „Aufklärung“ ein gesellschaftlich bevorzugtes und bewährtes Veränderungsmuster. Und es ist fast ausschließlich mit positiven Zuschreibungen besetzt. Immerhin hat es uns aus unserer selbstverschuldeten Unmündigkeit erlöst und uns – angeblich jedenfalls – (mehrfach!) emanzipiert. Kein Wunder, dass Lernen einen nahezu unangetasteten Glorienschein trägt und den Status der Nichthinterfragbarkeit erreicht hat. Ähnlich vielleicht wie es bei „Gerechtigkeit“ oder „Liebe“ der Fall ist. Lernen ist zum Erklärungsprinzip geworden, das keiner weiteren Erklärung mehr bedarf. Die Geschichte des Lernens ist eine Jahrhunderte alte und lange Erfolgsgeschichte. Eine – immer wieder neu – erträglich formulierte Geschichte von der (Selbstbe-) Zähmung des Menschen. Eine „große Erzählung“ – hätten ehedem die postmodernen Denker gesagt – und jedenfalls eine wirkungsvolle Einredung, die zur immer weiteren Stabilisierung des Erklärungsprinzips führt – und natürlich auch derjenigen Kontexte, die sie bemühen.

Die Attraktivität des Lernens liegt darin, dass es eine starke Zukunftsorientierung vermittelt. Seit den Leiden unserer Schultage wissen wir schließlich, dass wir nicht für die Schule lernen, sondern für das Leben. Und das kommt später (machte man uns in der Schule jedenfalls weis). Angesichts der Unsicherheitslagen im aktuellen Krisengemenge wird die Risikoverarbeitung via Lernen in die Zukunft verlagert. Denn Lernen vermittelt die Vorstellung, die Zukunft sei anders – will meinen: „besser“ – gestaltbar.

Der Charme des Modells Lernen liegt dabei nicht zuletzt darin, dass eine starke Zukunftsorientierung von der Gegenwart und ihren Problemen ablenkt, bzw. sogar Gegenwärtiges oder auch Vergangenes vergessen lässt. Lernen ist Aneignungs- und Ablösungsarbeit gleichzeitig: es werden bei der Aneignung neuer Kompetenzen immer auch wertvolle Muster und Modelle verlernt. Das ist die etwas verträglichere Formulierung von „Vergessen“. Diese Selektion kann hilfreich sein, sie muss es aber nicht. Hilfreich kann sie sein, um Neues zu lernen (dafür ist sie sogar notwendig) und um sich zu entlasten von den ganzen Unerträglichkeiten, die uns tagtäglich auf Augen und Ohren gehämmert werden. Das hält ja kein Mensch auf Dauer aus. Kritisch kann das werden, weil das Verlernen, das Vergessen, uns Augen und Ohren verschließt für etwas, das es wert ist konserviert und wieder erinnert zu werden. Für uns und für diejenigen, die nach uns kommen. Damit die – wenn es denn uns schon nicht gelingt – wenigstens was aus der Geschichte lernen. In der Zukunft.

Von Gregory Bateson wissen wir, dass Lernen eine „Veränderung irgendeiner Art“ bezeichnet, es aber eine schwierige Angelegenheit ist, zu sagen, um was für eine Art der Veränderung es sich handelt (Bateson 1992, S. 366). Darauf kommt es letztlich auch nicht an. Vielmehr geht es darum, eine Form verfügbar zu halten, die die Aussicht auf zukünftige Veränderung auf Dauer stellt. Lernen wirkt als eine solche offene Form, die vermittelt, angesichts inkonsistenter und sich dynamisch verändernder Erwartungen immer angemessen handlungs- und entscheidungsfähig zu bleiben. Das ist die Einredung, die wirkt. Heutzutage würde man wohl sagen, dass Lernen der „Agilität“ dient. Na ja. Das muss offenbar sein. Passt ja irgendwie auch. Lebendiges Lernen und so. Damit kennt sich die pädagogische Szene ja aus, agil wie sie ist …

Hinzu kommt eine weitere Funktion des Lernens, die eher auf der Ebene des „verborgenen Curriculums“ liegt: beim Lernen wird quasi nebenbei oft auch die Erfahrung vermittelt, sich selbst mit anderen vergleichen zu müssen und immerzu darauf warten zu müssen, von Autoritätspersonen gelobt oder getadelt, anerkannt oder abgelehnt zu werden. Kurzum geht es darum, ob wir eingeschlossen oder ausgeschlossen werden, z.B. vom Arbeitsmarkt – und dann in die Arbeitsagentur müssen, wo uns angedient wird, wie wir weiter zu lernen haben oder ob wir gleich unter die Großstadtbrücke müssen, weil wir lernresistent sind. Lernen regelt Inklusion und Exklusion – würden die Soziologen sagen. Angesichts der etwas düsteren Aussichten, wird dann meist doch lieber irgendwie und irgendwas weitergelernt. „Immer-weiter-Lernen“ sorgt dafür, diese Erfahrung zu festigen und zu konservieren. Lernen hält damit die Ungewissheit stabil, ob man/frau gerade drinnen oder draußen ist. Das ist gesellschaftlich und auch politisch insofern oft wünschenswert, weil daraus ein Antrieb für selbstverantwortete Veränderung bzw. Anpassung erwartet werden kann – siehe Integration von Flüchtlingen und von anderen, die am Rande stehen (müssen). Verantwortlich ist jede/r selbst für das, was geht – und für das, was nicht geht natürlich auch. Hat sie oder er eben nicht gut oder nicht das Richtige gelernt. Pech gehabt. Selber schuld.

Das ist der etwas widersprüchliche Charme des Lernens. Kein Wunder also, dass viel Lebens- und Arbeitszeit vom Lernen her gedacht wird, dass Individuen, Organisationen und der Staat sich immer mehr mit Lernen zu beruhigen versuchen und hoffen, zukünftig resilient, krisenfester oder was in der Richtung eben zu werden. Das führt zur zeitlichen Vereinnahmung des Lebens und Arbeitens – und vor allem: derer, die da leben und arbeiten – vom Lernen her. Zu bemerken ist dies auch daran, dass Lernen nicht mehr nur in institutionalisierten – und neuerdings in informellen – Formen gedacht wird, sondern als Aneignungsmetapher für die alltägliche Lebensführung angedient wird. Im strengen Selbstversuch erleben wir diesen Trend eindrücklich am besten Sendeplatz im Vorabend- und Abendprogramm, wo schließlich auch Freizeit zur Lernzeit wird. Dort können wir wahlweise – als ZuschauerIn – im Stil des Edutainment etwas lernen oder im anderen Fall – als KandidatIn in der Rateshow – mit unserem erlernten Wissen reich werden. Und wenn’s nicht ausreicht mit dem Wissen, dann scheitern wir – wie im wahren Leben auch. Es sei denn ein anderer Lernbegieriger rettet die gerade Lernblockierten per Telefonjoker. Klar, dass auch der mitratende Zuseher und die Zuseherin mitlernen will – und eifrig Wissenslücken zugoogelt. Da haben doch gleich alle was davon! Und das Netz lernt auch gleich mit. Eine Rundum-Win-Win-Situation mal wieder, die uns da das Modell Lernen beschert.

Lernen zweiter Ordnung

Angesichts solcher Zumutungen fragt sich Lernender und Lehrender (der oder die natürlich heute anders, schicker heißt, Coach, Lernbegleiter oder sowas) nachdem die Wut verflogen ist: Ja, was denn nun noch tun? Wenn denn Lernen immer Umschlagprozesse mitproduziert, die wenig hilfreich sind für die ursprüngliche Intention zunehmender Selbstbestimmtheit und Autonomie. Kleine neue Freiheiten, die große neue Zwänge und Abhängigkeiten mitproduzieren.

Der oberschlaue Lerntheoretiker erwidert, dann stehe ja noch der Weg auf eine andere Ebene offen, die sicherstellt, dass die Muster der darunterliegenden Ebene ins Lernen miteinbezogen werden. Voila! Lernen zweiter Ordnung eben. „Beim Lernen zweiter Ordnung (…) werden vor allem die Muster, Werte, Normen und Strategien identifiziert, die zur Problemlösung führten und diese werden dann konserviert. (…) Es geht um Möglichkeiten zum Umgang mit Handlungsproblemen.“ (Orthey 2006, S. 280) Ein bisschen Lern-Hoffnung darf also schon noch sein.

Aber was, wenn das sich dann doch wieder … ? Siehe oben.

Lernen dritter Ordnung?

Irgendwas geht immer noch beim Lernen. Klar. Also noch eine Ebene höher – Lernen ist eben ein Steigerungsprinzip. Beim Lernen dritter Ordnung wird das Lernen des Lernens reflektiert. „Durch das Lernen dritter Ordnung werden Veränderungen im Lernen zweiter Ordnung begründet. Es werden durch dieses Lernen Veränderungen im Lernprozess selbst möglich. (…) Es wird der Umgang mit Mustern, Werten und Normen reflektiert, um daraus Ableitungen für angemessenere Verfahren zu treffen, dies zu tun. Dabei wird auch die je eigene Verstricktheit als Beobachter in dieses Lernen oder Verlernen mitreflektiert.“ (Orthey 2006, S. 281)

Ob ein solches „Lernen dritter Ordnung“ realistisch ist, das ist umstritten. Gängig ist es sicher (noch) nicht – außer in komplex angelegten Beratungssettings, die auf Perspektivenvielfalt, 360°-Blicke und die gezielte Jagd nach blinden Flecken abstellen. Im Alltagsbetrieb scheint hier noch Luft nach oben, sonst würde nicht nur der Schulalltag sondern auch so mancher Change-Prozess und nicht zuletzt Politik anders ausschauen. Möglich ist es indes, wenn gezielt methodische Erweiterungen, z.B. in Formen psychodramatischer und systemischer Arbeit genutzt werden.

Diese Perspektive kann optimistisch machen. Wäre da nicht die Ungeduld bei der empörten Zurkenntnisnahme der täglichen Nachrichten – einschließlich „alternativer Fakten“. Diese neuen Wirklichkeiten, mit denen wir uns konfrontiert sehen, brauchen aber geradezu ein Lernen, das auf das Erkennen und Anpassen der Muster des Umgangs mit Mustern, Werten und Normen abstellt. Und das dabei die eigene Beobachterposition mit einrechnet. Auch bei denjenigen, die sich über dieses und jenes schnell mal empören.

Nichtsdestoweniger bleibt dieses Lernen ein paradoxes Unterfangen. Zum Beispiel beim Lernen, sich gegen die Zumutungen des Lernens abzugrenzen. Und dafür ein Lernmuster zu (er-) finden, das nicht wieder zurück in die Lern-Dauerschleife und in neue Abhängigkeiten führt. Eine Routine, die routiniert die Abweichung von der Routine auf Dauer stellt. Oder eben auch mal nicht.

Bei alledem kann das trotzdem – oder gerade deshalb – Lust machen.

Lust auf Lernen! Die wünschen wir Ihnen.

Und falls Sie mal Unterstützung dabei brauchen, Sie kennen uns ja 😉

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Für die Zwischenzeiten beim Lernen geeignet: Frank Michael Orthey: Zeitumstellung. Für einen guten Umgang mit der Zeit. Haufe-Lexware.

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