Meister Hora stellt dem kleinen Mädchen Momo in Michael Endes gleichnamigem Roman von 1973 das folgende Rätsel, dem das gesamte Buch gewidmet ist – das Rätsel der Zeit:[1]

„Drei Brüder wohnen in einem Haus

sie sehen wahrhaftig verschieden aus,

doch willst du sie unterscheiden,

gleicht jeder den anderen beiden.

Der erste ist nicht da, er kommt erst nach Haus.

Der zweite ist nicht da, er ging schon hinaus.

Nur der dritte ist da. Der Kleinste der drei,

denn ohne ihn gäb´s nicht die anderen zwei.

Und doch gibt‘s den dritten um den es sich handelt,

nur weil sich der erst in den zweiten verwandelt.

Denn willst du ihn anschaun so siehst du nur wieder

immer einen der anderen Brüder!

Nun sage mir sind die drei vielleicht einer?

Oder sind es nur zwei? Oder ist es gar – keiner?

Und kannst du, mein Kind, ihre Namen mir nennen

so wirst du drei mächtige Herrscher erkennen.

Sie regieren gemeinsam ein großes Reich

und sind es auch selbst! Darin sind sie gleich.“

Obschon es sich um ein wirklich schweres Rätsel handelt, findet Momo schließlich die Lösung. „Der erste ist nicht da, er kommt erst nach Haus – das ist die Zukunft!“ (…) „Und der zweite“, fuhr Momo nachdenklich fort, „ist nicht da, er ging schon hinaus – das ist die Vergangenheit!“ (…) „Aber jetzt“, meint Momo nachdenklich, „jetzt wird es schwierig. Was ist denn der dritte? Er ist der Kleinste der drei, aber ohne ihn gäb’s nicht die anderen zwei, heißt es. Und er ist der Einzige, der da ist.“ Sie überlegte und rief plötzlich: „Das ist jetzt! Dieser Augenblick! Die Vergangenheit sind ja die gewesenen Augenblicke und die Zukunft sind die, die kommen! Also gäb’s beide nicht, wenn es die Gegenwart nicht gäbe. Das ist ja richtig!“

Voller Eifer rätselt Momo weiter, was die folgenden Sätze zu bedeuten haben könnten:

Und doch gibt‘s den dritten um den es sich handelt,

nur weil sich der erst in den zweiten verwandelt.

„Das heißt also, dass es die Gegenwart nur gibt, weil sich die Zukunft in Vergangenheit verwandelt.“ (…) Das stimmt ja! Daran habe ich noch nie gedacht. Aber dann gibt es ja den Augenblick eigentlich gar nicht, sondern bloß Vergangenheit und Zukunft? Denn jetzt zum Beispiel, dieser Augenblick – wenn ich darüber rede ist er ja schon wieder Vergangenheit! Ach jetzt verstehe ich, was das heißt: ‚Denn willst du ihn anschaun so siehst du nur wieder, immer einen der anderen Brüder!‘ Und jetzt versteh ich auch das Übrige, weil man meinen kann, dass es überhaupt nur einen von den drei Brüdern gibt: nämlich die Gegenwart oder nur die Vergangenheit und Zukunft. Oder eben gar keinen, weil es ja jeden bloß gibt, wenn es den anderen auch gibt. Da dreht sich ja alles im Kopf!“

Dieses Drehen im Kopf braucht das Rätsel der Zeit – immer wieder. „Unser Kopf ist rund, damit das Denken seine Richtung wechseln kann“ – so der französische Schriftsteller, Maler und Grafiker Francis Picabia. Denken und die Richtung des Denkens wechseln, das kann Momo richtig gut, denn auf die Frage von Meister Hora, was denn das große Reich sei, das die drei Brüder gemeinsam regieren und das sie zugleich selber sind, antwortet sie: „Die Zeit!“ (…) „Ja, das ist die Zeit! Die Zeit ist es!“ „Und nun sag mir auch noch, was das Haus ist, in dem die drei Brüder wohnen!“, fordert Meister Hora sie auf. „Das ist die Welt“, antwortet Momo. (Ende 1973, S.154ff)

Damit ist alles gesagt, was Zeitforscher gelegentlich in eher kryptischer Ausdrucksweise zum Rätsel der Zeit von sich geben. Oder Soziologen, wie der unnachahmlich prägnante Niklas Luhmann, der Momos Gedankengänge in der Lösung des Rätsels in einem Satz verdichtet: „Zeit ist demnach für Sinnsysteme die Interpretation der Realität im Hinblick auf eine Differenz von Vergangenheit und Zukunft.“[2] So oder ähnlich konstruieren wir uns unser Verständnis dessen, was wir „Zeit“ nennen und was wir brauchen, um uns als „Sinnsysteme“ in der Welt im Nacheinander zu verorten und zu ordnen, uns eine zeitliche Identität zu geben. Was da allerdings zwischen Vergangenheit und Zukunft „operativ“ im Alltags- und Tagesgeschäft so entsteht in unseren Köpfen, das ist und bleibt so rätselhaft wie die Geschichte mit den drei Brüdern: Mal erscheint Zeit so, mal so, mal verrinnt sie (mit Blick auf die noch offenen Weihnachtserledigungen), im nächsten Moment scheint sie still zu stehen (bei der jährlichen Weihnachtsfeier in der Firma), mal schwelgen wir in Erinnerungen, mal träumen wir von einer wunderbaren und sorgenfreien Zukunft. Wer soll sich da noch auskennen?

Die Lösung führt auf uns selbst zurück. Nur wir selbst können das – in unserem je besonderen Selbst. In unserem Herzen. Das brauchen wir, so Meister Hora, der „Verwalter der Zeit“, um die Zeit wahrzunehmen: „Denn so wie ihr Augen habt um das Licht zu sehen und Ohren um Klänge zu hören, so habt ihr ein Herz um damit die Zeit wahrzunehmen. Und alle Zeit, die nicht mit dem Herzen wahrgenommen wird, ist so verloren wie die Farben des Regenbogens für den Blinden oder das Lied eines Vogels für einen Tauben.“ (ebd. S. 159)

Folgen wir also Meister Hora, dann soll das Herz unser Organ für die Zeit sein. Nach Aristoteles sitzt im Herz unsere Seele, weshalb wir wohl sprichwörtlich mit jemanden „ein Herz und eine Seele“ sein können. Manches geht uns „zu Herzen“, in das wir auch andere einschließen können, das uns aber auch gebrochen werden kann. Wir können im Herzen ergriffen sein, es an jemanden verlieren, ein weiches Herz haben oder aber als hartherzig oder herzlos gelten. Der metaphorische Gehalt dieses Muskels, der dafür sorgt, das das Blut herum gepumpt wird und uns am Leben hält, wird meist zur Beschreibung von gefühlsmäßigen Zuschreibungen genutzt. Die Gehirnforschung hat zwar herausgefunden, dass unsere Gefühle im Gehirn entstehen und unseren Gedanken vorgelagert sind, wir also emotionsgesteuert sind. Umgangssprachlich ist es aber nach wie vor das Herz, das für Gefühle hergenommen wird. Wenn uns etwas zu Herzen geht, beispielsweise. Die Gefühle, die wir mit Hilfe des Herzens ausdrücken, spüren wir übrigens tatsächlich oft organisch am Herzen. Das schlägt schneller, rast oder stolpert sogar. Es schlägt uns bis zum Halse oder wir spüren Herzschmerzen, wenn wir unter Stress stehen. In Meister Horas Sinne ist wohl gemeint, dass unsere Zeitwahrnehmung und unsere Zeitkonstruktionen weniger mit dem Gehirn, mit unserer Ratio zu tun haben als vielmehr mit unserem Herzen, also mit dem, was wir fühlen und spüren. Zeit ist etwas Subjektives, die Gestalt, die sie zwischen Vergangenheit und Zukunft annimmt, ist abhängig vom Gefühlszustand, der anliegt, der uns am oder auf dem Herzen liegt. Wenn ich jemanden ins Herz geschlossen habe, nehme ich Zeit anders wahr, als wenn mir etwas Herzschmerz bereitet. „Man sieht nur mit dem Herzen gut, das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“ So steuert hier – oft und hier passend zitiert – Antoine de Saint-Exupéry aus dem „kleinen Prinzen“ bei.[3] Wenn Sie Zeit zu Ihrer Herzensangelegenheit machen, dann bekommen Sie mehr von ihr zu sehen, als wenn sie versuchen, sie zu planen, zu zergliedern oder gar zu managen. Oder sie zu sparen, wie die grauen Herren im Roman Momo, eine Bande von Zeit-Dieben, die die von den Menschen gesparte Zeit in ihren Zigarren verrauchen lassen, um am Leben zu bleiben. Mit dem Herzen sehend, werden Sie statt derart verrauchter Zeit, die letztlich nur Kälte hinterlässt, die unterschiedlichen lebendigen Qualitäten der Zeit erkennen, entdecken und erkunden. Sie können bei zeitlichen Entscheidungen die Frage stellen und beantworten, was Ihnen wirklich am Herzen liegt, also im positiven Sinne und gefühlsmäßig wertvoll ist. Dann sind sie bei Gefühlen – und Ihren zeitlichen Bedürfnissen. Und dann ist es zur zeitlichen Stimmigkeit nur noch einen Herzschlag weit.

Nehmen Sie sich das doch mal zu Herzen in der Vorweihnachtszeit. Dann gewinnen Sie alle Zeit der Welt. Und entschlüsseln ihr Rätsel. „Ich“, sagte Momo entschlossen, „lass mir meine Zeit von niemanden wegnehmen.“ (S. 153) Das hat sie von Herzen gesagt.

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Von Herzen eine schöne Weihnachtszeit von Astrid und Frank Orthey.

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Am 16. Dezember wird „Momo“ als neue Musiktheater-Inszenierung von Wilfried Hiller im Gärtnerplatztheater uraufgeführt.

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[1] Ende, Michael (1973): Momo. Thienemann, Stuttgart, Wien, Bern

[2] Luhmann, Niklas (1993): Soziale Systeme. 4. Aufl., Suhrkamp, Frankfurt am Main, S. 116

[3] Saint-Exupéry, Antoine de (1950): Der kleine Prinz. Karl Rauch Verlag, Düsseldorf

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Frank Michael Orthey: Zeitumstellung. Für einen guten Umgang mit der Zeit. Haufe-Lexware.

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Kategorien: Zeitforschung

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