Was ist Zeitnot? Viele Zeitgenoss*innen benutzen den Begriff, wenn die Zeit zu knapp für irgendwas ist – und dieser Zustand länger andauert. Eine dauerhafte zeitliche Überlastung quasi. In welchen Nöten befinden wir uns aber wirklich?

Möglicherweise sind es Nöte, die von ganz woanders herkommen und sich in der Zeitdimension abbilden. Vielleicht gibt es zu hohe oder zu viele Anforderungen im Job, in der Familie, im Freundeskreis und/oder bei einem Hobby. Oder wir kommen durch die heutzutage üblichen permanenten Möglichkeitsüberschüsse in Nöte, können oder wollen nicht entscheiden – und versorgen uns stattdessen mit noch mehr Möglichkeiten, indem wir schnell mal googeln, was andere denn empfehlen in ähnlichen Notsituationen. Und geraten immer mehr in die Überforderung und in Nöte, die wir dann verlegenheitshalber „Zeitnöte“ nennen. Wenn Sie tatsächlich jetzt parallel schnell mal „Zeitnot“ gegoogelt haben, weil es die Möglichkeit gibt, das zu tun, dann haben Sie womöglich Überraschendes gefunden:

„Zeitnot ist ein Begriff aus dem Schachspiel und bezeichnet die Bedrängnis eines Spielers, wenn in einer mit Schachuhr ausgetragenen Partie nur noch wenig Bedenkzeit zur Verfügung steht, um eine bestimmte Anzahl von Zügen zu machen oder die Partie vor Ablauf der maximal erlaubten Bedenkzeit zu Ende zu spielen.“[1]

Das ist für die im Alltagsbetrieb von Zeitnöten geplagten Menschen schon mal erhellend: Da geht es um Bedenkzeit, die zu wenig ist, um eine bestimmte Anzahl von Zügen zu machen oder das Spiel gut zu Ende zu spielen, es womöglich zu gewinnen. Bedenkzeit ist also ein Problem bei Zeitnöten, genau genommen: nicht genügend Bedenkzeit. Das ist bedenklich – und zu bedenken, wenn sich Gefühle von Zeitnot breitmachen: Weiter hudeln oder hetzen statt die nächsten Züge gut und weitblickend vor zu überlegen. Für manche/n kann das Nöte verursachen, wenn sie er oder sie das Gefühl hat, das ein oder andere nicht sorgsam genug bedacht zu haben. Manchen Menschen ist Denken auch deshalb wichtig, weil es die Sicherheit gibt, einen Teil der menschlichen Möglichkeiten im Hinblick auf die Justierung der Angemessenheit des Verhaltens genutzt zu haben. Die gefühlte Zeitnot verhindert das. Insofern verursacht Zeitnot Denkblockaden.

Wenn die Gefühle auf Zeitnot stehen, dann ist ein Bedürfnis verletzt, z.B. gut vorbereitet zu sein oder die Arbeit oder die Vorhaben, die anstehen, sorgfältig zu machen. Zeitnöte entstehen letztlich durch nicht einlösbare oder verletzte Bedürfnisse, manchmal auch durch kollidierende Bedürfnisse – nicht durch ein zu wenig an Zeit. Von der ist ja genug da. Die Füllstandsanzeige verletzter oder nicht einlösbarer Bedürfnisse sind unsere Gefühle. Das Gefühl von Zeitnot, das sich konkret als innere Unruhe, Ärger, Wut oder Unsicherheit Ausdruck verschafft, dominiert und blockiert andere Gefühle. Insofern verursacht Zeitnot Gefühlsblockaden.

Denk- und Gefühlsblockaden durch Zeitnotstände – das ist die wenige verlockende Aussicht. Zumal es sich um eine Steigerungsdynamik handelt: Zeitnot verursacht Denk- und Gefühlsblockaden, die zu mehr Denk- und Gefühlsblockaden und zu größeren Zeitnöten führen. Manche nennen das dann „Hamsterrad“. Insofern ist es – wenn Sie solche Gefühle spüren und das Gefühl haben, Sie haben nicht genügend Bedenkzeit, fünf vor Zwölf.

Zudem gibt es subtile psychologische Mechanismen, ähnlich wie in Schachpartien, bei denen „bestimmte Meister, die an „Zeitnotaffären“ gewöhnt seien, mitunter absichtlich eine knappe Bedenkzeit herbeiführen und dem Gegner damit eine „psychologische Falle“ stellen“ (Wikipedia). Manche Zeitnot wird – zum Beispiel in Organisationen – womöglich auch taktisch eingefädelt, um ein bedenkenloses Agieren zu provozieren oder um (Handlungs-) Druck zu machen („Ich brauche die Präsentation in einer halben Stunde!“) – oder um schlechte Gefühle zu machen.

Da hilft nur eines: Sobald (besser natürlich: bevor) Sie Zeitnotgefühle spüren, beachten Sie Ihre (zeitlichen) Bedürfnisse und gehen ihnen nach. Das kann eine kleine innere (Zeit-) Notstandsgesetzgebung sein, um zu mehr innerer (zeitlicher) Stimmigkeit zu kommen. Eine bedürfnisorientiert gestaltetet Zeit fördert zudem die Qualität der Beziehungen und der Aufgaben, um die es geht.

Deshalb: Schöne Zeiten – ohne Not!

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[1] Wikipedia, Zeitnot, abgerufen am 22.06.2019, 18.05 Uhr

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Kategorien: Zeitforschung

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