Zeit ist eine subjektive Vorstellung, eine Konstruktion. Nichts Objektives, nichts Lineares. Zeit ist etwas, das durch uns als Menschen entsteht, indem wir uns in der Welt im Nacheinander positionieren. Wie wir das tun oder lassen können, das hat Auswirkung darauf, wie wir Zeit gerade erleben. So oder so ähnlich, sage und schreibe und denke ich über Zeit.

Und doch ertappe ich mich gelegentlich dabei, die zusätzlichen Zumutungen der Wirklichkeiten, die durch elektronische Medien und „das Netz“ entstehen, auf „Zeit-Fresser“ hin zu deuten. Das ist natürlich wenig angemessen, weil es in der Art eines impliziten mitlaufenden Vergleichs so tut, als sei früher alles anders, womöglich „besser“ gewesen ohne diese Medien und ohne dieses „Netz“. Nichtsdestoweniger des sehr begrenzten Nutzens solcher vergleichenden Überlegungen kann es hilfreich sein, sich immer mal wieder die zusätzlichen Belastungen der aktuellen zeitlichen Situation zu vergewissern – möglichst ohne „besser-schlechter“-Unterscheidung. Ohne die Bewusstheit der eigenen zeitlichen Situation steigt die Gefahr, sich im Hamsterrad fremdbestimmter Zwänge zu wähnen – und die eigene zeitliche Autonomie (innerlich und äußerlich) einzubüßen. Bei mir entstand das Gefühl in einer genervten frühmorgendlichen Alltagslaune und ich notierte immer mal wieder diese kleinen zeitlichen Belastungen auf einen Spickzettel – und fand das einerseits etwas kleinkariert, andererseits erschreckend. Deshalb ließ ich es dann auch bleiben, stelle den werten Leser*innen aber frei, das mal einige Tage zu machen. Und ich meine übrigens nicht die „normalen“ Aktivitäten im Netz, die jede/r so für sich in den täglichen Zeithaushalt integriert hat, also beispielsweise Mail- oder WA-Nachrichten lesen und schreiben, Netzwerke pflegen undsoweiter. Ich meine eher das, was da auch noch – meist ungeplant – hinzu- und hereinkommt auf den Benutzeroberflächen unserer Tage. Wenn Sie jetzt ins Grübeln geraten, was denn „normal“ ist und was da noch oben drauf kommt, ja dann sind sie bereits mittendrin.

Was landete da auf meinem Spickzettel von Zeit-Fressern, die vor den Benutzeroberflächen entstehen?

  • Benachrichtigungen von Social-Media-Plattformen über Nachrichten, Posts und Neuigkeiten
  • Versuche diese Benachrichtigungen (zum wiederholten Male, endlich wirkungsvoll) abzuschalten
  • Nachrichten von (selbst aktivierten) Suchagenten (bei mir vorzugsweise von alten Autos)
  • Bewertungsanfragen nach Online-Einkäufen
  • Rückgängigmachen von Autokorrekturen
  • Suche von Funktionen (beispielsweise der Systemsteuerung), die nach Updates, die vorgeblich der „Vereinfachung“ dienen sollen, nicht mehr auffindbar sind
  • Newsletter (abonnierte und nicht abonnierte) anschauen, wegsortieren, wegklicken und abbestellen (zu versuchen)
  • Verifizierungsanfragen bearbeiten
  • Formulare im Netz ausfüllen – für alles und nichts, wie mir scheint
  • Spam-Filter checken, kontrollieren und leeren
  • PC-(Fern-) Wartung koordinieren
  • Recherchieren im Netz zu allem (Un-) Möglichen, was möglich ist neben dem Möglichen
  • unaufgeforderten – von Algorithmen zugegebenermaßen sehr schlau gerechneten – „Angeboten“ nachgehen (und sich über die Schlauheit von Algorithmen wundern oder empören)
  • Werbung wegklicken bzw. sie zu blockieren versuchen (sehr zeitintensiv 😉
  • Lösen von Synchronisierungsproblemen bei mehreren Geräten oder Clouds
  • Updates installieren und Warten bis diese sich installiert haben bzw. das Gerät sich (wiederholt) neu gestartet hat
  • Wiederherstellen der Arbeitsbedingungen nach dem Geräteneustart
  • Löschen von Fotos auf dem Smartphone, da Speicher wieder mal am Rande der Kapazität
  • „O.k.“ für Cookies klicken (oder ablehnen) – und so diese Sachen eben, die nur mal eben einen Klick brauchen (und dem, was dann manchmal doch noch folgt und mehrere Klicks braucht)
  • Kenn- und Passwörter eingeben bzw. erneuern, damit sie bestimmten Sicherheitskriterien genügen
  • Bildschirm entsperren beim Smartphone (mehrfach da immer noch allzu oft fehlerhaft)
  • Ärger darüber, sich über dieses und jenes zu ärgern

… und nein: es wurden keinerlei AGBs gelesen bislang (allerdings wurde das Häkchen gesetzt). Wer dies (Lesen) zudem auch noch gemacht hat (insofern es solche Menschen überhaupt geben sollte, was anzuzweifeln ist), der- oder diejenige sitzt jetzt – tagtäglich – zu nachtschlafender Stunde weiter vor einem seiner Geräte.

Sollte der Hype um die Potenziale künstlicher Intelligenz mal in Realitäten münden, die die Intelligenz (und die Zeit 😉 des wahren Menschen zu entlasten in der Lage sind, dann …, ja dann wäre das eine nützliche Auswirkung der schillernden Hoffnungs- und Angstperspektive künstlicher Intelligenz. Nur, was ist die Referenz von „nützlich“ – für wen, von wem, für was – mit welchem Algorithmus – entschieden? Von welchem Beobachter so beobachtet?

In stillen Momenten schleicht sich bei mir der Verdacht ein, dass die Wirklichkeiten, die uns derart zeitlich unter Druck bringen, bereits das Ergebnis einer vernetzt operierenden künstlichen Intelligenz sind. Aber welchen Nutzen hätte die im Blick? Ist es neben der Enteignung der Zukunft von der → „Rückseite der Cloud[1] bereits die Enteignung des → Augenblicks oder gar: der Zeit …?

Sollte das so sein – aber das ist jetzt schon verdächtig nahe an verschwörungstheoretischen Annahmen (ich bitte Sie …) – dann klappt das wohl zunehmend besser (nicht nur mit Blick auf solche Listen wie diejenige, die ich oben notiert habe …). Das in immer kürzeren Zeiteinheiten „besser Klappen“ wäre denn auch schon ein Indiz, dass künstliche Intelligenzen am Werk sind.

Wer jetzt denkt, dass möglicherweise immer doch das Ausschalten hilft, der- oder diejenige mag sich dieses Denken bewahren und die dazu nötige Aktivität auch. Allerdings … Bevor ich mich um Kopf und Kragen schreibe, zitiere ich Stephen Hawking:

„Warum machen wir uns wegen Künstlicher Intelligenz so große Sorgen? Der Mensch wird doch jederzeit dazu in der Lage sein, den Stecker zu ziehen!

Die Menschen fragten einen Computer: „Gibt es einen Gott?“ Der Computer sagte: „Ja, ab jetzt“ – und brannte mit dem Stecker durch.“[2]

***


[1] Seele, Peter/Zapf, Chr. Lukas: Die Rückseite der Cloud. Eine Theorie des Privaten ohne Geheimnis. Springer Verlag, Berlin 2017

[2] So beendet der 2018 verstorbene populäre Astrophysiker seine Antwort auf die Frage: „Wird uns künstliche Intelligenz überflügeln?“ in: Hawking, Stephen: Kurze Antworten auf große Fragen. Klett-Cotta-Verlag, Stuttgart 2018

Sicher kein Produkt künstlischer Intelligenz: Frank Michael Orthey: Zeitumstellung. Für einen guten Umgang mit der Zeit. Haufe-Lexware.

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Kategorien: Zeitforschung

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