Die Redewendung hat überlebt, die Unterschiedlichkeiten in der Festlegung des Jahreswechsels, für die sie ursprünglich stand, gibt es heutzutage nicht mehr. Die Zeitspanne, die mit „zwischen den Jahren“ umfasst wird, reicht von Weihnachten (24. oder 25.12.) bis – je nachdem, wen man fragt – Sylvester/Neujahr bzw. bis zum 6. Januar (Erscheinung des Herrn). Einst war damit – grob gesagt – der Zeitraum zwischen dem Ende des alten Jahres (24.12.) und dem Beginn des neuen Jahres (06.01.) gemeint. Für viele ist das insofern heute noch so, als damit ein Zeitraum umschrieben wird, der zwischen dem Abschluss der Arbeit des alten und dem Beginn der Arbeit im neuen Jahr liegt. Insofern wird diese Zeit von vielen ZeitgenossInnen herbeigesehnt. Wenn denn die Weihnachtszeit mit den üblichen Verdächtigen der Erwartungs- und Reizüberfrachtung, des Konsumwahnsinns, des Kitsches und der Völlerei gut sediert überstanden ist, dann kommt nach dem Dämmerzustand eine schöne Zeit, die man und frau sich meist „ruhig“ – und das meint heute oft: selbstbestimmt – wünscht. Die Bilder, die entstehen, wenn die Wendung genutzt wird, sehen uns beim Gebrauch und Genuss der Weihnachtsgeschenke, in selbstbestimmten Eigen- und Sozialzeiten beim Lesen, Basteln, Sporteln, in der Tradition der vormaligen Einkehrbräuche bei Familien- und Freundesbesuchen – und oft auch im Urlaub über den Jahreswechsel. Kurzum: In reizvollen und anregenden, erfüllenden und bereichernden Gegenwarten zwischen Vergangenheiten und möglichen Zukünften. Die Zeit „zwischen den Jahren“ verbringen wir in Hier-und-Jetzt-Situationen, die geschützt sind vor dem Ballast der Vergangenheiten des abgelaufenen Jahres, die wir womöglich in der (Vor-) Weihnachtszeit bilanzierend in den Blick genommen – und uns dabei nicht selten erschrocken – hatten. Ebenfalls geschützt sind wir in diesen heimeligen Gegenwarten vor den ungewissen Zukünften des neuen Jahres. Mit den Blicken zurück und den Blicken nach vorne versorgen uns einstweilen die entsprechenden Ansprachen von Politikern, Würdenträgern, Chefs und anderen, die sich berufen fühlen, salbungsvoll zurück und verheißungsvoll nach vorne zu schauen. Zwischen den Jahren nehmen wir das zur Kenntnis – oder auch nicht. Weihnachts- und Neujahrsansprachen gehören wie vieles andere zu den üblichen Ritualen dieser Zeit, die eine Zwischenzeit ist. Wir erleben sie in der Nachfolge vieler Bräuche unserer Vorfahren, die regional ganz unterschiedlich ausfielen. Da war viel Dämonisches dabei, es gab wilde Jagden und eine Menge Geister, gute und böse, wie bei den bayerischen und österreichischen alpenländischen Perchtenbräuchen. Oft wird in den sogenannten Rauhnächten zwischen Weihnachten und 6. Januar viel Lärm gemacht, um böse Geister oder gleich das ganze alte Jahr zu vertreiben. Weshalb wir das neue Jahr und seine Zeiten mit einer ordentlichen Böllerei begrüßen. Damit es mit guten Vorzeichen beginne. Bei dem, was heutzutage aus der Böllerei geworden ist, kann einem allerdings angst und bange werden. Wobei das auch für die ein oder andere klassische Brauchtumsfigur gilt, die einem einen ordentlichen Schrecken versetzen kann. Einst wie jetzt sollen jedenfalls Ängste vertrieben (oder verdrängt) werden. Wir wollen sie – ebenso wie unsere Vorfahren – im neuen Jahr nicht mehr haben. Das ist ein großes Vorhaben angesichts der Entgrenzungen und Enthemmungen unserer postmodernen Zeiten, in denen alles möglich ist – einschließlich dessen, was wir nie für möglich gehalten hätten. Darauf sind wir gefasst. Und darauf, dass es eben immer auch anders sein könnte. Das macht vielen Menschen Angst. Diese Angst wird von allerlei Institutionen genutzt. Wir hören politische Versprechen, erleben wie wir immer enger in Kontrollmechanismen eingeschnürt werden, damit wir keine Angst mehr haben müssen. Oft ist das Gegenteil der Fall. Das Angstniveau in der Gesellschaft scheint zu steigen. Gute Gründe für große – und oft einfache – Versprechungen, denen viele folgen, die sich abgehängt fühlen oder irgendwo anders angstvoll am Rande oder auch mittendrinn stehen. Manche wähnen uns in einer „Gesellschaft der Angst“ (Bude), in der sich Menschen angesichts übergriffiger medialer Kommunikationsformen, ständiger sich steigernder Selbstoptimierungswahnwitzigkeiten und stetig genährter Abstiegsphantasien orientierungslos fühlen und gerne einfachen Lösungen oder Versprechungen nach größtmöglicher Kontrolle erliegen. Dabei ist individuelle Angst nicht notwendigerweise eine Bedrohung, sondern eine Normalität unseres Daseins, eine energievolle Ressource, wie es Fritz Riemann in den „Grundformen der Angst“ entwickelt. Als gesellschaftliches Phänomen kann sie allerdings bedrohlich und destabilisierend wirken. Gesellschaften, die sich gegen Ängste definieren, verstricken sich in den Netzwerken des Terrors und Gegenterrors, sind bestimmt von Kontrolle, Überwachung, Ausgrenzung und Gewalt und geraten in steil nach oben deutende Angstspiralen, die das Gemeinwesen und letztlich auch einzelne mehr bedrohen als entlasten. Und dann geht’s immer weiter mit neuen Ängsten auf höherem Niveau.

Das sind möglicherweise Hintergründe, die dazu führen, dass viele der Ansprachen, die wir „zwischen den Jahren“ zu hören bekommen, eher auf Freiheit, Miteinander, Toleranz und ähnlich positive Werte setzen.

Um das glauben zu können, braucht es Vertrauen. Das wird auch von den RednerInnen eifrig beschworen. Nun ist es mit dem Vertrauen so eine Sache. Entweder es ist gewachsen, hat sich entwickelt und steht tragfähig zur Verfügung. Mit dem ein oder anderen Zweifel garniert bisweilen. Der dient bestenfalls als Prüfoperation und festigt das Vertrauen. Aber im Vertrauen: „Der vernünftige Mensch“, so Ludwig Wittgenstein, „hat gewisse Zweifel nicht“. Oder aber das Vertrauen fehlt – und muss erst entwickelt werden. Das braucht seine Zeit, dauert. Noch länger dauert es nur, wenn es mal Vertrauen gab, das beschädigt wurde und nun aufwändig wieder hergestellt werden muss. Wie auch immer: Vertrauen ist ein anderes Konzept als Kontrolle. Es braucht seine Zeit zur Entwicklung, hat dann aber auch eine langfristige tragende Wirkung. Vertrauen wirkt nachhaltig, würden viele heute wohl sagen. Im Gegensatz zum Kontrollparadigma, das Ängste eher schürt und auf ein höheres Niveau bringt, ist Vertrauen ein Konzept, das einen nicht bange macht. Wenn ich vertraue, brauche ich keine Angst mehr. Und auch keine mehr zu haben. Wer Vertrauen hat, hat die innere Sicherheit, die keine Angst mehr braucht. Alleine das wäre es doch wert, die Zeit „zwischen den Jahren“ mal der Frage zu widmen, was es denn braucht, um (mir) wieder mehr vertrauen zu können, um (wieder) Vertrauen zu schöpfen. Was bedeutet für mich Vertrauen? Worauf basiert mein Vertrauen? Auf welchen Grundwerten und Annahmen? Vertrauen in Bezug auf was? Wie vertraue ich? Wem vertraue ich (nicht mehr)? Wie kann ich Vertrauen zurückgewinnen, bilden und entwickeln? Was brauche ich dazu? Wie kann ich mein Vertrauen schützen, z.B. vor Vertrauensbrüchen. Wie kann ich es pflegen und bewahren?

Wenn es Ihre Zeit zulässt, dann stellen Sie sich „zwischen den Jahren“ mal diese und andere Vertrauensfragen. Und widmen sich danach wieder den alten und neuen Ritualen der Zeit der Rauhnächte, die alte Ängste vertreiben und neues Vertrauen festigen. Dazu können Sie es ja auch mal krachen lassen. Als Ausdruck eines inneren Resets. Wer einen Reset macht, der- oder diejenige macht keinen radikalen Change, keine Revolution, sondern macht nach einem Update (z.B. zum Thema Vertrauen) auf Grundlage der eigenen Ordnung, Ressourcen und Eigenheiten einen Neustart. „Reset-Arbeit heißt sich mit der Wirklichkeit auseinanderzusetzen, nicht mit Revolutionsromantik.“ Heißt es im aktuellen, sehr anregenden brand eins Heft mit dem Schwerpunkt „Reset“ auf Seite 37. Wer die Logik hinter der bewusst gewählten, etwas schrägen und beide Hände erfordernde Tastenkombination „str+alt+entf“ Ernst nimmt, weiß, dass es nicht darum geht, ständig aufs Knöpfchen zu drücken, sondern diese Funktion bewusst und eher selten, im Ausnahmefall zu wählen. Zum Beispiel: zwischen den Jahren. „Denn es gilt: Erst nachdenken (z.B. über Vertrauen), dann neu starten.“ (brand eins, 01/18, S. 34)

Das oder anderes könnten wir uns zwischen den Jahren überlegen. In diesem Zwischenraum und in dieser Zwischenzeit ist auch dafür Zeit und Raum. Dieses „Dazwischen“ braucht es. Räumlich und zeitlich. Kein Haus ohne Dehnungsfuge, kein Musikstück ohne Pausen, keine Melodie und kein Akkord ohne Intervalle. Es werden eben nicht alle Töne gleichzeitig angeschlagen, sondern im zeitlichen Nacheinander werden auch Töne weggelassen. Die Stabilität, der Wohlklang und oft auch der Genuss, die entstehen im Zwischenraum und in der Zwischenzeit. Obschon heute viel daran gesetzt wird, das Dazwischen wegzurationalisieren, damit wir uns in einer wohlgeformten, hochkontrollierten Lückenlosigkeit ohne Zäsur erleben können (wozu eigentlich?), fehlt in dem unwahrscheinlichen Falle, dass dies gelingen sollte, das Entscheidende für Leben, Lernen und Entwicklung und Schönheit. Es ist die Zwischenzeit und der Zwischenraum. Was und wie das ist und sein kann, das erleben wir bei solchen Gedanken „zwischen den Jahren“.

Auch wenn die Zeit zwischen den Jahren irgendwann vorbei ist, können Zwischenzeiten wertvolle Zeitverluste sein – und Zwischenräume Inseln der kleinen Glückseligkeiten. Falls wir sie uns nehmen und schaffen. Das könnten wir zwischen den Jahren lernen. Und es uns nach dem Update zum Vertrauen mit einem Reset in unser Programm fürs neue Jahr schreiben.

Ein gutes neues Jahr mit schönen und bereichernden Zwischenzeiten und –räumen.

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Auch für Zwischenzeiten geeignet: Frank Michael Orthey: Zeitumstellung. Für einen guten Umgang mit der Zeit. Haufe-Lexware.

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