Die Zeit ist nicht die Uhr. Klar. Dennoch wird diese Verwechslung gerne genommen, zum Beispiel bei der umstrittenen jährlichen „Zeitumstellung“. Genau genommen stimmt das natürlich nicht, denn es ist die Uhr, die eine Stunde vor bzw. zurückgestellt wird. Eine gerne genommene Verwechslung heutzutage, diejenige zwischen Zeit und Uhr. Einzelheiten zur Uhrzeitumstellung regelt das Gesetz über die Einheiten im Messwesen und die Zeitbestimmung (Einheiten- und Zeitgesetz – EinhZeitG). Der Nutzen ist umstritten, die Menschen alljährlich verwirrt, entrhythmisiert. Manche nutzen die – vermeintlich – „gewonnene“, schlaflose Stunde womöglich auch, um über sich selbst und das eigene Verhältnis zur Zeit nachzudenken. Vielleicht mit einem eher ratlosen Ergebnis, das sich in der Frage zuspitzt: Ticke ich noch richtig?
Das wär ja schon mal ein Nutzen: das eigene Zeit-Leben und Zeit-Verhalten zu bedenken. Immerhin.
Wir müssen uns jedenfalls umstellen, fühlen uns aus dem Rhythmus gebracht, die meisten sind Presseberichten zur Folge genervt. Wir „gewinnen“ oder „verlieren“ eine Stunde und kommen ganz durcheinander. Jedes Jahr zweimal die gleichen Fragen und insbesondere die gleichen Folgen. Und wir brauchen unsere Zeit, bis wir uns daran gewöhnt haben. Uns daran gewöhnt haben, unsere Gewohnheiten zu ändern. Die sind eher an den Rhythmen der Natur und den Zeitmaßen unseres Arbeits- und Lebensalltags orientiert als am Lauf der Uhr. Diese hat nur die Bedeutung, dass wir die unterschiedlichen Zeiten messen, vergleichen und synchronisieren können. Das ist die kulturgeschichtliche Bedeutung der Uhr. Insofern ist die Uhr für die Zeit nicht bedeutungslos. Zeit verstanden im Sinne des gesellschaftlichen und individuellen Umgangs mit ihr. Die Uhr erlaubte und erlaubt es, unterschiedliche Zeiten und Zeitmaße zu koordinieren und zu synchronisieren. Das hat der Differenzierung von Gesellschaften erheblich in die Hände gespielt, sie genaugenommen erst ermöglicht. Mittels der Uhr war es möglich, Handlungen des Arbeitens und Lebens zu koordinieren. Nicht mehr jeder wurschtelte so vor sich hin, wie es ihm gerade in seinen eigenzeitlichen Kram passte. Sondern es wurde möglich, die individuellen zeitlichen Handlungen zu messen, einander anzupassen, aufeinander abzustimmen und voneinander abzugrenzen. Insofern ist die Uhr ein zeitliches Disziplinierungsinstrument. Denn sie ermöglichte die Abstraktion – und damit die Abstimmung in all ihren Varianten, die vor allem wirtschaftliche Bedeutsamkeit hatten. Erst mit der Uhr konnte Zeit zu Geld und mit Geld verrechnet werden. Die Abstraktionen, die die Uhr erlaubte, unterstützen die Abstraktionen, die das Geld vollzieht, wenn es von qualitativer Leistung und Wert abkoppelt wird und diese durch eine zahlenmäßige Größe ersetzt, die verglichen und gehandelt werden kann. Die Uhr ist insofern ein Rechtfertigungsinstrument für die willkürlichen Abstraktionen des Geldes. Uhrzeit und Geld bilden insofern ein gemeinsames Erfolgsmodell. Das eine ohne das andere wäre niemals so dominierend für unsere gesellschaftlichen und individuellen Lebensumstände geworden. Uhrzeit und Geldwert – das sind die Synchronisationsinstrumente der Moderne und allem, was ihr folgen konnte.
Heute wird die Uhr häufig vor allem deshalb getragen, weil sie schmückt. Edel am Handgelenk. Das entspricht ihrer Bedeutung. Mit einem solchen Erfolgsmodell kann sich jede/r schmücken. Und macht es allzu gerne. Obwohl – oder weil – es die schicke Armbanduhr heute für die eben skizzierten Funktionen gar nicht mehr braucht. Es gibt einen starken Trend zu schönen Uhren, insbesondere zu klassischen Modellen. Oder zum Retro-Look, den uns die Postmoderne beschert hat. Sportuhren aller Art, Fliegeruhren, die meist nicht von Piloten getragen werden, Taucheruhren, Uhren für Autofahrer und Rennfahrer (von denen es deutlich weniger gibt als Träger von Rennfahreruhren). All jene benötigen die Qualitäten der Uhr zur Zeitmessung heutzutage nicht mehr. Formel 1-Rennfahrer streifen sie denn auch nur nach dem Rennen zur Siegerehrung um. Uhren sind Instrumente, die das, was uns sonst einstweilen quält, uns in Hektik und Stress bringt, was uns begrenzt ist und über das wir keine Macht haben, in eine Ästhetik bringen, die uns die Zeit (-messung) als etwas Schönes, als etwas Erhabenes erleben lassen. Vielleicht suggeriert die schöne Uhr am Handgelenk dem Träger auch, dass die Zeit ihm oder ihr zugänglich ist. Sie vielleicht sogar beherrscht wird, weil der Zeitmesser so schick und so schön teuer ist. Vielleicht ist die Uhr eine Insignie der Macht und ein Schmuckstück der Machthaber. Vielleicht.
Uhr und Zeit – diese Beziehung ist eine menschliche Erfindung. Sich mit dieser so erfolgreichen Erfindung zu schmücken, das gefällt vielen. Es vermittelt die Zugänglichkeit dessen, was uns nicht zugänglich ist. Es gibt ihm Schönheit. Heute ist es eine ästhetische Beziehung, die die Uhr und die Zeit verpasst bekommen. Immerhin. Damit wir die Endlichkeit unser aller Zeiten möglichst schick im Blick haben können. Da läuft sie ab – an unserem Handgelenk. Unsere Zeit. Aber bitte nicht weitersagen!
Wenn Sie Sonntagmorgen eine Stunde länger im Bett liegen, können Sie ja mal drüber nachdenken. Und was für Sie persönlich eine hilfreiche „Zeitumstellung“ sein könnte …
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Hinweise gibt es dann bald mehr dazu: Frank Michael Orthey: Zeitumstellung. Für einen guten Umgang mit der Zeit. Erscheint 2017 im Haufe-Verlag.
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