Nachdem 1893 in Deutschland die mitteleuropäische Normalzeit die vorher vorherrschende „Zeitenvielfalt“ abgelöst hatte, wurde staatlicherseits dreimal an der Uhr gedreht: Das erste Mal während des Ersten Weltkrieges (1916 – 1919), das zweite Mal während des Zweiten Weltkrieges, das dritte Mal als etwas verspätete Reaktion auf die Ölkrise – und unter dem Druck der europäischen Nachbarn. Auch im Nachkriegsdeutschland wurde an der Uhr gedreht: 1947 und 1949 gab es eine Hochsommerzeit. Da wurden die Uhren noch einmal eine Stunde vorgestellt. Durch alle dieser Drehereien an der Uhr sollte das Tageslicht besser ausgenutzt bzw. Energie gespart werden (was sich allerdings nicht bestätigte). Die Uhrumstellung war dazu das Kriseninterventionsinstrument. Heutzutage sind diese Anlässe und Voraussetzungen nicht mehr gegeben. Geblieben ist die zweimalige Rumfummelei und Verwirrung pro Jahr.

Was bringt die jährliche Uhrumstellung?

Was sie sicher bringt ist, dass solche Fragen gestellt werden. Nicht nur mir. Viele Menschen stellen sie sich. Das kann ganz sinnvoll sein, wenn es einen kurzen Reflexionsstopp zur Zeit (nicht zur Uhr) markiert. Denn natürlich ist es nur die Uhr und nicht die Zeit, die da umgestellt wird. Das ist eine gerne genommene Verwechslung heutzutage, diejenige zwischen Zeit und Uhr. Einzelheiten zur Uhrzeitumstellung regelt übrigens das Gesetz über die Einheiten im Messwesen und die Zeitbestimmung (Einheiten- und Zeitgesetz – EinhZeitG). Der Nutzen ist fraglich, die Menschen alljährlich verwirrt, etwas entrhythmisiert. Manche nutzen die – vermeintlich – „gewonnene“, die verlorene oder schlaflose Stunde, um über sich selbst und das eigene Verhältnis zur Zeit nachzudenken. Vielleicht mit einem eher ratlosen Ergebnis, das sich in der Frage zuspitzt: Ticke ich noch richtig?

Das wäre ja ein Nutzen in den heutigen, von Zeitverdichtung, Zeitfragmentierung und Vergleichzeitigung geprägten Zeiten. Wir drohen uns ja in diesen Zeiten zu verlieren, wenn sie gespickt mit vielen zeitlichen Anforderungen, an uns vorbeizurauschen scheinen und wir uns dann gelegentlich fragen, wo sie denn geblieben ist, die Zeit. Dabei versuchen wir doch so viel zu machen mit der Zeit. Wir planen sie, wollen sie einteilen, sogar managen. Alles mittels der Uhrenzeit. Dadurch wird Zeit für uns abstrakt und vom wirklichen Erleben abgekoppelt. Dieser Qualitätsverlust ist seit der flächendeckenden Verbreitung der Räderuhren beobachtbar. Zeit wird in Uhrzeit „gerechnet“ – und von bestimmten Erlebnisqualitäten abstrahiert. Es ist nicht mehr im natürlichen Rhythmus der Zeiten eine bestimmte Zeit angesagt, beispielsweise diejenige zu Säen oder zu Ernten. Das und anderes wird gemacht, wenn die Uhr es vorsieht – oder meistens: vorschreibt. Nix mehr mit Erleben. Eher Abarbeiten nach der Uhr ist angesagt. Heutzutage lenken uns vom Erleben zudem permanent ab, z.B. wenn wir mal wieder übers Display wischen. Das passiert (nach einer Studie von 2014, die vermutlich erschreckend veraltet ist) durchschnittlich alle 12 Minuten. 60 Mal am Tag wird das Smartphone durchschnittlich entsperrt, 12 % der Teilnehmer der Untersuchung machen es 96 Mal. Wir checken, was sich auf Facebook, Instagram und Twitter getan hat, wer uns eine WhatsApp geschrieben hat usw. Für diese Unterbrechungen geht viel Zeit drauf. 25 Minuten durchschnittlich für Facebook, Twitter and more und 34 Minuten für WhatsApp pro Tag. Telefoniert wird mit den „Mobiltelefonen“, die eher mobile PC-Lösungen sind, nur rund 10 Minuten im Durchschnitt.

Unser sowieso bereits weitgehend von natürlichen Rhythmen und Qualitäten abgekoppeltes Zeitempfinden ist heute durch ständige (Selbst-) Unterbrechungen, durch permanente Störungen gekennzeichnet. Unser Erleben ist fragmentiert, die Qualität der Zeit, die auch über Zeitspannen und die Wahrnehmung von Dauer entsteht, weicht einem immer währenden zeitlichen Hick-Hack (das ist die postmoderne Variante des Tick-Tack ;-). Oder – mit Blick auf unsere Lieblingsbewegung auf dem Display – besser wohl einem Wischi-Waschi. Wir verwischen die Konturen unserer Zeiten, indem wir ihnen alle Begrenzungen nehmen. Mit einem Wisch ist alles weg – und sofort was anderes da. Wir sind ja für alles offen. Und – abgenudelter Spruch – wer für alles offen ist, kann nicht ganz dicht sein. Na ja, wie auch immer, wir verlieren so jedenfalls den Kontakt zu unserer Zeit in ihren Qualitäten. Was wir dann umso heftiger beklagen.

Insofern kann die Uhrumstellung Ende März schon nützlich sein, wenn wir die Irritation einmal nutzen, um darüber nachzudenken, wie wir mit unserer Zeit – nicht mit der Uhr – umgehen. Und ob das noch zu uns und unserer persönlichen Zeit-Natur passt. Denn Zeit ist ja genug da, es kommt ja auch immer wieder zuverlässig neue nach. Wäre ja schön, wenn wir auch etwas davon hätten.

Was macht die Uhren-Zeit so wichtig für staatliche Kontrolle?

Das Rumgedrehe an der Uhrzeit war immer ökonomisch und politisch motiviert. Es sollte Krisen bewältigen helfen, Energie sparen oder ähnliches. Immer hatte und hat das etwas mit Macht zu tun. Der Kampf um Zeit macht sich daran fest, wer die Uhren wie stellt. Das beginnt geschichtlich gesehen bei den antiken und vormodernen Kulturen, führt über die Klöster, die Kirchen, die Städte und Gemeinden bis in die Fabrikationsanlagen, wo es um die Macht über die Arbeitszeit ging. Alle hatten sie ihre Uhren hochgehängt, damit sie bloß für alle sichtbar waren. Und sie – teilweise nach eigenem Gutdünken – so gestellt, wie es ihnen nützlich erschien für ihren Machtanspruch. Wenn denn also die Rumfummelerei an den Uhren etwas mit Macht zu tun hat, dann ist es insofern auch nicht ganz so leicht, die Uhrzeitumstellung, die nachgewiesener maßen außer Verwirrung keinen Nutzen stiftet, rückgängig zu machen. Die Uhrumstellung verschleiert mit viel Mächtigkeit auch, wer eigentlich die Macht über die Zeit hat. Denn das ist letztlich ja jede und jeder selbst. Durch das halbjährliche Hochhängen der Diskussion um die sogenannte Zeitumstellung geraten wir in eine eigentlich längst verabschiedete Abhängigkeit von politischer Zeithoheit. Und die hilft uns noch nicht einmal, die Zwänge, die durch die Individualisierung der Herrschaft über die Zeit entstanden sind, erträglicher zu machen. Die Zumutungen, die dadurch entstehen, dass wir durch Flexibilisierungen von Arbeiten und Leben selbst unserer Zeiten Schmied geworden sind, diese Zumutungen erhalten durch die Uhrumstellungen eigentlich nur den Beleg, dass es letztlich doch darum geht, Menschen gefügig zu machen. Das ist heute in den Kleidern der Individualisierung und Selbstorganisation ästhetisch ziemlich schick angerichtet. Die Uhrumstellung könnte uns ein wenig deutlich machen, wer die Hosen eigentlich an hat, wenn es um die Macht über die (Uhren-) Zeit geht.

Was können wir tun?

Der Stundenklau im Frühjahr und das herbstliche Stundengeschenk können wir – jenseits zeitpolitischer Forderungen – nutzen, um unser Verhältnis zur Zeit zu überprüfen und neu einzustellen. Das geht nicht am Handgelenk und erst recht können wir es nicht aus demselben schütteln. Aber wir können überlegen, ob unser Umgang mit der Zeit für uns stimmig und passend ist – oder ob wir uns etwa gehetzt, getrieben oder nicht mehr selbstbestimmt fühlen. Um dann zu überprüfen, welche zeitlichen Bedürfnisse wir denn haben als Individuum – und dann in Grenzen unser Verhalten ändern. Das sind oft Kleinigkeiten, denn viele Menschen können z.B. ihre Arbeitszeiten nicht selbst wählen, sich aber durchaus vor Störungen und ständigen Unterbrechungen schützen, sie können bewusste Pausen machen, und sich zeitliche Biotope reservieren für Eigenzeiten oder für Zeiten im Kontakt mit anderen Menschen, die uns wichtig sind. Denn solche Zeiten machen glücklich – und das mag unser Hirn und reagiert positiv. Und wir fühlen uns glücklich. Und zeitsouverän. Gut aufgehoben in der Zeit. Es geht insofern nicht um eine Zeitrevolution, sondern um kleine, ganz persönliche Zeitumstellungen. Die Stunde im Frühling oder Herbst hin oder her.

… ist es wirklich schon so spät?

Blöde Frage.

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Frank Michael Orthey: Zeitumstellung. Für einen guten Umgang mit der Zeit. Haufe-Lexware.

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