Die Empörung über die psychischen Kosten der Beschleunigung produzierte reflexartige Gegenbewegungen in Richtung Verlangsamung. Eine umfassende Ratgeberliteratur folgte den Diskursen – und der Blick richtete sich auf den Modus der Entschleunigung. Der „Verein zur Verzögerung der Zeit“ (http://www.zeitverein.com/), der 1990 gegründet wurde, steht für diesen Trend. „Slow down“ alles Mögliche bitte, weil der Rest zu schnell ist. Und schnell sein, so die Annahme, ist schlecht, man sieht es ja, und deshalb jetzt erst mal gescheit verlangsamen! Das ist verständlich nach all den Leiden der Gehetzten, es ist aber letztlich ein trivialer und unangemessener Reflex, weil es die Ressourcen und Potenziale der Schnelligkeit verloren gibt. Die Verlangsamer, die „Downshifter“ und die „Slobbies“ (slower but better working people) stehen für eine affektive Gegenbewegung, die derart radikal idealisiert wider der zeitlichen Vielfalt ist. Da gibt’s nur eines: Immer schön langsam! Das soll jetzt das Heil bringen nach den vielen Beschleunigungsverlusten. Nach „immer schneller“ folgt deshalb der radikale Tritt auf die Bremse. Entschleunigung ist angesagt. Sogar beim Essen: „Slow food“ und „slow cooking – das soll immerhin gesünder sein als die fast food Variante des Essens. Immerhin das. Guten Appetit.
Dass Entschleunigung auch Folge der Beschleunigungsdynamiken sein kann, dafür wird klassischerweise der Stau zitiert. Leider nach wie vor für viele tagtäglich eine Standarderfahrung. Auch wenn sie in Autos sitzen, die über ein erstaunliches Beschleunigungsvermögen verfügen. Immerhin ist es heutzutage zunehmend so, dass die erzwungene Entschleunigung bis in den Stillstand es ermöglich, die voll vernetzte Infrastruktur des Fahrzeugs zu nutzen, das scheinbar weit häufiger als mobiles Stehzeug sein Dasein fristet. Wichtig ist es übrigens, dass das derart zwangsentschleunigte Gefährt schnell ausschaut. Im Stehen, versteht sich. Dafür sorgen die Designer. Tagtäglich werden die stehenden, schnell ausschauenden Beschleunigungsmaschinen im Stau als Biotope für allerlei telekommunikative und vernetzte Tätigkeiten genutzt, die Teil von Beschleunigungsprozessen sind. Da wird telefoniert, gechattet, gemailt, getwittert und gewahtsapt ohne Ende. Die Entschleunigung als Voraussetzung, anderen (meist virtuellen) Ortes mal so richtig Gas zu geben. Hier deutet sich ein Zusammenhang von Be- und Entschleunigung an – und dass sie sich gegenseitig ermöglichen und teilweise bedingen und brauchen. Auch psychische und körperliche Erkrankungen, z.B. Depressionen oder Erschöpfungszustände werden heute oft als kompensatorische Folgen der Beschleunigung des Lebens und Arbeitens gedeutet. Geist und Körper holen sich eben, was sie brauchen, wenn sie ständig durch das immer Schnellere überfordert werden. So die alltägliche Erklärung.
Wie eingangs skizziert gibt es zudem die bewusste Entschleunigung – gewählt als Gegenmodell. Dass sich daraus flugs ein Markt entwickelte, wundert wohl kaum jemanden, denn die Marktlichkeit folgt dem Prinzip der Beschleunigung. Und da wird schnell und immer schneller nach Marktnischen gesucht und diese werden besetzt. Auch diejenigen für die Angebote der Beschleunigungsopfer. Das System funktioniert prächtig – und flott wird aus dem Erfolg der Marktangebote ein neuer Zeitgeist für ein einfaches, achtsames und langsames Leben gezimmert. Der dann nicht mehr nur durch Ratgeberliteratur, sondern auch durch neue stylische Magazine befeuert wird: Flow – Das Magazin für Achtsamkeit, Positive Psychologe und Selbstgemachtes oder My Harmony – Das Magazin für gute Ideen und schöne Gedanken. Dazu eine ganze Auslage voller Landlebenslust and more. Die Auflagen steigen, während klassische Printmedienformate um Leser kämpfen müssen. Das Gegenmodell läuft. Und es läuft schnell. Immer schneller mal schön langsam machen und sich selbst wiederentdecken in einem einfachen, sanften Leben. Das ist die marktförmig Übersetzung dessen, was Fritz Reheis in seinem Buch über die Kreativität der Langsamkeit den LeserInnen 1996 mitgegeben hatte: „Eine entschleunigte Gesellschaft ist eine Gesellschaft, in der nicht das Haben von Sachen, sondern das Sein des Menschen im Mittelpunkt stehen wird. Alles wird sich um ihr Wohlbefinden, um die Erfüllung und Entfaltung ihrer Möglichkeiten drehen. Und das ist der Kern menschlichen Glücks. Die entschleunigte Gesellschaft wird eine Gesellschaft der Muße und der Faulheit sein, verstanden als „kluge Lust“.“ So lautete damals sein optimistisches Fazit auf Seite 207.
Aus den philosophischen und esoterischen Diskursen sind mittlerweile konkrete Entschleunigungsangebote am Markt verfügbar, die dem neuen Zeitgeist folgend übereifrig gebucht werden. Suchen Sie mal, wenn sie gerade im Stau stehen. Neben den üblichen drei, sechs oder gar zehn Tipps um das Leben zu entschleunigen, den Ratgebern und Magazinen und natürlich den Seminarangeboten gibt es vielerlei Angebote, um „zu sich“ zu finden. Klöster spielen dabei eine nicht unbedeutende Rolle. „Kloster auf Zeit“ oder Klosterurlaub, gerne auch buddhistisch, laufen gerade wohl ganz gut. Immer schön langsam, aber schnell! Bremsen, bremsen, bremsen, um dann wieder Vollgas geben zu können.
Im Motorsport gibt es ein sogenanntes „Überbremsen“ – oft übrigens nachdem der Bremspunkt verpasst wurde. Das sorgt meist für ein Blockieren der Räder. Die Reifen bekommen sogenannte „Bremsplatten“, die zu heftigen Vibrationen führen und die Fuhre nicht selten unfahrbar machen. Dann ist ein Boxenstopp angesagt, nebst Reifenwechsel und – wer hätte es gedacht – einem meist nicht aufholbaren Zeitverlust. Zu viel oder zu schnelle Verlangsamung kann also auch Risiken produzieren. Und in eine sehr produktive Zeitform führen, in die Langsamkeit. Oder eben auch – neu versorgt mit frischen Reifen oder anderen Dingen, die einen guten Bodenkontakt gewährleisten – wieder ein etwas beherzteres, schnelles Tempo ermöglichen. Vom Motorsport könnte zudem gelernt werden, dass es vor allem um eine „runde“, um eine stimmige Linie geht beim Schnellfahren, das hier auch ein Rennen ist. Nicht stupides und hartes, unbedachtes Be-und Entschleunigen ist hier gefragt, sondern es muss in der Kombination von Beschleunigen und Verlangsamen eine „Ideallinie“ entstehen, so heißt das im Motorsport. Diese entsteht am ehesten in einem weichen Fahrstil, der alles eckige und abrupte vermeidet. Es geht insofern auch im übrigen Leben um einen stimmigen Wechsel von Be- und Entschleunigungsphasen, und es geht darum, beider Ressourcen zu kennen und sie in deren Kombination zu nutzen. Denn beides kann angemessen sei. Und beides kann auch Lust- und Glücksgefühle verursachen. Einmal die Beschleunigung in einem schnellen Fahrzeug oder im Flugzeug beim Start in ferne Lande genießen und ein anderes Mal dann am Strand oder sonstwo rumdösen.
Also, mal schön langsam mit der Entschleunigung!
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Mehr zum Thema Zeit finden Sie bald in:
Frank Michael Orthey: Zeitumstellung. Für einen guten Umgang mit der Zeit. Erscheint am 21.06.2017 bei Haufe-Lexware.
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