Kalle ist tot. „Friedlich und mit aufrichtiger Klarheit“, so sein Sohn Jonas, ist er am 09.11.2022 gestorben. „Zeit, das ist der Anlauf zur Ewigkeit“ hat er in seinen Vorträgen, Interviews, Artikeln und Büchern häufig gesagt oder geschrieben. Nun ist er von der Zeit in die Ewigkeit gegangen.

Astrid und ich sind sehr traurig.

Und mir fehlen die Worte.

Weil ich Karlheinz Geißler würdigen möchte, habe ich einen Text aufgegriffen, den ich 2004 in meinem Vorwort zur Festschrift anlässlich seines 60sten Geburtstages geschrieben hatte und den ich heute wiederfand. Ich möchte ihn damit als für mich so bedeutungsvollen, wegweisenden und inspirierenden Menschen beschreiben. Schließlich hat er einiges in Gang gebracht, was meine Lebenszeiten maßgeblich beeinflusst hat. Mit einem gruppendynamischen Seminar in meinem Pädagogikstudium hat er als Leiter den entscheidenden Impuls gesetzt, später Trainer zu werden. So fasziniert war ich von dem, was ich da – an mir selbst – erleben konnte. Kalle hat mich Jahre später als seinen Wissenschaftlichen Mitarbeiter an die Uni geholt, wo ich als eine der ersten Tätigkeiten gemeinsam mit meiner, mich damals „anlernenden“ Kollegin Astrid Dietrich (heute Orthey) die Schlussredaktion der Schlusssituationen (Geißler 1992) so intensiv machte, dass daraus für meine Kollegin und mich ein neuer Anfang wurde. Folgerichtig war Kalle, der Ermöglicher von diesem und vielem mehr, dann unser Trauzeuge. Ich durfte bei ihm an gewohnt langer Leine allerlei Unverständlichkeiten zwischen meinen Ohren zu einer ausgezeichneten Doktorarbeit entwickeln. „Der Kopf ist rund, damit das Denken seine Richtung wechseln kann“ (Picabia) war damals das Motto unserer Diskurse – und in seinem Uni-Arbeitszimmer als Postkarte sichtbar angepinnt. Geschrieben haben wir viel zusammen – zum Thema Lernen und zu seinem Lebensthema, der Zeit. Durch Karlheinz Geißler habe ich seit Studienzeiten in den 1980er Jahren die Begeisterung für dieses Thema, das er beschrieben, gelebt und verkörpert hat, entdeckt und entwickelt.

Aber langsam!

Das war oft sein Appell. Selbst musste er es ja auch sein. Seine Bewegungen mussten seit einer Polio-Erkrankung mit 5 Jahren langsam gehen. Und so ging er langsam – und dachte schnell, in wechselnde Richtungen und brillant.

„Zeit für ein Vorwort“ (Orthey 2004) – so hieß es damals in der Festschrift „Schon so spät?“ (tatsächlich, das soll nicht verschwiegen werden, mochte Kalle keine Festschriften). Ich nehme also diesen leicht angepassten Text, denn es ist jetzt Zeit für ein Nachwort. Ich fand ihn beim Lesen passend (und berührend), weil er auch die – aus damaliger Sicht formulierten – Widersprüchlichkeiten des Zeitforschers Karlheinz Geißler aufgreift. Und der war ja ein großer Freund des Widerspruchs und der Paradoxie. Ein Zeitweiser eben.

„Karlheinz Geißler – ein Mensch, der eigenen Auskünften zufolge die Produktivität der Langsamkeit und dadurch das Thema „Zeit“ entdeckte, weil er selbst langsam war. Ein Mensch, der von diesem Thema eingeholt, überholt, ergriffen, manchmal auch besessen wurde, der es – nicht zuletzt an sich selbst – aufgegriffen hat, der immer neu seine Zeit damit verbracht hat und ihr doch auch nicht entrinnen konnte (und es auskunftsgemäß auch nicht wollte). Trotz aller Hektik, die er dem Primat des eigenen Rhythmus und der Langsamkeit als kunstfertiger Beschleuniger und Versofortiger entgegensetzte, fand er dafür – mit unverhohlen selbstbezüglicher Ironie – stets passende Worte: Wenn ich denn schon langsam bin, dann tu ich wenigstens mal schnell so, als ob ich eigentlich ganz anders wäre, aber so selten dazu komme.

Er war wohl doch ein Prototyp des „Simultanten“, den er im Zuge jahrelanger Selbstbeobachtung in reflektierenden Phasen müßiggängerischer und genüsslich mit viel Eigenzeit ausgestatteter Kontemplation erfunden und bald darauf auch das Buch zum Thema vorgelegt hatte. Als Meister der Vergleichzeitigung und des von ihm gerne auf die sprachliche Schippe genommenen „Multitasking“ und Prediger der Früchte der rhythmischen und eigenzeitlichen Verungleichzeitigung wird er mit diesem widersprüchlichen Umgang mit seiner Zeit hoffentlich nie Schluss machen.“ Jetzt hat Kalle Schluss machen müssen – und zuletzt auch wollen.

„Übrigens: der Schluss, der ihn schon lange beschäftigte, teilt diese aus der Beobachterperspektive widersprüchliche Praxis des Zeitforschers. Denn es scheint, als sei es mit dem Schluss wie mit der Zeit. Man – dieser Mann! – beschäftigte sich allzu gerne mit solchen Themen, die dem strengen Motto genügten: „Was man nicht lernt, das lehrt man“ – und/oder schreibt darüber, wie über das Schlussmachen. Kaum eine Tagung, kaum ein Vortrag (außer denen, die er selber hielt) konnte beendet werden, ohne dass Karlheinz Geißler das Geschehen angesichts des nahenden Endes vorzeitig verlies. Selbst in Seminaren verstand er es – dies stammt aus sicheren Auskunftsquellen – mit kunstfertigem Einfallsreichtum, der Schlusssituation zu entgehen oder besser wohl: zu entkommen. Während die TeilnehmerInnen kreativ, ambitioniert und auch sichtlich emotionalisiert (die Gründe dafür hatte er bereits Anfang der 1990er Jahre aufgeschrieben) ihre Abschiedsgeografie gestalteten, hatte er den Raum längst unbemerkt und unentdeckt verlassen. Nach längerer Suche – Apfel kauend und zufrieden in die Innsbrucker Bergsonne blinzelnd – aufgefunden, wirkte er angesichts der Nachfrage nach seinem Verbleiben überrascht. Und konstruierte wie selbstverständlich aus seinem gruppendynamisch und emanzipatorisch geprägten Leitungsverständnis heraus schlüssige und flüssige Argumente für seine Flucht. Dabei schlug er eben mal noch die Brücke zum Thema „Zeit und Lernen“ und stand überzeugt und überzeugend da als derjenige, der das einzig Richtige am Schluss macht. Und dies natürlich im Sinne der Autonomie- und Eigenzeitbedürfnisse der Teilnehmer:innen, die sich gerade von einem Lernprozess (und von ihm als Leiter) ablösten. So löste er sich ab – meistens ohne dabei zu sein. Ein „Schlussflüchter“ war er wohl doch, dieser Meister des nahenden Endes in Lernprozessen, ein Schlussmacher war er freilich selbst wirklich nicht. Dafür danken wir ihm einstweilen sehr! Eher war er einer, der viel lieber immer wieder neu anfing, über ein Thema nachzudenken, das auch gerne „Zeit“ heißen und Zeit in Anspruch nehmen durfte. Dem dabei manchmal bereits Gedachtes, meist aber immer wieder Neues einfiel. Viel brauchte es dazu nicht. Alltagserfahrungen lieferten ihm reichlich Impulse, um über die Welt, die Zeit und das Lernen nachzudenken. Ob das ein Werbeplakat (das sofort morgen – oder besser schnell heute noch! – fotografiert werden musste für die Illustration seiner Zeitvorträge), eine Szene beim Einkaufen, im Zug, am Bahnhof oder wo auch immer ist. Die Geißler’sche Beobachtungsgabe für die „feinen Unterschiede“, die er an Pierre Bourdieu (1982) so schätzte, hatte die Differenz machende Situation bereits erfasst, erste Analogien entdeckt und gelegentlich auch bereits vorläufige Schlüsse gezogen. Kurz darauf klingelte das Telefon bei potenziellen Co-Autoren (mir): „Darüber müssen wir unbedingt was schreiben …“ Obschon das Telefonat mit einem entlastenden „… aber es pressiert nicht …“ seinen Abschluss fand, war die Geißler’sche Beschleunigungsmaschinerie hier meist schon so weit an- und fortgelaufen, dass das Publikationsorgan für das noch Ungeschriebene, das aber dringend mal geschrieben werden musste, bereits feststand, informiert war und eine feste terminliche Zusage hatte, wann denn der Beitrag vorliegen würde. Das ist wahrscheinlich übertrieben, aber was wird dem Meister der charmanten bescheidenen – immer aufklärerisch ambitionierten – Übertreibung denn sonst auch nur annähernd gerecht, um ihn zu würdigen? (…)

Karlheinz Geißler – ein Mensch, der lange Zeit immer wieder gerne darauf hinwies, dass er keine Uhr trage. (Gelegentlich hieß es auch, er besitze keine. Das traf zwar lange für einen Fernseher zu, die gelegentlich zum Vorschein kommende elegante und biografisch wohl bedeutungsvolle Taschenuhr sprach indes gegen diese Annahme.) Wie er selbst betonte, brauchte er keine Uhr, weil er eh immer ziemlich genau wisse, was die Stunde geschlagen habe. Diejenigen, die täglich geduldig – oder auch nicht – unzählige Anfragen nach der Uhrzeit aus dem Nebenzimmer zu beantworten hatten und sich dabei gelegentlich des Geißler’schen Zitatenschatzes bedienten (was ihnen neben unterschiedlichsten emotionalen und supervisorisch interessanten Reaktionen keine Linderung bezüglich des zeitlichen Informationsverlangens bescherte) waren jedenfalls höchst entlastet, als der Zeitforscher Geißler einst eine Uhr geschenkt bekam. Ein Ereignis, das ihm so wichtig war, dass er ihm – das Beweisstück am Handgelenk demonstrativ vorzeigend – kommunikativ einen erhöhten Stellenwert einräumte. Seither wurde er öfters mal mit geschenkten Uhren angetroffen. Die Zeit war ihm halt wichtig. Er wollte jedenfalls immer wissen, wie es um sie steht. Mit oder ohne Uhr. (…)

Karlheinz Geißler – auch ein Mensch mit unglaublichen Energie-, Ideen- und Phantasieressourcen. Einer der fleißig war im besten protestantischen Sinne, der eiferte – und der sehr wohl „Maß“ kannte und halten konnte, obschon es ihm schwergefallen sein dürfte. (…) Karlheinz Geißler, der sich eingehend mit der Postmoderne beschäftigt hat, wusste vormoderne Tugenden und postmodernes Denken kunstvoll mit dem, was alles auch noch so geht, zu verbinden. Die Vielfalt lebte – sie gebot der Einfalt Einhalt. (…)

Karlheinz Geißler – zeitlebens ein politischer Mensch, anfangs radikal, dann gemäßigter, aber doch wieder eifernd, anklagend, zynisch und unübertroffen pointierend ergriff er Wort oder Feder – auch für eine gesellschaftlich angemessene Zeitpolitik. (…)

Karlheinz Geißler die Zeit ohne das Lernen zu würdigen, erscheint unmöglich. Es wäre auch unmöglich angesichts dieses lernhungrigen Menschen, der immerzu von der Zeit lernte, um für die Zeit zu lernen. (…) Denn ein Bildungsmensch war er schon – und dies nicht erst seit der „Bildung Erwachsener“ (1982 mit Jochen Kade), die noch heute gerne zitiert wird. Das gilt nicht mehr so recht für die „kritische Kompetenz“ (1974), einem auch sprachlich gewagten Entwurf der frühen Jahre, so gewagt, dass heutzutage so getan werden muss, als wäre die Kompetenz gerade neu erfunden worden. Kein Wunder nach dem Schlüsselqualifikationsdebakel, über das Karlheinz Geißler sehr zur Freude der von sich selbst gelangweilten Szene hart herumstritt. (…)

Die Zeitdimension in Lehr-/Lernprozessen hat Karlheinz Geißler seit den „Anfangssituationen“ (1983) kontinuierlich beschäftigt und er hat immer wieder die Eigenlogik und spezifische Rhythmik von Lernzeiten im Gegensatz zur rationalisierten und vertakteten Zeitlogik der Ökonomie betont. Die Ausdehnung und Entgrenzung von Lernzeiten einerseits und die Popularisierung, Verzweckung und Verkürzung des Bildungsbegriffs andererseits waren zentrale Geißler’sche Anklagepunkte. Sich Zeit zu lassen, damit sich etwas bilden kann? Karlheinz Geißler hat sich jedenfalls selbst immer wieder dafür Zeit gelassen und Zeit gegeben, obwohl – oder weil – seine Bewegungs-Zeiten einen eigenen Rhythmus von ihm wollten. Die Karlheinz Geißler eigene Langsamkeit gab ihm auch Möglichkeiten für alternative „Zeitumgänge“ – ein Begriff, der dem Gewürdigten gefallen könnte, weil er doppelsinnig verstehbar ist: reflektiert auf Möglichkeiten, „mit der Zeit umzugehen“ oder auch, „die Zeit zu umgehen“ (zu hintergehen?). Beides gelang Karlheinz Geißler – nicht nur nachdenkend, sondern auch handelnd: sich „Zeit nehmen für neue Zeitformen“. Dies führt notwendigerweise zum Übergangsproblem, dem Karlheinz Geißler sich nicht nur angesichts von Anfangs- und Schlusssituationen in Lehr-/Lernprozessen widmete. Er war vielmehr einer transversalen Logik der Übergänge, die auf Zeit reflektiert ist, auf der Spur. Dafür wird’s auch Zeit, denn wie es scheint, sind die Übergänge – insbesondere angesichts vieler Bemühungen, sie meist digitalisiert wegzurationalisieren – im Übergang. Das gilt insbesondere natürlich für die Übergänge im Netz, ein Medium, das Karlheinz Geißler – na ja: „distanziert“ – zur Kenntnis nahm. „Vagabundieren im Netz“ per Mausklick, das war nicht das seine. Geißler vagabundierte lieber durch die Welt, auch durch die der Gedanken, die das Denken sich zu denken wagt …“[1]

So schrieb ich damals vor 18 Jahren. Jetzt ist es das Nachwort für Kalle, der mir fehlt. Und der doch immer da sein wird. In dem Widerspruch gibt es jetzt viel zu entdecken, zu fühlen – und ja auch: zu denken. Kalle mochte und wagte das Denken über das Denken in Widersprüchen. Auch das habe ich von ihm gelernt. Auch weil unsere Beziehung nicht immer widerspruchsfrei war – was sie auch so reizvoll machte. Es gab immer viel Denken zu wagen. Dies Wagnis werde ich mir von ihm bewahren. Und hoffentlich dazu die passenden Worte finden.

Ich bin froh, dass ich ihn kennen durfte und dankbar für unsere gemeinsamen Zeiten.

Kalle hat das Zeitliche gesegnet.

Februar 1998

Literatur

Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main 1982

Geißler, Karlheinz: Berufserziehung und kritische Kompetenz. München 1974

Geißler, Karlheinz: Anfangssituationen. Weinheim 1983

Geißler, Karlheinz: Schlusssituationen. Weinheim 1992

Geißler, Karlheinz/Kade, Jochen: Die Bildung Erwachsener. Weinheim 1982

Orthey, Frank Michael: Zeit für ein Vorwort. In: Thedorff, Andreas (Hg.): Schon so spät? Zeit. Lehren. Lernen. Eine Festschrift anlässlich des 60. Geburtstages von Karlheinz Geißler. Hirzel Verlag, Stuttgart 2004, S. 11 – 16

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[1] Ich habe diesen Vorwort-Text (Orthey 2004, S. 11 – 16) gekürzt und leicht angepasst.


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